Auf den Spuren von …
Zoé Guignard, Schiffsführerin der Mouettes
Im Seebecken von Genf zirkulieren kleine Boote in den rotgelben Kantonsfarben, die Mouettes. Seit 2017 ist Zoé Schiffsführerin und befördert Pendler, Grenzgängerinnen, Touristen und Pensionierte mit ihren Grosskindern. Seit ihrer Kindheit lebt sie in der Welt der Schifffahrt und liebt die Arbeit an der frischen Luft.
Seit 1897 sind die Mouettes im Genfer Seebecken unterwegs. Der Familienbetrieb beschäftigt rund dreissig Personen. 365 Tage im Jahr sind jeweils neun der dreizehn Schiffsführer:innen im Einsatz und teilen sich die vier Linien am Ende des Genfersees.
Der Motor brummt. Die letzten Passagiere steigen zu. Zoé Guignard löst das Seil und macht das Boot los. Sie fährt vom Anleger Pâquis weg in Richtung Molard. Das Boot zieht in der frischen Luft des Frühlingsmorgens übers Wasser. Die Sonnenstrahlen spiegeln sich tausendfach in den Wellen. Zum Steuern hat Zoé die Sonnenbrille aufgesetzt. Wir unterqueren die Mont-Blanc-Brücke. Nach kaum vier Minuten erreichen wir schon das andere Ufer. Zu Fuss hätte man dafür eine Viertelstunde gebraucht. Zoé muss beim Anlegen auf die schwierige Strömung achten. Beim nahe liegenden Stauwehr wird Schmelzwasser aus dem See abgeleitet. Es bilden sich Wirbel. Sie bleibt ruhig und drosselt den Motor. Mit höchster Präzision dreht sie das Boot und legt am Ufer an, indem sie mit den zwei Gashebeln spielt. Das Boot hält, sie macht es fest. Eine Handvoll Passagiere steigt aus. Einige Stammgäste grüssen die Schiffsführerin. Neue Gäste steigen zu. Zoé löst wieder die Seile und fährt in der Gegenrichtung los.
Das Boot kreuzt Enten und Kormorane. Ein Blässhuhn taucht ein. Ein Schwan schwimmt schnell davon. Zoé kennt die Fauna des Seebeckens genau. Sie liebt dieFahrten in dieser traumhaften Umgebung. Der Sonnenaufgang begleitet sie im Winter, wenn sie gegen 6 Uhr 30 den Dienst antritt, manchmal Frost und Eis entfernen muss,die Motoren vorbereiten, den Öl- stand und die Beleuchtung prüfen. Das erste Boot fährt um 7 Uhr 20. Im Sommer beginnt der Tag mit den Morgenklängen der Bäder von Pâquis, und der Dienst endet um 21 Uhr. Sie arbeitet in Schichten, macht also nicht jeden Tag den Frühdienst. Später am Morgen wird sie auf eine andere Linie wechseln und einen andern Schiffstyp übernehmen, ein- oder zweimotorig. Sie fährt auch das Solarboot, das anfälliger auf Wind ist und anders beschleunigt. Zoé ist 29-jährig und seit sieben Jahren Schiffsführerin der Mouettes.
«Die Schifffahrt gehört von klein auf zu mir. Mein Grossvater war Fischer auf den Philippinen und wir fuhren oft mit ihm auf einer Bangka von Insel zu Insel, einem kleinen Motorboot», erzählt sie. Zoé wurde auf den Philippinen geboren – wo ihr Vater, Genfer und Globetrotter, ihre Mutter getroffen hatte –, bevor sie mit sieben Jahren zusammen mit ihren beiden älteren Brüdern in die Schweiz kam. «Wir haben die Seen des Vallée de Joux und den Genfersee entdeckt und mit dem Surfbrett erkundet.» Ihre Mut ter beginnt 2006 am Schalter der Mouettes zu arbeiten, später macht sie den Führerschein. «Ich kam häufig hierhin zum Spazieren mit meiner kleinen Schwester.» Zoé beginnt ein Kunststudium, hat aber Mühe, ihren Weg zu finden.
Als 18-Jährige fühlt sich Zoé bei einem Ferienjob am Schalter der Mouettes so wohl, dass sie sich entscheidet, den Führerschein zu machen, sobald sie 21-jährig ist. Es gehören umfangreiche Kenntnisse der Navigation dazu, die sie lernen muss, wie auch Rettungs- und Sicherheitsübungen. Als eine Stelle frei wird, erhält sie eine Anstellung als Schiffsführerin. Sie liebt die abenteuerliche Seite dieses Berufs und die Freiheit der Arbeit draussen in der Natur, mit dem Wechsel der Jahreszeiten, bei Hitze und Kälte. Nur im Regen gefällt es ihr nicht.
Zurzeit beschäftigen die Mouettes drei Frauen am Steuerruder. Zoé freut sich, dass eine vierte soeben den Führerschein gemacht hat: «Die Arbeit mit unregelmässigen Diensten samt Wochenenden und Feiertagen braucht für alle etwas Organisation im Privatleben. Und auch wenn ich noch keine habe: Mit kleinen Kindern ist es nicht so einfach.» Zur Erholung geht sie mit ihrem Partner in die Berge oder in den Wald spazieren, macht Reisen und schaut Filme, zum Beispiel von Tim Burton oder Biografien.
2017 tritt sie auf Empfehlung eines Kollegen dem SEV bei. «Ich bin sehr zufrieden; jedes Mal, wenn ich Hilfe brauchte, wurde ich unterstützt.» Das half ihr, ihre Rechte kennenzulernen. Die Frauen wurden bei den Abzügen der Sozialversicherungen benachteiligt, was auf eine Anfrage des SEV hin korrigiert wurde. Die Direktion stand diesem Gleichstellungsanliegen offen gegenüber. «Auch wenn die Bedingungen bei den Mouettes eher gut sind, werde ich am 14. Juni für die Frauen in der Schweiz kämpfen!»
«Der Kollege, der unsere Interessen gegenüber der Direktion vertritt, wird bald pensioniert. Viele der Kollegen und Kolleginnen wünschten sich mich als Delegierte. Also habe ich zugesagt! Ich werde ihre Forderungen einbringen.» Nach der Wahl wird Zoé ihre erste Sitzung zur Erneuerung des GAV am 10. Mai haben (nach Redaktionsschluss). Mit ihr am Ruder wird die Sektion nicht auf Grund laufen.
Yves Sancey