Edith Graf-Litscher im Verwaltungsrat SBB
«Ich will die Bodenhaftung behalten»
Am 1. Juni tritt Edith Graf-Litscher ihr Amt als Mitglied des Verwaltungsrats der SBB an. Die SEV-Gewerkschaftssekretärin und im Moment noch SP-Nationalrätin wurde von der Generalversammlung der SBB am 26. April gewählt, genau an dem Tag, an dem sie vor 41 Jahren ihre Lehre bei der SBB begann. Sie ersetzt den zurück getretenen bisherigen Vertreter des Personals, Daniel Trolliet. Ein Interview.
Du bist Gewerkschafterin beim SEV und nun gleichzeitig im Verwaltungsrat der SBB – ist das kein Widerspruch?
Es ist kein Widerspruch, dass das Personal im SBB-Verwaltungsrat vertreten ist. Im Gegenteil: die Statuten der SBB schreiben vor, dass zwei Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften im Verwaltungsrat der SBB Einsitz haben müssen, damit das Personal angemessen vertreten ist.
Was hat dich bewogen, dich für das Amt zu bewerben?
Ich habe einen grossen Rucksack als ehemalige «Bähnlerin», die selbst bei der SBB gearbeitet hat, und natürlich als Gewerkschafterin beim SEV. Ich bin seit 18 Jahren im Nationalrat und war dort auch Präsidentin der Verkehrskommission. Das heisst, ich bringe viel Erfahrung in der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit mit, aber auch ein grosses verkehrspolitisches Wissen. Ich freue mich sehr, dass ich in Zukunft diese Erfahrungen im Verwaltungsrat der SBB einbringen darf.
Wie willst du konkret die Interessen der Arbeitnehmenden in diesem Verwaltungsrat vertreten?
Die Interessen der Arbeitnehmenden kann ich vor allem deshalb gut vertreten, weil ich weiterhin beim SEV beruflich tätig sein werde. Ich betreue dort zwar die Dossiers von konzessionierten Transportunternehmen, die nicht zur SBB gehören. Aber ich arbeite im Zentralsekretariat des SEV, wo ich einen ständigen Austausch mit den Leuten habe, die für die SBB-Dossiers zuständig sind. Ausserdem hilft es mir, dass ich dank meiner vierzigjährigen Mitgliedschaft beim SEV viele Kontakte zur Basis habe. Die Bodenhaftung zu behalten ist mir heute als Nationalrätin wichtig und wird es auch in der neuen Tätigkeit sein. Dann kann man die wichtigen Anliegen aus der Praxis noch besser in die strategischen Diskussionen einbringen.
Es gibt grosse Herausforderungen für die SBB in den nächsten Jahren, gerade was das Personal betrifft. Kannst du uns erzählen, wo besonders Handlungsbedarf besteht?
Einerseits geht es darum, die demografische Entwicklung aufzufangen. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen gehen demnächst in Pension, die sogenannten Babyboomer. Da ist es wichtig, dass man frühzeitig eine gute Personalplanung macht. Der Fachkräftemangel verschont auch die SBB nicht. Folglich ist es wichtig, attraktive Arbeitsplätze mit fairen Arbeitsbedingungen anzubieten. Die SBB muss ein interessanter und sozialer Arbeitgeber bleiben. Ganz wichtig ist auch die Frage der Finanzierung, die ich im Moment vor allem als Politikerin erlebe. Die Finanzierung muss sowohl für die SBB als Gesamtunternehmen, aber auch spezifisch, zum Beispiel für SBB-Cargo sichergestellt sein. Da braucht es dringend Bundesmittel. Nur so können wir sicherstellen, dass der Binnengüterverkehr weiterhin auf den Schienen bleibt und nicht auf die Strasse verlagert wird. Hier müssen nicht nur die Arbeitsplätze erhalten bleiben, sondern auch neue geschaffen werden.
Hast du auch etwas Angst davor, dieses Amt anzutreten und gleichzeitig dein politisches Engagement aufzugeben?
Zur Zeit befinde ich mich in einer Zeit des Loslassens und der Neuorientierung. Einerseits darf ich am 1. Juni eine neue Tätigkeit als Verwaltungsrätin der SBB aufnehmen, andererseits habe ich schon länger entschieden, dass ich im Oktober nicht mehr für den Nationalrat kandidieren werde. Das heisst, ich kann das eine loslassen, während ich etwas Neues in die Hände nehme. Darauf freue ich mich, weil ich gerne neue Herausforderungen anpacke.
Befürchtest du nicht, dass es zu Interessenkonflikten kommen kann, weil du gleichzeitig beim SEV und bei der SBB bist?
Meine Zukunft beim SEV habe ich mit unserem Präsidium angeschaut, aber auch mit der Verwaltungsratspräsidentin der SBB, Monika Ribar. Wir sind alle zum Schluss gekommen, dass ich meine berufliche Tätigkeit beim SEV mit meinem 50% Pensum, mit dem ich sechs KTU in den Kantonen Zürich und Aargau betreue, weiter wahrnehmen kann. Das gibt mir weiterhin die nötige Bodenhaftung und ich spüre, wo bei den Unternehmen und bei den Mitarbeitenden der Schuh drückt. Diese Erfahrungen aus der Praxis haben sicher einen Einfluss darauf, wie ich die SBB als grösstes ÖV-Unternehmen in der Schweiz im Verwaltungsrat strategisch mitgestalten werde. Ich glaube, für das Personal ist es eine ideale Kombination.
Was ist dein grosser Traum? Was möchtest du im SBB-Verwaltungsrat erreichen?
Ich bin eine Teamplayerin und arbeite gerne mit Leuten zusammen, die unterschiedliche Hintergründe und Blickwinkel einbringen und ein gemeinsames Ziel vor Augen haben. Das motiviert mich für meine engagierte Tätigkeit im Verwaltungsrat. Das ist auch dem Eigner wichtig. Wir Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte müssen als Team die gesamte Palette des notwendigen Fachwissens erfüllen, um die SBB in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Ich bringe die sozialpartnerschaftliche Erfahrung und das verkehrspolitische Wissen ein. Andere haben beispielsweise in Finanzfragen grosse Erfahrung. Mein Traum ist, dass die SBB in 20 Jahren die attraktivste Arbeitgeberin in der Schweiz ist und dank genügend Personal in allen Sparten einen Top öV in der Schweiz anbietet. Dazu werde ich meinen Beitrag leisten, damit es kein Traum bleibt, sondern Realität wird.
20 Jahre? Ist es dein Plan, bei der SBB 20 Jahre im Verwaltungsrat zu bleiben?
Nein, nein (lacht). Wir haben eine Amtszeit- und Altersbeschränkung und das ist sehr gut. Ich finde es grundsätzlich wichtig, eine langfristige Perspektive zu haben und freue mich, wenn ich in den nächsten Jahren die SBB mitgestalten darf. Aber auch danach soll sichergestellt sein, dass die SBB als öV-Unternehmen attraktiv ist, sowohl für die Reisenden als auch für das Personal.
Michael Spahr
Edith Graf-Litscher (59) weist eine grosse Erfahrung in verkehrspolitischen und sozialpartnerschaftlichen Themen aus. Sie sitzt seit 2005 für die SP des Kantons Thurgau im Nationalrat. Sie war langjähriges Mitglied der Kommissionen für Verkehr und Fernmeldewesen des Nationalrats (KVF-N), die sie 2017-2019 präsidierte. Nach der Wahl in den Verwaltungsrat der SBB trat sie per sofort aus der KVF-N aus. Im Oktober 2023 wird sie nicht mehr zu den Nationalratswahlen an-treten.
Sie hat selbst eine «Bähnlerinnen»-Vergangenheit. Sie lernte den Beruf der Bahnbetriebsdisponentin bei der SBB und war auf verschiedenen Bahnhöfen tätig. Später wechselte sie zur Krankenkasse SBB und leitete während acht Jahren das Service-Center Ostschweiz der Atupri Krankenkasse in Zürich. Seit 2008 arbeitet sie mit einem 50 %-Pensum als Gewerkschaftssekretärin bei der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, wo sie die Anliegen des Personals von sechs privaten konzessionierten Transportunternehmungen vertritt.