Interview mit Valérie Solano
«Es ist nicht alles rosig bei der SBB»
Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist Valérie Solano Vizepräsidentin des SEV und sie freut sich auf die Herausforderungen, die sie erwarten. Sie ist für das Dossier SBB verantwortlich, deren Bilanz 2021 aktueller Anlass zu einigen Fragen an sie gibt.
Valérie, die SBB hat am 15. März ihre Bilanz 2021 vorgestellt. Wie beurteilst du ihre finanzielle Situation?
Es gibt die nackte Realität der Zahlen und des pandemiebedingten Defizits von 325 Millionen Franken. Wir stellen fest, dass dieses ohne die Unterstützung des Bundes sogar noch höher ausgefallen wäre. Unser politisches Engagement für die Unterstützung der öffentlichen Verkehrsbetriebe während der Coronakrise war immer vorhanden.
Abgesehen von den Zahlen ist mir aber wichtiger, die strategische Ausrichtung des Unternehmens zu kommentieren. Mit der Ankündigung, in ihrer Strategie 2030 auf Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit zu setzen, entspricht die SBB unserer Vision der Bahn und des Service public.
Man könnte also meinen, alles sei rosig ...
Das ist natürlich nicht der Fall, aber wir sind uns durchaus bewusst, dass es bei der SBB einen Kurswechsel gegeben hat. Sie nehmen das Ausmass ihrer fehlenden Investitionen in die Infrastruktur und den Mangel an Lokpersonal, insbesondere in der Westschweiz, wahr. Auch wenn dieser letztere zu verschwinden scheint, pocht der SEV darauf, dass weitere Ausbildungsanstrengungen – nicht nur für das Lokpersonal –absolut notwendig sind, um den reibungslosen Betrieb der SBB zu gewährleisten.
Bei der Wartung des Rollmaterials ist es zwingend notwendig, die Kompetenzen innerhalb des Unternehmens zu behalten. Nur so kann man die Qualität sichern. Bei der Division Infrastruktur hören wir, dass es nicht möglich sei, auf grossen Baustellen genügend SBB-Angestellte zu haben. Aber es ist für uns nicht hinnehmbar, dass für die gleiche Arbeit einige dem Arbeitszeitgesetz unterstellt sind, während das externe Personal unter dem weniger schützenden Arbeitsgesetz arbeitet. Wer für die SBB arbeitet, muss von den Arbeitsbedingungen des Unternehmens profitieren können.
Die SBB betont, dass die Zufriedenheit des Personals in fast allen Bereichen gestiegen ist. Überrascht dich das?
Nein, denn wir spüren einen Kulturwandel bei der SBB. Um diesen Trend fortzusetzen und auch angesichts der vielen anstehenden Pensionierungen muss die SBB weiter darüber nachdenken, wie sie ihre Attraktivität als Arbeitgeberin steigern kann, um vorab jüngere Menschen und Frauen anzuziehen. Dies geschieht insbesondere über eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben und die Schaffung attraktiver Teilzeitmodelle, auch für die Berufe im operativen Bereich. Der erhöhte Bedarf an Mitarbeitenden hängt auch damit zusammen, dass der öffentliche Verkehr ein Teil der Lösung des Klimaproblems ist. Wir gehen davon aus, dass die Nutzung des öffentlichen Verkehrs und damit auch das Angebot steigen wird.
Aus gewerkschaftlicher Sicht sind die Verhandlungen über die Berufsbilder bei SBB Cargo wenig befriedigend. Wird es notwendig sein, den Ton zu verschärfen?
Es ist viel zu früh, um zu sagen, wie unsere Antwort aussehen wird. Aber eines ist sicher: Bei Cargo erwarten wir von der SBB, dass sie bei der Sozialpartnerschaft mitzieht. Um die 18 Berufsbilder neu zu definieren, braucht es Transparenz, denn es kann nicht sein, dass die Angestellten nicht wissen, wie sich ihre Funktionen entwickeln. Bei den Verhandlungen gibt es einiges zu tun, aber letztlich werden die betroffenen SEV-Mitglieder bestimmen, wie es weitergeht.
Du sprichst die Rolle der Betroffenen an. Was muss an der Demokratie des SEV verbessert werden?
Der Einbezug der von organisatorischen Veränderungen, Stellenabbau oder der Veränderung von Berufsbildern Betroffenen kann noch verbessert werden. Dazu muss man gezielter informieren und die Präsenz vor Ort erhöhen. Nur so kann man die Direktbetroffenen einbeziehen. Demokratie im Allgemeinen existiert nur, wenn sie lebendig ist.
In Zeiten der Digitalisierung sprichst du von Präsenz vor Ort. Ist das nicht ein wenig anachronistisch?
Nein, denn wir wissen, dass die Präsenz vor Ort funktioniert! Auch wenn heutzutage jeder in sozialen Netzwerken unterwegs oder ständig online ist, ist es unerlässlich, sich physisch zu sehen. Es ist wichtig für die Arbeitnehmer:innen, uns zu sehen, genauso wie es für uns zentral ist, sie zu treffen, um aus erster Hand zu hören, was ihre Bedürfnisse sind, um dann gemeinsam mit ihnen Forderungen zu formulieren. Der SEV ist keine von Mitgliedern abgehobene NGO, und das spüren wir bei diesen Treffen auf beiden Seiten, denn was man sich direkt sagt, kommt anders an als über digitale Medien. Das bedeutet nicht, dass man nicht digital kommunizieren sollte, wir wollen beides komplementär verwenden. Wir wollen auch nicht, dass die digitale Transformation der SBB ohne die Arbeitnehmer:innen stattfindet. Wir setzen uns deshalb für eine Unterstützung der Betroffenen ein, insbesondere bei der Schaffung eines Coaching-Netzwerks, das aus dem Digitalfonds finanziert wird.
Reden wir von Mitgliederwerbung. Wie wird die neue Werbestrategie des SEV-Vorstands bei der SBB umgesetzt?
Einer der Punkte dieser Strategie ist die Notwendigkeit, Rekrutierungsziele für die einzelnen Unterverbände festzulegen. Wir stellen fest, dass wir bei der SBB keinen einheitlichen Organisationsgrad haben. Dank mehr Präsenz vor Ort sind wir zuversichtlich, dass wir mehr SBB-Mitarbeitende von einer Mitgliedschaft überzeugen können. Diese Aktionen vor Ort dienen auch dazu, den Nachwuchs für unsere Gewerkschaft zu sichern. Parallel zu den Beschäftigten der SBB werden in den nächsten Jahren auch viele aktive Gewerkschafter:innen in den Ruhestand gehen.
Vivian Bologna / Übersetzung Barbara Spalinger