«Verteidigungszone»
Orchideen gegen Beton
Seit Mitte Oktober besetzen mehrere Aktivist*innen das Land der Zementfabrik Holcim auf dem Mormont-Hügel zwischen Eclépens und La Sarraz im Kanton Waadt. Sie wollen die Erweiterung eines Steinbruchs blockieren, der ein wichtiges Naturgebiet zerstören würde. Mit der Besetzung wollen diese jungen Menschen aber auch ihre Wertvorstellungen durchsetzen, die von einer Politik und Wirtschaft verraten werden, die wenig zur Bekämpfung der Auswirkungen des Klimawandels beitragen. Eine Reportage.
Vor uns steht ein riesiger Industriekomplex: Ein hoher rauchender Schornstein und mehrere graue Türme. In kubischen Buchstaben ist der Slogan zu lesen: «Ihr regionaler Partner für nachhaltiges Bauen». Bei Eclépens liegt eines der grössten Zementwerke der Schweiz. Es ist seit 1953 aktiv, produziert 800'000 Tonnen pro Jahr und gehört der Holcim (Schweiz) AG, einer Tochtergesellschaft des weltweit grössten Zementherstellers, dem multinationalen Zuger Unternehmen Lafarge-Holcim. Das Werk liegt strategisch günstig zwischen einem Mergelsteinbruch im Süden und einem Kalksteinbruch im Norden. Der Kalksteinbruch liegt direkt hinter dem Industriegelände: ein riesiger Krater, in Terrassen unterteilt. Er wird demnächst zu Ende ausgebeutet sein. Holcim hat aber bereits die Erlaubnis erhalten, auf der anderen Seite des Hügels ins Gemeindegebiet von La Sarraz vorzudringen. Dort besetzen die Aktivist*innen das Gelände und haben die erste «Zone à défendre» (Zad, «Verteidigungszone») in der Schweiz eingerichtet.
Am Eingang zum besetzten Gebiet erwartet uns Pico (Name geändert), Mitglied des Kollektivs «die Orchideen». Der Name bezieht sich auf die wilden Orchideen, die in diesem Gebiet wachsen. «Wir sind hier, weil wir den Mormont schützen und gegen den rücksichtslosen Verbrauch der natürlichen Ressourcen kämpfen wollen», erklärt der junge Mann, der direkt auf den Punkt kommt: «Angesichts der Langsamkeit der Justiz und mangels Gesetzen, die die Natur wirklich schützen, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns zu engagieren.»
Die Erweiterung des Steinbruchs ist Gegenstand einer Klage beim Bundesgericht von Pro Natura, Helvetia Nostra und fünf Privatklägern. Das Urteil wird für Anfang 2021 erwartet. In der Zwischenzeit bereiten sich die «Zadistes» zwar mit mulmigem Gefühl, aber gut gerüstet darauf vor, den Winter hier zu verbringen.
Pico führt uns ins Zentrum des besetzten Gebietes: Bei einem alten, verlassenen Haus, bereiten ein junger Mann und eine junge Frau Essen für alle zu. Das Menü, streng vegan, ist fast fertig. «Wir sind gegen die Zerstörung des Hügels und seiner Ökosysteme», sagt Pourpre (Name geändert), eine andere Aktivistin, während sie uns zwischen Jurten und unter Baumhäusern durchführt. Die junge Frau ist in verschiedenen Protestbewegungen für den Klimaschutz aktiv.
Aber ist es nicht besser, fragen wir etwas provokativ, Zement in der Schweiz mit einheimischem Material zu produzieren, anstatt ihn aus dem Ausland zu importieren, wo die Umwelt- und Arbeitsnormen schlechter sind? «Dieses Argument wird von Holcim selbst verwendet und bedeutet schlicht und einfach die Ablehnung von Verantwortung, geographisch und zeitlich, da der neue Steinbruch in nur sieben Jahren ausgebeutet werden soll», erklärt die Aktivistin. Ihr Kollege fügt an: «Wir wollen die Umweltauswirkungen des Gesteinsabbaus zur Zementherstellung hinterfragen. Brauchen wir sie wirklich so sehr?» Darauf haben wir keine Antwort.
Sicher ist, dass die Zementindustrie für 5-6 % der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich ist. In der Schweiz sind von den sechs grössten Treibhausgas-Emittenten fünf Zementwerke. Drei davon, auch Eclépens, gehören zu Holcim.
Wir erreichen den höchsten Punkt des besetzten Perimeters und blicken auf den Steinbruch: Von hier aus können wir die wirkliche Breite des Kraters und das geschäftige Treiben der Lastwagen sehen. Kurz darauf kommen einige Jeeps mit Blinklichtern auf uns zu. Die Holcim-Mitarbeiter sagen uns, dass eine Sprengung erfolge und wir uns in sicheres Gebiet zurückziehen müssten. In Deckung hören wir die Explosion, spüren eine starke Vibration unter unseren Füssen. «Sie haben Glück», sagt man uns, «pro Jahr gibt es nur hundert Sprengungen.»
Die Bedeutung der Industrie
Inspiriert durch ähnliche Aktionen in Deutschland und Frankreich, ist die «Zad» von La Sarraz eine Premiere in der Schweiz. Die Anwesenheit der Aktivist*innen wird von einem grossen Teil der Bevölkerung begrüsst: «Sie besuchen uns, bringen Lebensmittel und Material; sie haben uns enorm geholfen», sagt Pourpre.
Aber nicht alle stehen ihnen wohlwollend gegenüber. «Holcim nimmt die Bedenken der Aktivisten ernst. Gleichzeitig ist die gegenwärtige Situation illegal und daher inakzeptabel. Deshalb hat Holcim eine Klage eingereicht», bestätigt ein Konzernsprecher per E-Mail. Der Bürgermeister von La Sarraz und Mitglied des Waadtländer Grossen Rates für die FDP, Daniel Develey, hat in einer Anfrage an die Regierung gefragt, ob Massnahmen ergriffen werden, «um die Mitglieder des Kollektivs zu vertreiben, das sich auf dem Holcim gehörenden Areal niedergelassen hat». Auch der Bürgermeister von Eclépens, Claude Dutoit, ist gegen die Besetzung.
Holcim war in der Vergangenheit ein wichtiger Arbeitgeber, der zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region beigetragen hat. Die Realität ist heute aus beschäftigungs-, aber auch aus fiskalpolitischer Sicht eine andere. Der Hauptsitz der Muttergesellschaft befindet sich in der Innerschweiz, und das Unternehmen zahlt nur eine Steuer pro Kubikmeter abgebauten Gesteins: Man schätzt, dass der Beitrag an die Millionenbudgets der zwei Gemeinden nur einige hunderttausend Franken ausmacht.
Den Aktivist*innen geht es jedoch weniger um diese Zahlen als darum, ein starkes Signal für eine andere, menschlichere und ökologischere Wirtschaft zu setzen. Mit weniger Zement.
Federico Franchini, Area / Übersetzung Jörg Matter