Officine Bellinzona
Damoklesschwert Asbest
Rund 80 Leute kamen am 15. Oktober an den Infoabend zum Asbest in Bellinzona, alle mit der Forderung, dass Verantwortung übernommen wird. Und alle mit einem grossen Hunger nach Klarheit.
Der öffentliche Anlass wurde organisiert von der Vereinigung «Giù le mani», den Gewerkschaften SEV und Unia sowie der Peko der Officine. Die rege Beteiligung hat gezeigt, dass man sich Klarheit wünscht beim Thema Asbest. Die betroffenen Arbeiter/innen, Pensionierten und Angehörigen forderten Antworten von der SBB und von der Suva, die durch Roberto Dotti, den Leiter der Tessiner Agentur, vertreten war. Er hatte sich in die Höhle des Löwen gewagt, nachdem die Suva durch ihre unglückliche Kommunikation zu den Präventions- und Überwachungsprogrammen in die Kritik geraten war. Wie gross die Verunsicherung ist, zeigten die Fragen der Angestellten und Pensionierten: «Warum wurde ich trotz meiner Arbeit in Produktionsbereichen mit Asbest nie untersucht?» «Warum hat man mich nicht kontaktiert?» Zwei Arbeiter erzählen, wie sie mit Asbest in Kontakt gekommen sind: «Ich zerschnitt Wagenwände und die Substanz fiel zu Boden. Doch ich wurde nie medizinisch untersucht.» «Ich arbeite seit sechs Jahren mit diesem Material. Das macht einem Angst.»
Heimtückische Krankheit
Mit der Angst müssen alle leben, die mit Asbest gearbeitet haben, denn das maligne Mesotheliom, das er auslösen kann, entwickelt sich langsam. Bei Erkrankten überwiegt mal die Hoffnung, mal die Verzweiflung – bis der gnadenlose Todesstoss kommt. Manchmal kommt er sehr schnell wie bei Marco Meroni, der im vergangenen Juni starb und der am Abend von seiner Witwe Donata in Erinnerung gerufen wurde. Die hinterlistige Krankheit hängt wie ein Damoklesschwert über Arbeitern und Pensionierten. Deshalb hat ein französisches Gericht am 5. April entschieden, dass alle (nicht erkrankten) Arbeitnehmenden, die exponiert waren, eine Entschädigung für ihre Angst erhalten sollen. Die hinterlistige Krankheit kann nämlich Jahrzehnte nach dem Kontakt mit Asbest ausbrechen – und die Angst davor lässt sich nie ganz vergessen.
Dies erklärte Claudio Carrer vom Tessiner Unia-Magazin «area», der sich mit der Thematik gut auskennt und die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Eternit-Fabrik im piemontesischen Casale Monferrato verfolgt hat. Er berichtete über die wirtschaftliche Macht zweier mit Asbest in Verbindung stehender Familien: der Schmidheinys in der Schweiz und der Emsens/De Cartiers in Belgien. Ihre Firmen betrieben absichtliche und systematische Desinformation über die Schädlichkeit von Asbest. Carrers Ausführungen empörten die Anwesenden. «Es wurden Kommunikationsstrategien und Plattformen entwickelt, um die wissenschaftlichen Beweise zu vertuschen, Wissenschaftler wurden korrumpiert und die Internationale Arbeitsorganisation infiltriert. Das, was ich hier erzähle, sind die Resultate von früheren und aktuellen Strafverfahren in Italien.» Claudio Carrer steht weiterhin in engem Kontakt mit Asbestopfervereinen, vor allem mit Bruno Pesce, einem ehemaligen Gewerkschafter und Koordinator des italienischen Asbest-Komitees. Pesce ist eine wichtige Figur der Gewerkschaften von Casale Monferrato, wo eine Eternit-Fabrik von Stephan Schmidheiny steht und wo über 2000 ehemalige Angestellte an den Folgen von Asbest gestorben sind.
Der Chef von «area» zeigte am Beispiel Eternit auf, «dass es in der Schweiz sehr schwierig ist, Gerechtigkeit für die Opfer zu erlangen. Es ist praktisch unmöglich, die Verantwortlichen zu definieren.»
Wichtige Transparenz
Dies bestätigt auch der Anwalt Martin Hablützel vom Verein für Asbestopfer und Angehörige (VAO) Schweiz: «In der Schweiz hinken wir weit hinterher, besonders bei der Entschädigung für psychologische Schäden im Zusammenhang mit Angst. Dieses Konzept kennt man in unserer Rechtsprechung nicht.» Der Zürcher Anwalt zeigte sich beeindruckt vom grossen öffentlichen Interesse an den Asbestfällen in den Officine. «Eine Reaktion wie eure ist wichtig, denn in der Schweiz wird immer wieder versucht, die Asbestproblematik herunterzuspielen. Darum braucht es Klarheit und Transparenz.» Nicht nur seitens der Suva, sondern auch seitens der Arbeitgeber, die verpflichtet sind, für die Sicherheit und Gesundheit ihrer Angestellten zu sorgen.
Das verlangten am Infoabend auch die Personalvertreter. «Schon viele Kollegen haben die Peko auf das Thema angesprochen», sagte Peko-Präsident Ivan Cozzaglio. «Deshalb haben wir die SBB um eine aktualisierte Liste aller Personen gebeten, die mit Asbest in Berührung gekommen sind.»
Mea Culpa der Suva
An den Anlass kam auch Roberto Dotti, Leiter der Suva-Stelle im Tessin. «Es war mir wichtig, eure Kritik und Fragen persönlich entgegenzunehmen. Unsere erste Stellungnahme, dass es keine Todesfälle gegeben habe, machte mich wütend. Ich war abwesend und habe es erst später gelesen. Das war ein Fehler, genauso wie die unpersönlichen Briefe, die wir an die Angestellten geschrieben haben. Wir sind uns bewusst, dass man in solchen Schreiben sensibel sein muss. Wir arbeiten daran.» Der erste, der die emotionslosen Briefe voller Zahlen kritisiert hatte, war Gianni Frizzo, der Streikführer von 2008 und selber ein Briefempfänger. In seinem gewohnt klaren Ton hielt er ein kluges, sensibles Plädoyer: «Wir dürfen das Thema Asbest nicht verstummen lassen. Der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Angestellten muss öffentlich ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Ich verlange, dass alle die volle Verantwortung übernehmen. Nur wer den Mut hat, einen Schritt nach vorne zu machen, kann etwas erreichen. Das wollen wir mit unserer Mobilisierung tun. Die Kommunikation der Suva war völlig unsensibel. Das hat uns geärgert, und wir fordern jetzt Antworten. Wir müssen weitere Opfer vermeiden.»
Treffen mit der Suva
Am Tag vor dem Infoabend traf sich eine Gewerkschaftsdelegation mit der Suva-Leitung in Bellinzona. Die Vertreter/innen der Arbeitnehmenden – Matteo Pronzini und Vincenzo Cicero von der Unia, Pascal Fiscalini und Françoise Gehring vom SEV sowie Gianni Frizzo vom Verein «Giù le mani» – kritisierten bei dem sachlichen Austausch vor allem das Kommunikationsmanagement. Fragen hatten sie auch zur Betreuung von Arbeitnehmenden und zur Kommunikation zwischen SBB und Suva. Obwohl Vertraulichkeit gesetzlich vorgeschrieben ist, ist doch offensichtlich einiges schiefgelaufen. Beim Einbezug der Mitarbeitenden ins Suva-Präventionsprogramm gegen Asbest bleibt aus Sicht der Gewerkschafter/innen weiterhin ein Graubereich zu klären. Warum wird ein Unterschied gemacht zwischen Menschen, die in derselben Abteilung gearbeitet haben? Warum wurden nicht alle Pensionierten und Externen kontaktiert, die mit Asbest in Berührung gekommen sind?
Am Ende des Gesprächs blieben noch viele Fragen offen, doch der Wille zu konstruktiven Gesprächen ist da. Die Gewerkschaften fordern nun dieselbe uneingeschränkte Zusammenarbeit mit der SBB. Sie verlangen vor allem rasch eine aktualisierte Liste aller Angestellten, die möglicherweise mit Asbest in Kontakt gekommen sind. Bisher haben sich bei der Peko und beim Sicherheitsbüro der Officine rund 40 Kollegen gemeldet, die nicht auf der ersten Liste standen. Ferner wurde eine vollständige Liste aller Produkte und Komponenten angefordert, die Asbest enthalten könnten und noch in der Werkstätte verarbeitet werden. Matteo Pronzini befürchtet, dass die Zahl der potenziell Betroffenen «sehr gross» ist. «Nichts darf dem Zufall überlassen werden», betonte Ivan Cozzaglio. «Transparenz und Sicherheit müssen garantiert sein», ergänzte Pascal Fiscalini.
Die Position der SBB
Die SBB schrieb in einer Medienmitteilung, dass sie in Zusammenarbeit mit der Suva das Asbestproblem erkannt und die nötigen Schutzmassnahmen für ihre Mitarbeitenden getroffen habe. Eine Spezialfirma habe die Officine am 3. September auf Risiken untersucht und keine kritischen Punkte festgestellt. Es gebe im Innern nun regelmässige Messungen.
Françoise Gehring / Übersetzung: kt, Fi
Kommentare
Kunz-Känzig Esther 25/10/2019 19:58:26
Bleibt bitte dran, denn es ist wirklich eine schlimme Krankheit. Ich musste meinen sehr sportlichen, gesunden Mann nach Ausbruch von Asbest (also Mesoteliom) nach nur ein paar Monaten beerdigen. Es war wirklich schlimm. Mein Mann war vorher auch vor jedem Untersuch und nach jedem Arztbericht nervös. Freundliche Grüsse Esther Kunz