Durchsetzungsinitiative knebelt Gewerkschafter/innen ohne Schweizerpass
«Die Initiative ist ein groteskes Einschüchterungsprogramm»
Falls die Durchsetzungsinitiative angenommen wird, führen künftig auch relativ harmlose Delikte, wie sie zum Beispiel bei gewerkschaftlichen Aktionen und Demonstrationen leicht vorkommen können, zur automatischen Landesverweisung, wenn die Betroffenen in den zehn Jahren vor dem Urteil bereits zu einer nur geringen Geldstrafe verurteilt wurden. Der Zürcher Rechtsanwalt Marc Spescha sieht darin auch eine massive Einschüchterung der ausländischen Gewerkschafter/innen.
kontakt.sev: Die Durchsetzungsinitiative führt in ihrem umfangreichen Katalog von leichteren Delikten, die beim Vorliegen einer geringen Vorstrafe in den letzten zehn Jahren zur automatischen Landesverweisung führen, u.a. auch Hausfriedensbruch in Verbindung mit Sachbeschädigung oder Diebstahl auf. Wann ist bei einer gewerkschaftlichen Aktion dieser Tatbestand erfüllt?
Marc Spescha: Wenn Gewerkschafter/innen unbefugt ein Firmengelände betreten, ist dies Hausfriedensbruch, und wenn jemand zum Beispiel mit einer Schablone „Nein zu Dumpinglöhnen“ an ein Fenster sprayt, ist dies eine Sachbeschädigung, auch wenn es schön gemacht ist. Das genügte dann schon für eine Landesverweisung, wenn jemand in den zehn Jahren zuvor auch nur zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt wurde – beispielsweise wegen einem polizeilich registrierten Sekundenschlaf, ohne dass ein Unfall geschah: Die Polizei hat beim Fahrer anlässlich einer einfachen Kontrolle eine völlige Übermüdung festgestellt, die eine ungenügende Beherrschung des Fahrzeugs befürchten liess, ohne dass Alkohol im Spiel war. Dafür kann es eine kleine Geldstrafe von einigen Tagessätzen bedingt geben. Als Vorstrafe ist dies aber schon relevant, wenn derselbe Fahrer als Gewerkschaftsaktivist sieben Jahre später wegen Beteiligung an der Sprayaktion auf dem Fabrikgelände verurteilt wird. Sie führte dann zwingend zur Landesverweisung.
Wie gross ist das Risiko einer Landesverweisung, wenn man als Nichtschweizerbürger bei einer Demo in ein Handgemenge mit Gegendemonstranten, einem privaten Ordnungsdienst oder der Polizei verwickelt wird, falls die Durchsetzungsinitiative durchkommt?
In einem solchen Fall liegen schnell die im Katalog 2 der Initiative enthaltenen Tatbestände der einfachen Körperverletzung oder des Raufhandels vor. Für erstere reichen relativ leichte Körperverletzungen. Zur Verurteilung wegen Raufhandels genügt es, auch wenn man nur am Rande beteiligt ist und sich dann schnell zurückzieht, wie der Kommentar zum Artikel 133 des Strafgesetzbuches (StGB) präzisiert: „Beteiligt sind Personen, die Schläge austeilen, die mindestens einer Tätlichkeit entsprechen, dies unabhängig davon, ob die Schläge zum Zwecke des Angriffs oder zum Zwecke der Verteidigung verabreicht werden. Strafbar wird der Teilnehmer auch dann, wenn er vor Eintritt dieser Bedingungen aus dem Kampf ausscheidet.“ Unter Raufhandel versteht man „eine tätliche Auseinandersetzung, an der mindestens drei Personen teilnehmen und bei welcher zwei oder mehr Parteien wechselseitig tätlich gegeneinander vorgehen.“
Der Deliktkatalog 2 der Durchsetzungsinitiative enthält auch die Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte...
Auch dieser Tatbestand ist bei einem Polizeieinsatz gegen eine Demo oder Gewerkschaftsaktion schnell erfüllt. Artikel 285 StGB definiert ihn als Hinderung einer Amtshandlung durch Gewalt, Nötigung zu einer Amtshandlung oder tätliche Angriffe. „Bereits eine Erschwerung von Amtshandlungen oder einer notwendigen Begleithandlung genügt zur Erfüllung des Tatbestandes“, heisst es im Kommentar. Erschwert wird die Amtshandlung etwa schon dann, wenn der Betroffene mit den Füssen ausschlägt, um sich gegen eine Festnahme zu wehren.
Riskiert man eine Landesverweisung, wenn man an einer Kundgebung oder Aktion teilnimmt, die den Verkehr stört?
In der Durchsetzungsinitiative steht dazu nichts, wohl aber in der vom Parlament im März 2015 verabschiedeten gesetzlichen Umsetzung der Ausschaffungsinitiative (die das Volk im November 2010 mit 52,3 % Ja-Stimmen annahm): Der neue Artikel 66a StGB nennt unter Ziffer k die vorsätzliche Störung des Eisenbahnverkehrs und die qualifizierte Störung des öffentlichen Verkehrs als Tatbestände, die grundsätzlich zur Ausweisung führen. „Qualifiziert“ heisst hier, dass der Täter wissentlich Leib und Leben vieler Menschen in Gefahr bringt. Die Landesverweisung würde aber in einem solchen Fall jedenfalls gegenüber Secondos kaum vollzogen, weil die in der gesetzlichen Umsetzung vorgesehene Härtefallklausel eine Verhältnismässigkeitsprüfung verlangt. Dabei kämen die Richter wohl zum Schluss, dass die Gefährdung der Sicherheit und Ordnung nicht derart war, dass sie die privaten Interessen des Täters an einem Verbleib in der Schweiz überwiegen würde.
Diese Härtefallklausel ist wohl der wesentliche Unterschied zwischen der Durchsetzungsinitiative und der gesetzlichen Umsetzung der Ausschaffungsinitiative?
Genau. Im Unterschied zur Durchsetzungsinitiative verlangt die gesetzliche Umsetzung, dass der Richter die Umstände berücksichtigt: Wann? Wo? Wer? Wie lange ist der Täter schon in der Schweiz? Hat er Familie hier, eine Ehefrau und Kinder? Usw. Gemäss der Durchsetzungsinitiative dürfte der Richter nur feststellen, ob der Tatbestand erfüllt ist oder nicht. Falls ja, müsste er zwingend die Landesverweisung aussprechen. Er hätte keinerlei Spielraum mehr, um einzelfallgerecht zu entscheiden. In der gesetzlichen Umsetzung des Parlaments sind an sich sogar mehr Delikte aufgeführt, die zur Landesverweisung führen können, als in der Durchsetzungsinitiative – wohl auch, weil die Initianten an einige gar nicht gedacht haben. Dass allerdings zum Beispiel Geldwäscherei, ungetreue Geschäftsbesorgung, Bestechung und Steuerbetrug fehlen, ist aber besonders bemerkenswert.
Falls die Durchsetzungsinitiative angenommen wird, wie kann man sich dann gegen eine Landesverweisung wegen eines solchen relativ leichten Delikts wehren?
Man kann vor Bundesgericht gehen, was zwingend wäre, wenn die kantonalen Richter die Durchsetzungsinitiative so anwenden, wie es ihrem Wortlaut entspricht. Das Bundesgericht würde mit Hunderten von Beschwerden wegen Landesverweisungen nach Bagatelldelikten eingedeckt. Heute ficht man eine kleine Geldstrafe kaum an. In Zukunft aber müssten Ausländer/innen diese wegen der mit ihr gekoppelten Landesverweisungen anfechten. Und falls das Bundesgericht die Urteile nicht aufheben würde, würden diese mit grosser Aussicht auf Erfolg nach Strassburg weitergezogen.
Würden diese Beschwerdeverfahren die Ausweisung aufschieben?
Das Bundesgericht würde die aufschiebende Wirkung praxisgemäss wohl erteilen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dagegen erteilt die aufschiebende Wirkung sonst nur im Ausnahmefall. Bei einer Beschwerde gegen eine Ausweisung aufgrund eines Bagatelldelikts würde er seine Praxis wohl ebenfalls anpassen, weil das Missverhältnis zwischen der begangenen Tat und der Rechtsfolge für die Betroffenen derart gross ist, dass kein öffentliches Schutzinteresse den sofortigen Vollzug rechtfertigen könnte. Die Strassburger Entscheide lassen meist mehrere Jahre auf sich warten, doch würde der EGMR einen Pilotfall wohl vorziehen, um Klarheit zu schaffen. Dass der EGMR die Beschwerden in Bagatellfällen gutheissen würde, ist aufgrund der bisherigen Praxis zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention („Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“) nicht zweifelhaft. Und darauf könnten sich alle Betroffenen berufen, die entweder in der Schweiz aufgewachsen sind oder hier Familienangehörige haben. Die Durchsetzungsinitiative führte trotzdem zu einer grossen Rechtsunsicherheit.
Müssten nicht schon die kantonalen Gerichte die Menschenrechtskonvention berücksichtigen?
Doch. Aber es ist denkbar, dass sie unter Hinweis auf die Durchsetzungsinitiative und den darin verankerten Vorrang des Landesrechts gegenüber dem Völkerrecht Art. 8 EMRK missachteten. In der Durchsetzungsinitiative steht ausdrücklich: „Die Bestimmungen über die Landesverweisung … gehen dem nicht zwingenden Völkerrecht vor.“ Artikel 8 der Menschenrechtskonvention gilt als nicht zwingendes Völkerrecht. Allerdings wird der Verhältnismässigkeitsgrundsatz, der die Richter zu einem Abwägen der Interessen des Täters und des öffentlichen Interesses im Einzelfall verpflichtet, von namhaften Juristen als zwingendes Völkerrecht betrachtet.
Unabhängig vom Ausgang solcher Beschwerden bringt die Durchsetzungsinitiative für Gewerkschafter/innen ohne Schweizerpass auf jeden Fall ein erhöhtes Risiko, grosse Probleme zu bekommen, wenn sie an Demos oder Aktionen in Betrieben teilnehmen. Würden Sie ihnen künftig davon abraten, falls die Initiative durchkommt?
Denkbar ist auch das Verhaltensmuster „Jetzt erst recht, das lasse ich mir nicht bieten!“ Die massenhafte Überschreitung dieser unverhältnismässigen Rechtsnormen würde den Rechtsstaat lahmlegen. Wahrscheinlicher ist aber, dass bei den meisten Menschen ohne Schweizerpass die Angst vor den Konsequenzen so gross wäre, dass sie künftig auf solche Aktivitäten verzichten würden. Die Initiative ist so betrachtet nicht nur eine extrem aggressive Attacke gegen den Rechtsstaat als Fundament unserer Demokratie, sondern ein eigentliches Einschüchterungsprogramm gegen kritische Bürgerinnen und Bürger. Sie eignet sich bestens, eine lebendige Demokratie zu ersticken, und läuft auf eine Knebelung aller ausserparlamentarischen Bewegungen hinaus. Gewerkschafter/innen, die sich in guten Treuen für ihre Rechte engagieren, wären immer mit einem Bein „draussen“, weil die Schwelle des Tatbestandes, der zwingend zur Landesverweisung führt, so niedrig ist.
Eine weitere Option wäre, sich einbürgern zu lassen...
Das würde ich sowieso empfehlen, weil man damit politisch die vollen Rechte als Bürger und Bürgerin erlangt und nicht mehr zum Statisten politischer Inszenierungen degradiert ist. Es gibt in der Schweiz mehrere hunderttausend Ausländer/innen, die die zeitlichen Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen würden. Es ist stossend und für eine Demokratie höchst bedenklich, wenn etwa ein Fünftel bis ein Viertel der im Land lebenden Menschen nicht als Stimmbürger/innen mitwirken können. Die Einbürgerung gewährte nicht nur mehr Daseinssicherheit, sondern würde auch eine demokratiepolitisch äusserst bedenkliche Situation, in der Bürger den stimmlosen Nichtbürgern den Tarif diktieren, beseitigen.
Der Fehler für die tiefe Einbürgerungsquote liegt aber wohl nicht nur bei den Ausländer/innen?
Nein, im Einbürgerungsverfahren sind sie bisher zum Teil auf eine entwürdigende Art einem Striptease unterzogen worden. Die Einbürgerungshürden sind in der Schweiz im Vergleich zu andern Ländern sehr hoch, insbesondere die zeitlichen Voraussetzungen. Teilweise stellen Gemeinden aber auch zu hohe Anforderungen an die sprachlichen Kenntnisse. Mir ist etwa ein SBB-Kollege bekannt, dessen Einbürgerung nach vielen Jahren in der Schweiz an angeblich fehlenden sprachlichen Kenntnissen gescheitert ist, obwohl er sich am Arbeitsplatz gut verständigen kann und geschätzt wird.
Sind auch die Kosten ein Hinderungsgrund?
Heute kaum mehr. Früher waren die Kosten abhängig vom Einkommen, heute bezahlt man nur noch kostendeckende Verfahrensgebühren, die je nach Gemeinde etwas variieren. Ein Secondo, der sich als Jugendlicher einbürgern lässt, muss in der Regel weniger als 1000 Franken bezahlen, sonst kostet die Einbürgerung bis etwa 2000 Franken.
Markus Fischer
Zwei Deliktkataloge
Die Durchsetzungsinitiative führt in einem ersten Deliktkatalog schwere bis mittelschwere strafbare Handlungen auf, die automatisch, unabhängig von der Höhe der Strafe, zu einer mindestens 10-jährigen Landesverweisung führen. Im Katalog enthalten ist aber auch der neue Tatbestand des Sozialmissbrauchs, der absolute Bagatellen umfasst. Ebenfalls sofort zur Landesverweisung führt es, wenn die Tatbestände Diebstahl, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung erfüllt sind. Wer beispielsweise nach der Lehrabschlussprüfung im alkoholisierten Zustand in ein leerstehendes Badehäuschen eindringt, ein Fenster leicht beschädigt und im Häuschen zwei Flaschen Wein und 200 Franken stiehlt, würde zwingend ausgeschafft.
In einem zweiten Katalog sind weitere leichtere strafbare Handlungen aufgelistet, die ebenfalls automatisch zu 5 bis 15 Jahren Landesverweis führen, wenn die Verurteilten innerhalb 10 Jahren vor dem Urteil bereits rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt worden sind, auch wenn es sich damals nur um eine sehr geringe Strafe gehandelt hat.
Direkte Ausweisung bei Sozialmissbrauch
Dass im ersten Katalog auch Sozialmissbrauch aufgeführt ist, findet Rechtsanwalt Marc Spescha völlig unverhältnismässig: „Somit würde zum Beispiel ein Secondo, der vorübergehend erwerbslos ist und Arbeitslosengeld bezieht, automatisch für 10 Jahre des Landes verwiesen, wenn er an zwei Samstagen als Pizzakurier für einen Kollegen eingesprungen ist und die dabei verdienten 400 Franken Ende Monat nicht als Zwischenverdienst gemeldet hat. Dass er seit frühester Jugend in der Schweiz lebt, eine Frau und zwei Kinder hat und mit diesem Geld eine Zahnarztrechnung der Tochter bezahlte, wäre unerheblich. Die Landesverweisung wäre zwingend. Das Beispiel zeigt, wie krass und blindwütig die Initiative am Ziel vorbeischiesst.