Rückblick auf die Frühlingssession vom 3. bis 21. März

«Bundesrat verweigert Arbeit»

«Unsere» Leute im Nationalrat, Edith Graf-Litscher und Philipp Hadorn, äussern sich zu verkehrspolitischen und andern Parlamentsbeschlüssen der Frühlingssession, die das Verkehrspersonal betreffen.

Für das SEV-Duo im Nationalrat ist klar, dass nach dem Volksverdikt gegen die Masseneinwanderung versucht werden muss, die bilateralen Verträge mit der EU zu retten.

kontakt.sev: In der Nationalratsdebatte zum Verlagerungsbericht hast du, Philipp, dem Bundesrat «Arbeitsverweigerung» vorgeworfen: Warum?

Philipp Hadorn: Einerseits, weil der Bundesrat nicht dafür sorgen will, dass die von der Alpen-Initiative verlangte und gesetzlich festgelegte Halbierung des alpenquerenden Transitverkehrs erreicht wird, sondern neue Spielregeln definieren will. Andrerseits, weil er auch beim Binnenverkehr einen Verlagerungsauftrag gefasst hat und diesen nicht umsetzen will: Das Parlament hat eine Motion der Finanzkommission des Ständerats überwiesen, die verlangt, dass der Verkehrsanteil des Schienengüterverkehrs in der Fläche steigen muss. Doch der Bundesrat sieht dafür keine einzige Massnahme vor. Obwohl es in der Motion ausdrücklich heisst, dass der Bundesrat dafür eine Kreditvorlage präsentieren kann, dass es also etwas kosten darf, behauptet Bundesrätin Doris Leuthard immer wieder, diese Verlagerung dürfe nichts kosten und müsse dem Markt überlassen werden. Mit diesen Prämissen kann man nichts erreichen! Indem der Bundesrat Aufträge zugunsten der Verlagerung nicht erfüllen will, missachtet er den Willen von Volk und Parlament.

Du spielst hier auf das Gütertransportgesetz an, wozu der Bundesrat 2013 eine Vernehmlassung durchführte und im zweiten Quartal dieses Jahres seine Botschaft vorlegen dürfte?

PH: Genau. Da der Bundesrat in seinem Gesetzesentwurf den Staat eben nicht mit der Förderung der Schiene im Binnengüterverkehr beauftragen will, möchten wir erreichen, dass zumindest noch Varianten ausgerechnet werden, was ein solcher Auftrag kosten würde, damit das Parlament in Kenntnis aller Möglichkeiten entscheiden kann. Immerhin hatte es vom Bundesrat verlangt, dass er eine Auslegeordnung präsentiert. Wenn unsere Forderung nur von linker Seite kommt, hat sie aber wenig Chancen, auch wenn die verladende Industrie inhaltlich dahinter stehen könnte. Daher versuchen wir zurzeit, auf bürgerlicher Seite Unterstützung dafür zu finden.

Der Bundesrat schlägt im Verlagerungsbericht vor, als Zielgrösse statt einer maximalen Zahl von Lastwagenfahrten pro Jahr bestimmte Schadstoff- und Lärmbelastungswerte zu verwenden. Was ist davon zu halten?

PH: Falls damit das Ziel der 650 000 Lastwagenfahrten bis spätestens zwei Jahre nach Eröffnung des Gotthard-Basistunnels (wie im Güterverkehrsverlagerungsgesetz von 2008 festgehalten – die Red.) aufgeweicht werden soll, ist das abzulehnen, aber als weiterführende Massnahme spricht nichts dagegen.

Der Nationalrat hat in der Frühlingssession immerhin den Zahlungsrahmen für die Betriebsabgeltungen für den kombinierten Verkehr bis 2018 verlängert und dafür zusätzliche 180 Mio. Franken gesprochen …

PH: Diese Abgeltungen sind wichtig, denn sie verhindern eine Rückverlagerung auf die Strasse, bis der Gotthardbasistunnel in Betrieb geht. Sie bewirken aber noch keine substanzielle Verlagerung, wie sie Verfassung und Gesetz dank der Alpen-Initiative verlangen. Trotzdem will man diese Abgeltungen auslaufen lassen. Auch das ist Arbeitsverweigerung!

Edith Graf-Litscher: Man hofft, dass die Neat für den Bahnverlad ein genügend gutes Fundament schaffen wird. Zugleich will der Bundesrat aber eine zweite Autobahnröhre durch den Gotthard bauen, die dieses Fundament wieder schwächen würde. Das ist ein grosser Widerspruch.

Der Ständerat hat die zweite Röhre in der Frühlingssession ja schon genehmigt, und sie kommt vermutlich im September in den Nationalrat. Mit welchen Argumenten versucht ihr, die Befürworter/innen umzustimmen?

EG: Ich stelle in der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen (KVF) zwei Rückweisungsanträge, verbunden mit zwei Aufträgen an den Bundesrat: Erstens muss dieser nochmals vertieft abklären, ob die nur einspurige Nutzung von zwei zweispurigen Tunnelröhren mit dem Landverkehrsabkommen der Schweiz mit der EU wirklich vereinbar ist, obwohl dieses verbietet, die Kapazität von Transitstrassen einzuschränken. Denn gerade nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar könnten Sonderwünsche der Schweiz bei den Bilateralen Abkommen auch bei der EU Forderungen auslösen. Zweitens muss der Bundesrat noch genau aufzeigen, wie viel der neue Tunnel bis zu seiner Sanierung in 30 oder 40 Jahren im Betrieb und Unterhalt kosten würde, und welche andern Strassenbauprojekte deswegen verzögert oder gestrichen werden müssen.

PH: Als Mitglied der Finanzkommission war ich schockiert, dass diese nicht bereit war, vom Bundesrat eine Vollkostenrechnung über die ganze Lebensdauer des Tunnels zu verlangen. Offensichtlich will die Mehrheit der Tunnelbefürworter nicht, dass diese Zahlen auf den Tisch kommen.

EG: Dass der Betrieb und Unterhalt von zwei Röhren teurer kommt als bei nur einer Röhre, ist ja klar. Deshalb, erwarte ich vom Bundesrat volle Kostentransparenz, damit die Stimmberechtigten nicht verschaukelt werden.   

Der Nationalrat hat in der Frühlingssession eine Revision des Personenbeförderungsgesetzes, die obligatorische Sportfantransporte vorsieht, an den Bundesrat zurückgewiesen (siehe kontakt.sev Nr. 5/2014). Wie geht es damit nun weiter?

EG: Nun ist es am Ständerat zu entscheiden, ob er die Vorlage ebenfalls zur Überarbeitung an den Bundesrat zurückweisen will. Ich gehe davon aus, dass er dies tun wird.

Warum wurde die Vorlage zurückgewiesen?

EG: Vor allem wegen der teilweisen Aufhebung der Beförderungspflicht. Diese wurde auch in unsern Kreisen kontrovers diskutiert, weil man befürchtete, dass sie auf gewerkschaftliche Kundgebungen wie am 1. Mai ausgeweitet werden könnte. Gefragt ist nun eine Lösung, die die Beförderungspflicht nur minimal oder gar nicht einschränkt.

Besteht die Lösung also in freiwilligen Fanzügen?

EG: Das haben wir jetzt schon, doch hat bisher nur YB mit der SBB einen Chartervertrag abgeschlossen. Es braucht eine Lösung, die die Vereine dazu bringt, die Kosten zu übernehmen, welche randalierende Fans den Transportunternehmen verursachen. Diese Kosten einfach auf alle Reisende, das Personal und die Allgemeinheit abzuwälzen, ist nicht korrekt. Eine Variante wäre auch eine Lösung über das Hooligan-Konkordat. Die Sicherheit des öV-Personals und aller Reisenden hat für uns vom SEV höchste Priorität.

PH: Und natürlich ist uns auch wichtig, dass die Grundrechte respektiert werden.

Hat der Nationalrat weitere Geschäfte behandelt, die unsere Mitglieder mehr oder weniger direkt betreffen?

PH: Im Bildungsbereich hat die Ratsmehrheit die Stipendien-Initiative zur Ablehnung empfohlen, obwohl ein Ausgleich der zum Teil enormen Unterschiede zwischen den Kantonen sinnvoll wäre und mehr Chancengleichheit brächte. Hier wird das Volk das letzte Wort haben. Zudem hat der Nationalrat im Weiterbildungsgesetz immerhin festgehalten, dass die Förderung der Grundkompetenzen einen hohen Stellenwert hat, auch wenn wir nicht erreichen konnten, dass die Arbeitgeber hier verbindlich in die Pflicht genommen werden. Weiter hat der Rat eine Motion der Finanzkommission angenommen, die vom Bundesrat verlangt, bei staatlichen Aufgaben auf Vorrat zu sparen, um eine Unternehmenssteuerreform III finanzieren zu können. Ohne Leistungsabbau ist dies aber nicht machbar, sei es im Verkehrs-, Sozial-, Gesundheits- oder Bildungsbereich. Ein solches Vorgehen dünkt mich auch grundsätzlich sehr fragwürdig.

Wie soll es nach dem Ja zur Initiative gegen Masseneinwanderung weitergehen?

EG: Sicher darf es kein menschenunwürdiges Saisonnierstatut mehr geben. Und man muss versuchen, die bilateralen Verträge mit der EU, die für die Schweiz und unsere Arbeitsplätze sehr wichtig sind, zu retten. Wären sie bedroht, weil sich keine für die EU akzeptable Umsetzung der Initiative finden lässt, müsste das Volk nochmals explizit zwischen bilateralem Weg oder Abschottung wählen können. Doch zuerst ist es nun am Bundesrat, Lösungen zu suchen.

Interview: Markus Fischer

BIO

Philipp Hadorn (47) machte nach der kaufmännischen Lehre berufsbegleitend die Matur, bildete sich zum Marktanalysten aus, absolvierte ein Jusstudium und den Lehrgang für Management in politischen und sozialen Organisationen. Er arbeitete u.a. in der Markt- und Meinungsforschung, als Journalist, in einem kirchlichen Sozialwerk und bei der Mediengewerkschaft Comedia, bevor er 2002 SEV-Gewerkschaftssekretär wurde. Er ist verheiratet, hat drei Söhne und wohnt in Gerlafingen SO. 1996 bis 2010 stand er der lokalen evangelisch-methodistischen Kirchgemeinde vor. Für die SP politisierte er ab 1997 im Gemeinderat und ab 2006 im Kantonsrat, bis er 2011 Nationalrat wurde.

Edith Graf-Litscher (50) lernte bei der SBB Betriebsdisponentin, trat damals schon dem SEV bei und war in der Frauenkommission sehr aktiv. Nach Ablösungen auf verschiedenen Bahnhöfen arbeitete sie ab 1995 bei der Krankenkasse SBB, der späteren Atupri. Sie bildete sich zur Krankenkassen-Versicherungsexpertin und Marketingplanerin weiter, wechselte 2005 zur ÖKK und rückte im gleichen Jahr in den Nationalrat nach. Zuvor hatte sie sich seit Ende der 90er-Jahre als SP-Politikerin im Kanton Thurgau immer stärker engagiert. Seit 2008 betreut sie als SEV-Gewerkschaftssekretärin VPT-Sektionen in den Kantonen Zürich und Aargau. Sie ist verheiratet und wohnt in Frauenfeld.