Manuel Avallone, Leiter der gewerkschaftlichen Verhandlungsdelegation, zum Stand der GAV-Weiterentwicklung
«Lohnabbau ist nicht akzeptabel»
Zwei Monate vor Abschluss der Verhandlungen sind noch viele Fragen zum neuen Lohnsystem offen. Für den SEV ist es inakzeptabel, dass die neue Lohnkurve weiter unten beginnen soll.
kontakt.sev: Es ist Mitte Oktober, seit Frühling wird an der Weiterentwicklung des GAV verhandelt, zwei Termine stehen noch aus. Wie ist der Stand der Dinge?
Manuel Avallone: Wir kommen nicht recht vorwärts! Es gibt zwei wesentliche Punkte, in denen wir uns nicht einig sind: Das eine ist die Lohnentwicklung, das andere der Wert der Arbeit. Es geht um die Frage, welchen Wert die Arbeit im neuen System haben soll.
Ist denn der Wert der Arbeit veränderlich?
Ja, und es gehört zum Kerngeschäft jeder Gewerkschaft, über den Wert der Arbeit mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Die SBB sieht nun vor, dass die untersten Funktionsstufen entwertet werden, dass also diese Arbeit weniger wert sein soll als bisher. In den oberen Bereichen soll es hingegen mehr Potenzial geben, die Arbeit wird dort also mehr Wert bekommen. Das ist die Grundlage; was geschieht, wenn es darum geht, jemanden aus einer der heutigen Funktionsstufen in eines der künftigen Anforderungsniveaus überzuführen, ist eine andere Sache. Bei der Überführung wird es zu weiteren Verschiebungen kommen, und zwar bei tiefen wie bei hohen Einkommen. Aber es ist offensichtlich, dass die SBB längerfristig bei den Löhnen sparen will.
Die Lohnschere zwischen tiefen und hohen Löhnen geht ja an vielen Orten auseinander. War die SBB denn bisher vorbildlich bei der Bewertung einfacherer Arbeiten?
Tatsächlich ist dieser Trend allgemein sichtbar. Auch eine Selbstbedienungsmentalität im Management ist immer noch weit verbreitet. Der SBB wird aber vom Eigner vorgeschrieben, dass sie eine fortschrittliche und sozialverträgliche Personalpolitik verfolgen muss. Die SBB will ihrer Kundschaft Spitzenprodukte anbieten, da muss sie auch bereit sein, Löhne zu bezahlen, die über dem Durchschnitt liegen. Das ist ja bekannt: Wer als Unternehmen wirklich gut sein will, muss dies auch als Arbeitgeber sein.
Was gibt es zu tun in den verbleibenden Verhandlungsrunden?
In der Frage der Mindestlöhne braucht es eine Lösung; die von der SBB vorgeschlagene Lohnkurve muss korrigiert werden. Die aktuellen Mindestlöhne dürfen nicht gesenkt werden. Der zweite Bereich ist die Berechenbarkeit innerhalb der Lohnentwicklung: Es muss für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erkennbar sein, wie sich Erfahrung und Leistung auf die Lohnentwicklung auswirken. Die SBB ist gesetzlich verpflichtet, bei der Lohnentwicklung die jeweilige Erfahrung zu berücksichtigen. Das bedeutet aber, dass sie auch die entsprechenden Mittel bereitstellen muss. Es kann nicht sein, dass jemand ein Jahr arbeitet und am Schluss hört: «Schön, dass du mehr Erfahrung hast, aber leider haben wir kein Geld – deshalb kriegst du nichts, oder im besten Fall ein Trinkgeld. » Das hat mit Wertschätzung und Respekt zu tun.
Rechnest du mit einem Resultat, das fürs Personal akzeptabel ist?
Wir sind gewillt, zu Lösungen zu kommen, aber es ist klar, dass die GAV-Delegierten nicht alles schlucken werden. Sobald es um die Entwertung von Arbeit geht, wird es überall schwierig. Es wäre ja interessant, einmal die Reaktionen zu sehen, wenn die obersten Löhne zugunsten der tiefsten Einkommen gekürzt würden…
Welches sind die Chancen, welches die Risiken der abschliessenden Verhandlungen?
Wir sind uns bewusst, dass wir das Lohnsystem nicht losgelöst vom Gesamtarbeitsvertrag betrachten können. Wir haben mit der SBB eine Vereinbarung unterschrieben, dass wir bis Ende Jahr das Lohnsystem verhandeln und dass wir bei einer Einigung zum Lohnsystem in der Folge die weitere Laufdauer des GAV verhandeln. Es hängt also der gesamte GAV daran, das bedeutet eine grosse Verantwortung. Aber das heisst dennoch nicht, dass wir alles akzeptieren werden, was uns die SBB vorlegt.
Sonst hätte es ja gar keine Verhandlungen gebraucht…
Es kommt uns manchmal so vor, als würde die SBB erwarten, dass wir einfach zu ihren Entwürfen Ja sagen. Aber das entspricht nicht unserer Vorstellung von Verhandlungen. Die SBB wirft uns vor, uns nicht zu bewegen, aber wir haben ja bereits zugestimmt, dieses System Toco als Grundlage zu akzeptieren. Wir haben Hand geboten zu den neuen Einreihungen, obwohl wir der Ansicht sind, dass das System damit nicht transparenter wird. Aber tatsächlich gibt es Elemente, bei denen wir nicht einfach der Logik der SBB folgen, sondern unsere eigenen Vorstellungen haben.
Wie verhalten sich eigentlich die Partner in der Verhandlungsdelegation, die drei kleinen Gewerkschaften, die bei der SBB ebenfalls aktiv sind?
In der Verhandlungsgemeinschaft funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Auch wenn die Interessen nicht immer völlig deckungsgleich sind, treten wir geschlossen auf und fahren einen gemeinsamen Kurs.
Nun lanciert der SEV eine Petition mit der Forderung, keine Senkung der Mindestlöhne, der Einstiegslöhne vorzunehmen. Was erwartest du dir davon?
Ich erwarte wirklich, dass viele Leute diese Petition unterschreiben und wir damit Druck auf die SBB machen können. Sie soll merken, dass die Beschäftigten hinter dieser Forderung stehen. Selbst wenn gute Besitzstände angeboten würden, ist damit die Entwertung der Arbeit nicht weggewischt, und ich erhoffe mir starken Druck durch eine sehr grosse Zahl von Unterschriften. Ich zähle auch darauf, dass viele Kolleginnen und Kollegen am frühen Morgen des 21. Oktober dabei sind, wenn wir die Petition der SBB übergeben.
Das letzte Wort hat im SEV die GAV-Konferenz, die aus Delegierten der Unterverbände besteht. Wie ist dort die Stimmung zurzeit?
Die Stimmung ist abwartend, da die wichtigsten Punkte noch nicht verhandelt sind. Die Leute warten darauf zu erfahren, welchen Wert ihre Arbeit in Zukunft haben wird. Zurzeit haben sie also auf wichtige Fragen noch keine Antworten. Sie haben uns deshalb den Auftrag gegeben, weiterzuverhandeln.
Wenn ich herumfrage, dominiert klar die Frage «Was verdiene ich in Zukunft?», und darauf gibt es anscheinend immer noch keine Antwort?
So ist es. Es ist ja klar, dass dies für alle Lohnempfängerinnen und -empfänger die zentrale Frage ist. Wir kennen zwar die Vorstellungen der SBB, aber die sind nicht akzeptabel. Sie würden dazu führen, dass rund die Hälfte des Personals in einen Besitzstand kommt. Das bedeutet nichts anderes, als dass ihnen das Unternehmen sagt: «Wir zahlen dir mehr, als du eigentlich verdienst.» Das ist keine tragbare Situation. Die SBB steht vor ganz grossen Herausforderungen. Diese kann sie nur mit motiviertem Personal bewältigen. Eine Zweiklassen- Personalpolitik, in der die Bisherigen dank Besitzständen mehr verdienen als alle, die neu dazukommen, führt nur zu Problemen und widerspricht dem Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit». Wir bestehen darauf, dass der Wert der Arbeit korrekt festgelegt wird, ohne dass es dabei zu Senkungen kommt.
In den nächsten Tagen gibt es wiederum Info-Veranstaltungen für die Mitglieder. Was ist dort die wichtigste Botschaft, die du ihnen mitbringst?
Wir wollen aufzeigen, wo wir stehen, was alles mit diesen Verhandlungen zusammenhängt, und wir werden die Leute aufrufen, die Petition zu unterschreiben und an der Übergabe teilzunehmen. Nur so können wir der SBB zeigen, dass es nicht einfach die Funktionäre des SEV sind, die ihre Vorstellungen ablehnen, sondern ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die es nicht akzeptieren, dass ihre Arbeit weniger wert sein soll.
Angenommen, es kommt zu keiner Einigung vor Jahresende. Was wären die Folgen?
Dann besteht die Möglichkeit, dass die SBB den GAV als Ganzes kündigt, und dann begännen wir absolut bei null – ohne Lohnsystem und in einer sicher sehr schwierigen Stimmung. Natürlich gibt es zuvor auch noch die Möglichkeit, die Verhandlungsfrist zu verlängern.
Wäre die GAV-Kündigung ein Schreckensszenario?
Es wäre sicher keine gute Situation, denn die SBB steht vor sehr grossen Herausforderungen. Da ist sie auf motiviertes Personal angewiesen. Der GAV ist die stabile Basis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und es wäre äusserst ungeschickt, wenn die Arbeitgeberin diese infrage stellte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden ein solches Vorgehen der SBB nicht verstehen.
Wie schätzt du die Möglichkeit ein, dass es dazu kommt?
Die SBB muss sich gut überlegen, ob sie vor allem ein neues Lohnsystem will oder ob sie damit auch gleich noch die Arbeit entwerten will. Die möglichen Einsparungen bei den Löhnen müssen mit Bezug zu den milliardenschweren Herausforderungen der nächsten Jahre relativiert werden. Die SBB muss sich überlegen, ob dieser Betrag die Unsicherheit wert ist, die eine Kündigung des GAV verursachen würde. Sie würde damit eine zusätzliche Baustelle eröffnen, die ihr weitere Probleme verschaffen würde.
Interview: Peter Moor