Kongress 2013
Rede von Peter Bichsel
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Ich freue mich, hier mit Euch zu sein und danke für die Einladung. Ich bin stolz darauf, hier vor Euch im SEV sprechen zu dürfen – hier, wo einst Robert Bratschi sprach.
Auch bei meinem alternden Namengedächtnis ist mir dieser Name nie entfallen, ich kannte ihn seit meiner frühen Kindheit. Bratschi war damals bei uns so etwas wie ein Hausheiliger – ich bin in Olten aufgewachsen. Mein Vater arbeitete in der SBB-Werkstätte oder wie sie in Olten einfach hiess „die Werkstätte“, denn Olten war Eisenbahn, und wir waren beeindruckt von der Bezeichnung Knotenpunkt. Hier war die Welt verknotet – in Olten umsteigen.
Und nicht nur mein Vater war Eisenbahner. Wir alle waren es, ich und die ganze Familie, die Nachbarn und die Schulkollegen – wir waren Eisenbahn, stolze Mitglieder einer grossen Öffentlichkeit.
Der braune Ausweis damals mit Passfoto, mit dem Eisenbahner und ihre Familien verbilligte Fahrkarten beziehen konnten, die die stolze Bezeichnung „Beamtenbillete“ trugen, dieser Ausweis war für mich nicht nur so etwas wie ein Abonnement, sondern viel mehr so etwas wie ein Mitgliedsausweis. Ich gehörte mit dazu, Mitglied jener grossen Öffentlichkeit, die wir zu Recht und ohne viel darüber nachzudenken als öffentlichen Verkehr bezeichnen – jener Verkehr nämlich, der nicht nur öffentlich ist, sondern auch tagtäglich Öffentlichkeit herstellt. Fahrend nicht nur Orte verbindet, sondern auch Menschen. Noch heute bezahle ich mein Generalabonnement wie einen Mitgliederbeitrag – ich gehöre dazu. In der Eisenbahn fühle ich mich als Mensch unter Menschen. Und es würde mir auch dann schwer fallen, diesen Vereinsbeitrag nicht mehr zu bezahlen, wenn ich aus irgendeinem Grund die Eisenbahn nicht mehr benützen könnte. Das klingt, ich weiss es, ein bisschen pathetisch Aber ich kann es nicht ändern, mein Verhältnis zur Eisenbahn war ein Leben lang von kindlichem Pathos begleitet, ähnlich jenem Pathos, mit dem die Eisenbahn in ihren Frühzeiten gefeiert wurde.
Der grosse Poet Walt Whitman, einer der Väter der modernen amerikanischen Literatur, hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem grossen Gedicht die neue Eisenbahn als Instrument des Weltfriedens gepriesen. Jetzt werde die Welt zusammengefügt, Länder und Nationen mit eisernen Strängen verbunden, die Menschen sich nähergebracht.
In einem hatte Walt Whitman recht, Amerika selbst wurde wirklich mit der Eisenbahn zusammengefügt. Die durchgehende Eisenbahnverbindung vom Osten zum Westen war ein historisches Ereignis. Sie brachte den wirtschaftlichen Erfolg, sie stellte auch jene Öffentlichkeit her, in der Emigranten aus der ganzen Welt und aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammenfanden und gemeinsam Amerikaner wurden.
Dieses Amerika habe ich nicht mehr erlebt und konnte ich mit meinem Jahrgang nicht mehr erleben. Ich erlebte ein Amerika der zusammenbrechenden Eisenbahnen, die stolze Ost-Westverbindung war längst unterbrochen, die Geleise unbrauchbar und parallel dazu die Auflösung der Öffentlichkeit in Ghettos der Armen und in Ghettos der Reichen, in Partygesellschaften, der Privatisierungswahn hatte auch die Öffentlichkeit erreicht, die Öffentlichkeit wurde privatisiert.
Und inzwischen haben wir leider lernen müssen, dass sich der Traum Walt Whitmans nicht realisierte und dass die Menschen, dass wir, auf das Zusammenrücken der Nationen nicht friedlich reagieren, sondern mit Ängsten und Feindschaften, und dass der weltweite Tourismus, nichts, gar nichts zur Befriedung der Welt beigetragen hat. Die meisten Gastarbeiter in unserem Land nach dem Krieg kamen ausgerechnet aus unseren beliebtesten Feriendestinationen, Italien, Spanien, Türkei, Jugoslawien, und bekamen es bei uns immer wieder mit unseren Aengsten und Feindschaften zu tun.
Ich erinnere mich an viele Gespräche und Diskussionen am Fernsehen und am Radio und unter Freunden in Amerika nach den schweren Schwarzen-Unruhen vor dreissig Jahren. Alle sprachen von Integration der Schwarzen. Und ich fragte mich und meine amerikanischen Freunde, wo sie denn diese Leute in die Gesellschaft integrieren wollten, in welche Partygesellschaft, in welches Ghetto, in welche privatisierte Öffentlichkeit?
Seither zuckt in mir etwas zusammen, wenn ich von Integration höre, und das höre ich inzwischen in der Schweiz oft, und das Wort hat für viele den selbstverständlichen und bitteren Beigeschmack von Strafaufgaben: Die sollen mal, die sollen mal unsere Sprache lernen. Und mit wem sollen sie dann sprechen, wenn sie ihre Strafaufgabe gemacht haben – mit uns? Und wenn mit uns – wo? Wo gibt es sie noch, diese Orte, diese Öffentlichkeit, wo sich alle treffen. Ein Zufall jedenfalls ist es nicht, dass Randständige die Öffentlichkeit, aus was für Gründen auch immer, auf Bahnhöfen suchen. Dort, wo die Menschen sind, dort wo sich alle begegnen.
Eigenartig, dass ich dasselbe Gefühl auf Flughäfen nicht habe. Und es mag nun wirklich an meiner Altersnostalgie liegen, dass es mich zutiefst erschreckt, wenn man mit neuen Bahnhöfen Flughäfen imitieren will, den eigenen Vorteil zugunsten des Nachteils des anderen aufgibt. Auch das schafft der Konkurrenzkampf und der Managementswahn ab und zu. Aber das nur nebenbei.
Auch wir in Europa sind mehr und mehr dabei, Öffentlichkeit zu verlieren. Man trifft sich nicht mehr in der Käserei, nicht mehr Samstags beim Dorffriseur, nicht mehr in der verrauchten Dorfbeiz, sie ist jetzt – wenn es sie überhaupt noch gibt – ein gepflegtes Restaurant für auswärtige zahlungskräftige Gäste. Man trifft sich nicht mehr auf dem Dorfplatz. Was einmal Öffentlichkeit hiess, verkommt zur Grill- und Partygesellschaft – man bleibt unter sich und trifft ein Leben lang dieselben Leute. Man lebt nicht mehr unter allen, sondern nur noch unter sich.
Das ist der Trend, und nicht nur ein schweizerischer, und diesen Trend hat niemand gewollt, der geschieht schleichend und ohne dass wir es bemerken. Und das ist halt so.
Ich fürchte nur, dass letztlich Demokratie ohne Öffentlichkeit nicht funktionieren kann, ohne das Gefühl des Zusammenlebens, des Dazugehörens zu allen.
Unsere moderne Demokratie stammt aus einer Zeit als Öffentlichkeit noch selbstverständlich war – 1848. Ein Jahr zuvor, 1847, fuhr in der Schweiz die erste Eisenbahn, die Spanischbrötlibahn – ich halte das nicht für einen Zufall, wenn auch diese ersten Bahnen wohl eher die Funktion von Vergnügen hatten, ähnlich dem Karussell. Zufall oder nicht, die beiden, die Bahn und die Demokratie sind miteinander aufgewachsen und gross geworden, der öffentliche Verkehr und die Übergabe der politischen Macht an die Öffentlichkeit.
In der Eisenbahn, zweite Klasse, erlebe ich diese Oeffentlichkeit noch, hier begegne ich all jenen noch, die in diesem Land leben, und zwar fast allen, den Gescheiten und den Dummen, den Grossgekotzten und den Kleinkarierten, den Schönen und den weniger Schönen. Hier bin ich mit jenen zusammen, mit denen ich Demokrat sein darf. Demokratie macht man mit allen. Sie stammt aus einer Zeit, als Öffentlichkeit noch selbstverständlich war. Der öffentliche Verkehr ist inzwischen einer der letzten Orte dieser Selbstverständlichkeit. Der Verkehr, der Öffentlichkeit herstellt, ist ein demokratisches Instrument. Der Zerfall der Gesellschaft in kleine Ghettos, der Rückzug der Gesellschaft ins Private, gefährdet auch das demokratische Verhalten.
Ich weiss, es gibt viele andere und gute Gründe, den öffentlichen Verkehr zu erhalten. Ich weiss auch, dass es nicht nur in Demokratien Eisenbahnen gibt. Aber ich bin überzeugt davon, dass die Demokratie auch mit ihrem gleich alten Bruder, der Eisenbahn, zu tun hat und einen triftigen Grund hat, sie zu erhalten.
Diese Öffentlichkeit stellen Sie her, das Personal. Und ich staune als Fahrgast auch immer wieder, mit wie viel persönlichem Einsatz und Gelassenheit die Zugbegleiter das tun. Ich erinnere mich an eine Zugfahrt vor vielen Jahren von Zürich nach Solothurn, die gegen drei Stunden dauerte, die erst mal mit grosser Verspätung begann, dann blieb der Zug stehen, dann ging es weiter zu nächsten Station und dort hatte man umzusteigen. Es war ärgerlich und der gestresste Zugsbegleiter hatte sich mit diesem Ärger auseinanderzusetzen, und die Fahrgäste kamen ins Gespräch und wurden nach und nach zur fröhlichen Gesellschaft und die Verspätung zum Schabernack. Der gelassene Zugsbegleiter hatte Öffentlichkeit hergestellt, und jene die ihr Fahrziel erreicht hatten und sich verabschiedeten, beneideten jene, die mit der fröhlichen Gesellschaft weiterfahren durften. Das ist nicht etwa ein Plädoyer für Verspätungen, es ist nur eine Geschichte über das Zusammenkommen, über das sich begegnen in der Eisenbahn.
So danke ich Euch allen dafür, dass sie tagtäglich Öffentlichkeit herstellen, jene Öffentlichkeit, die unserer Gesellschaft droht abhanden zu kommen. Nicht die Schienen und nicht das Rollmaterial sind die Eisenbahn, Ihr, das Personal seid die Eisenbahn und gestatten Sie mir die kleine schüchterne Bitte, dass ich auch ein bisschen dazugehören darf – ich bin aus Olten.