CGT Frankreich
Sozialer Frieden und Demokratie bedroht
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hatte Sophie Binet, die neue Generalsekretärin der französischen CGT, nach Lausanne eingeladen. Sie zog Bilanz über die Mobilisierung gegen die Rentenreform und sprach über die Kämpfe und Hoffnungen, die ab 13. Oktober einen heissen Herbst ankündigen.
Sophie Binet steht seit Ende März an der Spitze der französischen CGT. Am 22. September hat sie im Volkshaus Lausanne in einem fast vollen Saal ein stark durchmischtes Publikum begeistert. Ihre Rede war klar, deutlich, intelligent und mobilisierend. Erstmals seit 1895 steht eine Frau an der Spitze der CGT, der Nummer zwei der französischen Gewerkschaften im privaten und der Nummer eins im öffentlichen Bereich, wozu auch die Bahnen gehören. Der Präsident des SGB, Pierre-Yves Maillard, betonte in seiner Begrüssung, dass «der Kampf gegen die Rentenreform in der Schweiz stark beachtet und unterstützt wurde. Es handelt sich um eine unsoziale Reform und einen Angriff auf die Arbeitswelt, darüber hinaus aber auch um einen Kampf für die Demokratie, die geschwächt werden soll.» «Wir haben die Unterstützung aus der Schweiz und aus ganz Europa wahrgenommen, und das hat uns gestützt», erwiderte Sophie Binet einleitend. Weiter äusserte sie ihre Bewunderung für die Schweizerinnen, die dreimal mit grossem Erfolg einen feministischen Streik durchgeführt haben. Das gelinge in Frankreich noch nicht, auch wenn die Lohngleichheit diesen Herbst im Zentrum der Forderungen stehen wird.
Weshalb wurde der Kampf um die Renten nicht gewonnen? Die französische Verfassung gebe dem Präsidenten extrem viel Macht, erläuterte Binet. Sie bedauert, dass sie nicht die gleichen Möglichkeiten hat wie wir: «Wenn wir eine Demokratie wie die Schweiz hätten, wäre diese Rentenreform nie durchgekommen. 80 % der Beschäftigten waren dagegen. Aber unser Präsident Emmanuel Macron führt nur Abstimmungen durch, wenn diese für ihn von Vorteil sind. Die Verfassung hat ihm erlaubt, seine Macht einzusetzen, um die Rentenreform durchzudrücken. Aber das ist ein Pyrrhus-Sieg; er geht geschwächt und ohne Mehrheit daraus hervor.»
«Es war auch das Zeichen einer Wende des Neoliberalismus», erläuterte sie. «Für das Kapital ist die Demokratie ein Problem, denn die Bevölkerung sieht immer klarer. Um ihre Reform durchzubringen, bleibt ihnen nur Eigenmächtigkeit und Unterdrückung. Wir erleben eine Kriminalisierung der Arbeiterbewegung und einen Angriff auf die Gewerkschaftsrechte. Zudem stehen wir in Frankreich in einem Dreieck von Linken, Rechten und Rechtsextremen. Die Sicherungen, die nach 1945 aufgebaut wurden, gehen mit der Komplizenschaft von Macron, dem Kapital und der Presse in den Händen von Milliardären wie Bolloré zunehmend verloren. Die Verlagerung der Macht verstärkt die Meinung, dass der gemeinsame Kampf nichts bringe. Das ist ein Steilpass für Marine Le Pen. Entscheidend ist die wirtschaftliche Schlagkraft und damit unsere Streikfähigkeit. Gewisse Bereiche sind sehr stark (Energie, Transport usw.). Allerdings sind 40 % der Beschäftigten im privaten Bereich in keiner Gewerkschaft, was unbefristete Streiks verunmöglicht hat. Andererseits hat dieser Kampf über 100 000 Personen zum Beitritt in eine Gewerkschaft bewegt.»
Ein weiterer erfreulicher Aspekt ist, dass die Einigkeit der Gewerkschaften weiterbesteht, die sich im Kampf gegen die Rentenreform entwickelt hat. Das ist gerade jetzt ein gutes Zeichen, da ein heisser Herbst bevorsteht. «Die CGT steht vor einer dreifachen Herausforderung», führte Binet aus. «Erstens eine wirtschaftliche und soziale: Die Frage der Lebenshaltungskosten und der Löhne, die komplett auseinanderklaffen, steht im Zentrum unseres Kampf- und Streiktags vom 13. Oktober. Ein Drittel der französischen Bevölkerung erklärt, dass sie sich nicht mehr drei Mahlzeiten am Tag leisten kann, und viele Arbeitnehmer:innen können nicht mehr von ihrem Lohn leben. Die Preise der Lebensmittel, der Mieten, der Energie explodieren. Schulen, Spitäler und Forschung müssen Sparprogramme machen, und wir befürchten, dass Frankreich den Anschluss verliert.»
Hinzu kommen die Krisen der Umwelt und der Demokratie, die Menschen- und Gewerkschaftsrechte bedrohen. Für Sophie Binet heisst die Antwort: «Gewerkschaftliche Einheit und Mobilisierung müssen die Sparprogramme stoppen, die sich in Frankreich und ganz Europa ausbreiten. In den nächsten Monaten müssen wir das Maximum an Verbesserungen herausholen, Sinn und Zweck der Arbeit betonen und in die Gewerkschaftsbewegung vertrauen.» Dies gilt für Frankreich, die Schweiz und überall. Diese Versammlung hat Energie und Hoffnung gebracht. Danke Sophie. Dein Kampf ist auch der unsere.
Yves Sancey