Fragen an den neuen SGB-Präsidenten
Pierre-Yves Maillard, Verteidiger des Service public
Pierre-Yves Maillard wird am 6. Mai Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Er ist überzeugt, dass sich Lohngleichheit nur über «effektive öffentliche Kontrolle» erreichen lässt. Die grosse Herausforderung der Gewerkschaften in den nächsten 20 Jahren bilden die vor allem von Frauen besetzten, prekären Arbeitsplätze im Bereich der Betreuung älterer Menschen oder von Menschen mit Behinderung. Die Zahl dieser Stellen wird künftig noch wachsen. «Wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir hier eine sehr nötige Wirkung erzielen», hofft der neue SGB-Präsident.
Man kennt dich als Sozialdemokrat, dem der Service public besonders wichtig ist und der dessen Abbau stets bekämpft hat. Was sagst du zur schleichenden Schliessung von Bahnhofschaltern und Poststellen?
Pierre-Yves Maillard: Dies bestätigt leider die Analyse, die einige von uns zu Beginn dieser Entwicklung in den 1990er-Jahren gemacht hatten. Schon vor der erfolgreichen Referendumsabstimmung von 2002 gegen die Liberalisierung des Strommarktes gehörte ich 1996 zu den Wenigen, die die Liberalisierung des Post- und Telecom-Marktes zu verhindern versuchten, jedoch erfolglos, weil unsere Unterschriftensammlung keine Unterstützung fand.
Damals galt es plötzlich als überholt, Service-public-Aufgaben einem öffentlichen, integrierten Monopolbetrieb anzuvertrauen, und diese Idee fand durch Indoktrination den Weg in alle Köpfe, sogar in linken Parteien und in Gewerkschaften. Zu dieser Tendenz trug auch die europäische Integration über die Liberalisierung der Märkte wesentlich bei. Der Kampf gegen diese Tendenz muss deshalb damit beginnen, sich von dieser Ideologie zu befreien und sich zu getrauen, jedes weitere Gesetz, das in diese Richtung führt, abzulehnen, auch wenn es als Schritt in Richtung europäischer Integration dargestellt wird. Dabei werden uns das Personal und die Bevölkerung unterstützen.
Bahnliberalisierung, Flixbus-Konkurrenz, wachsender Rückgriff auf Temporärmitarbeitende, führerlose Busse und Züge: Das Verkehrspersonal ist mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Wie siehst du das?
Zuerst einmal ist festzuhalten, dass trotz aller Schwierigkeiten die Verkehrsbranche besser verteidigt werden konnte als andere Service-public-Bereiche des Bundes, und vor allem besser als in den meisten europäischen Ländern. So ist die SBB eine integrierte Bahn geblieben, die im internationalen Vergleich vorbildliche Leistungen erbringt. Und der SEV ist weiterhin stark und in der Lage, die Arbeitsbedingungen wirksam zu verteidigen. Klar wird vielerorts weiterhin versucht, die Errungenschaften des Personals und den Service public abzubauen. In den Unternehmungen werden die Topkader mit Lohnanreizen in diese Richtung angetrieben. Doch es bewegt sich etwas. Die Postauto-Affäre hat das wahre, hässliche Gesicht dieser Politik aufgezeigt. Die Medien sind dadurch aufmerksamer geworden und die Bevölkerung hat durch den Schock ihr blindes Vertrauen verloren. Nur den Mitarbeitenden traut sie noch und unterstützt sie weiterhin. Darauf können die Gewerkschaften bauen, wenn sie nötigenfalls den Ton verschärfen.
Der SGB will die flankierenden Massnahmen aus dem Rahmenabkommen Schweiz– EU herausnehmen. Aber versteht er auch die Arbeitnehmenden, die keine Personenfreizügigkeit mehr wollen?
Die Personenfreizügigkeit hat positive Seiten wie die Abschaffung des ungerechten Saisonnierstatuts, das seinerseits die Löhne gedrückt hat. Aber es ist schon so, dass Arbeitswettbewerb und Lohndruck zunehmen, wenn das Rekrutierungspotenzial ausgedehnt wird. Die flankierenden Massnahmen wirken bei den Niedriglöhnen, sofern es Kontrollen gibt. Und wir wissen, dass nicht überall kontrolliert wird. Dumping kann aber selbst bei Ingenieuren vorkommen, ohne dass sich Missbrauch nachweisen lässt. Die Leute spüren den Druck stark. Was nicht geht: Ein jetzt schon unvollständiges und schlecht angewendetes Dispositiv noch mehr schwächen, indem man das Arbeitsrecht und die geplanten Sicherungen zu Handelshemmnissen erklärt! Wenn die EU sich gegen effizienten Lohnschutz wehrt, treibt sie die neoliberale Logik immer weiter und entfremdet sich von der Bevölkerung, die sie ausmacht.
Falls die Schweiz diesem Rahmenabkommen mit der EU zustimmt, werden die staatlichen Beihilfen in der Schweiz abgeschafft oder stark eingeschränkt. Was wären die Folgen für den Service public und insbesondere den öffentlichen Verkehr?
Der Umgang dieses Abkommens mit den staatlichen Beihilfen ist mir sofort als wesentliches Problem ins Auge gesprungen, zusammen natürlich mit dem Schutz der flankierenden Massnahmen. Ich bin froh, dass diese Sorge zunehmend geteilt wird, insbesondere von den Kantonen. Dieses Problem ist ein Grund mehr, das Abkommen abzulehnen. Es ist aber auch klar, dass die EU wissen will, inwiefern die Post, die SBB, unsere Elektrizitätsgesellschaften oder unsere Kantonalbanken in der Schweiz Protektion geniessen, wenn diese in Europa Abenteuer und Marktanteile suchen. Der Druck kommt daher auch von diesen Unternehmen, die bei den Grossen mitspielen wollen und ihre Identität als Service-public-Betriebe im Dienst unserer Bevölkerung ablegen wollen.
Als du dich bei der Wahl zum SGB-Präsidenten gegen Barbara Gysi durchgesetzt hattest, hast du erklärt, dich für die Sache der Frauen einsetzen zu wollen. Wie?
Die Anpassung des Gleichstellungsgesetzes ist schon ein Schritt in die richtige Richtung, bringt aber noch keine effektive öffentliche Kontrolle des in der Verfassung verankerten Rechts auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Im Gesetz bleibt eine grosse Lücke: Die geschädigte Person muss dafür sorgen, dass es angewandt wird, indem sie gegen den Arbeitgeber klagt. Ich kannte Malika gut, die erste Frau, die ihren Kampf für die Lohngleichheit gewonnen, aber den Job verloren hat. Wie es einen Schutzmechanismus gegen Diskriminierung gibt, sollte es einen öffentlichen Mechanismus zur Durchsetzung des Gesetzes geben – Inspektionen. Angesichts des untätigen Parlaments hoffe ich, dass der Frauenstreik oder eine Initiative etwas ins Rollen bringt. Wir müssen den Elan des Frauenstreiks für konkrete Fortschritte nutzen.
Wie kann der Anteil der Frauen in den Gewerkschaften erhöht werden?
Die Präsenz der Gewerkschaften in den früheren Regiebetrieben des Bundes muss erhalten werden. Letztere sind auch Bastionen geblieben, aber man muss Spielraum haben für die Entwicklung in neuen Branchen. Eine Stärke des SGB ist seine Funktion als Plattform, auf der die Ressourcen gemeinsam genutzt werden können. Eine der grössten Herausforderungen in den nächsten 20 Jahren sind die personenbezogenen Dienstleistungen. 100000 Arbeitsplätze müssen in der häuslichen Pflege oder in Pflegeheimen neu geschaffen werden – in einer gewerkschaftlich kaum organisierten Branche mit hauptsächlich von Frauen besetzten, prekären Arbeitsplätzen mit niedriger Qualifikation und sehr harten Arbeitsbedingungen. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir hier eine sehr nötige Wirkung erzielen.
Die Haltung der Gewerkschaften gegenüber der neuen Steuervorlage des Bundes ist nicht klar. Wird zu wenig mit der Basis geredet?
Es stimmt, da hatte der SGB nicht genug Zeit für eine Debatte. Aus meiner Sicht kann man den Transfer von zwei Milliarden an die AHV und von einer Milliarde aus der direkten Bundessteuer an die Kantone nicht ablehnen. Wenn man noch die Abschaffung der Sonderstatute berücksichtigt, ist die vorgeschlagene Regelung besser als die jetzige. Über die Steuersatzsenkung entscheiden die Kantone. Man kann die Steuervorlage akzeptieren und gleichzeitig die Steuersatzsenkungen ablehnen, wenn ein Kanton zu weit geht oder es ablehnt zu verhandeln.
Wie viel vom ehemaligen Philosophiestudenten steckt noch im SGB-Präsidenten?
Das Studium hat meinen kritischen Geist geformt. Diesen muss man aber auch beherrschen, damit man handeln kann.
Syndicom-Magazin / SEV-Zeitung
Biografie
Pierre-Yves Maillard, geboren am 16. März 1968 in Lausanne, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
- Liz. Phil. I (Philosophie, Französisch und Geschichte) 1992 in Lausanne, danach Lehrer in Französisch, Geschichte und Geografie
- Gemeinderat (Legislative) in Lausanne von 1990 bis 1998, Grossrat (Kantonsparlament) von 1998 bis 2000, Nationalrat von 1999 bis 2004
- Regionalsekretär Waadt/Freiburg des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbands Smuv (heute Unia) von 2000 bis 2004
- Präsident der SP Waadt von 2000 bis 2004. Vizepräsident der SP Schweiz von 2004 bis März 2008
- Als Waadtländer Staatsrat Vorsteher des Departements für Gesundheit und Soziales von 2004 bis Anfang Mai 2019
- SGB-Präsident ab 6. Mai 2019
Kommentare
Georg Stich 11/11/2019 22:59:41
Finde es super wie herr maillard agiert. Schutz der alten arbeitnehmer, gegen erhöhung rentenalter aus der tatsache dass die alten keine arbeit finden. Kenne selber solche leute. Traurig aber war. Habe ihne heute bei eco und vor zwei wochen in bern gesehen. Seine argumente stimmen einfach. Die anderen leben nicht in der realität. Weiter so. Besten dank. Gruss g. Stich