Digitalisierung, (Neo-)Liberalismus und der Kampf der Arbeiterklasse
Kein alter Zopf: der 1. Mai
Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und für eine gerechtere Welt ist heute immer noch nötig.
Viele Arbeitnehmende sehen sorgenvoll in die Zukunft. Doch die Gewerkschaften kämpfen für ein Leben in Würde.
Viele Arbeitnehmende machen sich Sorgen. Um ihren Job. Die Arbeitslosigkeit sinkt nur langsam. Schuld daran ist vor allem der zu starke Franken. Besonders betroffen sind ältere Arbeitnehmende. Während die Arbeitslosigkeit zuletzt generell leicht sank, nahm sie bei den über 55-Jährigen weiter zu. Viele von ihnen haben grosse Mühe, wieder eine Stelle zu finden.
Viele Arbeitnehmende machen sich Sorgen. Um ihren Lohn. Noch immer gibt es Lohn-Dumping. Und die Lohnerhöhungen der letzten Jahre fielen schwach aus. Zudem wurden sie von den ständig steigenden Krankenkassenprämien weggefressen. Doch die Kantone treiben ihre schädliche Sparpolitik voran und kürzen die Prämienverbilligungen, statt sie zu erhöhen.
Viele Arbeitnehmende machen sich Sorgen. Um ihre künftige Rente. Sie blicken zu Recht mit Sorgen auf ihre Pensionierung. Denn ohne Gegenmassnahmen gibt es für künftige Rentnerinnen und Rentner tiefere Renten.
Sorgen bereitet auch ein Blick über die Landesgrenzen. In den USA hat die immer grösser werdende Kluft zwischen Arm und Reich dazu geführt, dass ein unfähiger Präsident gewählt wurde, der den Herausforderungen nicht gewachsen ist. Und in Europa hoffen rechtsextreme Bewegungen und Parteien auf Mehrheiten.
.Wenn die Probleme der breiten Bevölkerung, speziell der Arbeitnehmenden nicht ernst genommen werden, drohen solche Entwicklungen auch in der Schweiz. Wir Gewerkschaften benennen die Probleme. Wir kämpfen. Wir haben wesentlich dazu beigetragen, die fremdenfeindliche und diskriminierende Durchsetzungsinitiative und die Unternehmenssteuerreform III abzuschmettern.
Doch wir wollen nicht nur abwehren. Wir wollen und können die Schweiz auch gestalten. Sozialer. Gerechter.
Etwa in der Altersvorsorge. In der Altersvorsorge 2020 erzielten wir wichtige soziale Fortschritte. Gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber und von SVP und FDP setzten wir erstmals seit 42 Jahren eine Erhöhung der AHV-Renten durch. Damit ist die von den Gewerkschaften seit langem geforderte Stärkung der AHV in Griffweite, angesichts der Probleme der Pensionskassen ist sie auch dringend nötig.
Die von uns mitgestaltete Reform bringt noch eine Reihe weiterer Fortschritte. Etwa, dass Teilzeitarbeit in der zweiten Säule endlich besser versichert und damit die Rentenungleichheit zwischen Männern und Frauen eingeebnet wird. Oder dass ältere Arbeitslose nicht mehr automatisch aus der Pensionskasse ausgeschlossen werden, sondern künftig einen Rentenanspruch haben.
Nicht in allen Fragen konnten wir uns durchsetzen. Die Altersvorsorge 2020 ist Ausdruck eines Kompromisses. Das höhere Frauenrentenalter ist ein klarer Rückschritt. Und der Umwandlungssatz der obligatorischen beruflichen Vorsorge wird gesenkt. Anders als 2010 aber, als wir diese Senkung bodigten, wird die Rentensenkung diesmal ausgeglichen. Dank einer Besitzstandgarantie für die über 45-Jährigen. Dank der AHV-Erhöhung.
Unter dem Strich bleibt, was die wenigsten erwartet hatten: Eine Rentenreform, die nicht nur Abbau bringt, sondern auch sozialen Fortschritt.
Gerechter und sozialer: Das gilt auch für die Genderfrage. Gleich- heit beim Rentenalter verlangt Gleichheit zuvor. Vor allem Lohngleichheit. Hier müssen die Betriebe endlich kontrollieren, dass Frauen und Männer gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit erhalten. Wer gegen die Lohngleichheit verstösst, muss gebüsst werden. Und es braucht mehr staatliches Engagement in der Betreuung der Kinder, damit die Vereinbarkeit von Erwerb und Familie für die Frauen Tatsache wird.
Bei der Umsetzung der SVP-Masseneinwanderungsinitiative haben wir diskriminierende Kontingente verhindert. Wir haben die flankierenden Massnahmen weiter entwickelt, wenn auch nur bescheiden. Und wir haben durchgesetzt, dass Arbeitslose bei der Stellenbesetzung einen Vorsprung erhalten sollen. Das macht die Arbeitswelt ein bisschen sozialer und gerechter.
Ein Blick auf die letzten eineinhalb Jahre zeigt: Das Engagement der Gewerkschaften lohnt sich. Natürlich haben die Arbeitgeber und ihre politischen Unterstützer die neoliberale Agenda noch längst nicht abgeschrieben. Widerstand wird weiter nötig sein.
Aber wir können und werden die Zukunft auch gestalten. Sozialer. Gerechter.
Schweizerischer Gewerkschaftsbund
Zur Sache
Schon steht wieder der 1. Mai bevor. Gegründet wurde er einst als Kampftag, heute ist er auch zum Fest- und Feiertag geworden: der «Tag der Arbeit». Dass wir die Arbeit feiern, macht durchaus Sinn. Wir brauchen die Arbeit, weil sie unsere Tage und unser Leben strukturiert, weil wir dank ihr Kol-leg/innen und Beziehungen haben und nicht zuletzt, weil sie hilft, unserem Leben Sinn zu geben.
Wir brauchen die Arbeit aber auch, weil wir Lohnabhängige sind. Das heisst, dass wir vom Ertrag unserer Arbeit leben – leben müssen, weil wir nicht ein Bankkonto mit einer grossen Summe, kein wohldotiertes Wertschriftenportefeuille haben und damit sorgenfrei leben können.
Gerade, weil das so ist, wollen wir eine sichere Arbeitsstelle, wollen sinnstiftende Aufgaben bei der Arbeit und wollen einen anständigen Lohn und die Aussicht auf eine Rente, die uns im Alter ein Leben nicht in Saus und Braus, aber doch ein Leben in Würde ermöglicht.
Das sind alte Forderungen, aber diese Forderungen sind längst noch nicht überholt, weil sie längst noch nicht erfüllt sind. Gewiss, Fortschritte konnten wir, die Arbeitnehmenden, erzielen, durch unsere Vertreter/innen in den Parlamenten und durch Abstimmungserfolge an der Urne, oft aber nur durch Mobilisisation und manchmal auch durch Streiks. Die Schweiz von heute ist sozialer und gerechter als die Schweiz vor 127 Jahren, als zum ersten Mal der 1. Mai gefeiert wurde.
Doch der Liberalismus und der Neoliberalismus und deren Losung «Der Starke ist am mächtigsten allein» greifen die Errungenschaften der Arbeitnehmenden immer wieder und immer noch an. Wir wollen nicht das grösste Stück vom Kuchen für uns selber, wir wollen eine gerechtere Verteilung. Dass diese noch längst nicht erreicht ist, hat der jüngst veröffentlichte Bericht des Bundesrats über die Verteilung der Einkommen gezeigt. Deshalb ist es wichtig, dass wir nicht aufhören, mehr Gerechtigkeit zu fordern. Am 1. Mai machen wir das auch auf der Strasse. Wir machen das zusammen: Männer und Frauen, Junge und Alte, Alteingesessene und neu Dazugekommene. Wir, die wir die Schweiz der Zukunft, die gerechtere Schweiz bauen. Wir machen das, indem wir zeigen, dass wir viele sind. Wir sehen uns!
Peter Anliker