Die Durchsetzungsinitiative verletzt das Verhältnismässigkeitsprinzip, weil kein Gericht mehr den Einzelfall beurteilen darf
«Der Ausweise-Automatismus ist unmenschlich»
Niccolò Raselli, Bundesrichter von 1995 bis 2012, lehnt Automatismen in der Justiz ab: Gerichte müssen private und öffentliche Interessen abwägen, um menschenwürdige Entscheide zu fällen, betont er. Daher stellt er sich vehement gegen die Durchsetzungsinitiative.
kontakt.sev: Sie haben die Durchsetzungsinitiative der SVP als «Monstrum» bezeichnet. Weshalb?
Niccolò Raselli: Die SVP will einen Ausschaffungs-Automatismus für verurteilte Ausländer/innen: Menschen ohne Schweizer Pass, die wegen einer Straftat – die Initiative führt dazu eine sehr lange Liste auf – verurteilt worden sind, sollen automatisch ausgeschafft werden, ohne Rücksicht auf das Verschulden respektive die Höhe der auferlegten Strafe. Die so Verurteilten haben gar nicht mehr die Möglichkeit, Gründe vorzubringen, warum sie die Ausschaffung übermässig hart trifft und daran kein überwiegendes Interesse besteht. Das ist schlicht unerhört! – Ein Monstrum ist die Initiative auch aus formalen Gründen. Das Parlament hat ja inzwischen die Ausführungsgesetzgebung zur Ausschaffungsinitiative beschlossen. Es hat darin, weil durch die Verfassung verpflichtet, eine Härtefallklausel integriert. Statt ein Referendum gegen dieses Gesetz zu ergreifen, hat die SVP die Durchsetzungsinitiative beschlossen, die weit über die ursprünglichen Forderungen der Ausschaffungsinitiative hinausgeht. Resultat: Wir haben zwei Verfassungsbestimmungen und eine Ausführungsgesetzgebung, die sich teilweise widersprechen.
Stimmt es, dass der Ausweisungs-Automatismus vor allem die Secondos hart trifft?
Ja, das stimmt. Eine spezielle Bestimmung der Volksinitiative will das so. Sie legt fest, dass jemand, der in den letzten zehn Jahren aus welchem Grund auch immer zu einer Freiheitsstrafe oder Geldbusse verurteilt worden ist, automatisch ausgeschafft werden muss, wenn er sich erneut etwas hat zuschulden kommen lassen. Weil da auch Bagatellstraftatbestände eingeschlossen sind, trifft das Secondos besonders hart. Denn unter Umständen kennen diese im Land, in das sie ausgewiesen werden sollen, keinen einzigen Menschen, vielleicht auch nicht einmal dessen Sprache.
Haben Sie ein Beispiel?
John, ein junger Engländer, ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. John wurde als junger Erwachsener wegen Haltens einer Haschischpflanze bestraft. Jahre später wird er wegen einfacher Körperverletzung angeklagt. Es handelt sich um einen leichten Fall, er wird zu einer Busse verurteilt. John ist inzwischen mit einer Schweizerin verheiratet und hat zwei Kinder mit ihr. All dies hilft ihm allerdings nichts: Er wird automatisch des Landes verwiesen. Die Initiative wird also auch Familien auseinanderreissen. Es gilt zu bedenken: 2014 heirateten rund 23 Prozent der Schweizer/innen hierzulande ausländische Staatsangehörige.
Sie haben den Ausweise-Automatismus als mit der Politik von Putin vergleichbar kritisiert. Was meinen Sie damit?
Letztlich geht es mit dem Automatismus darum, die Gerichte auszuhebeln. Man will die dritte Gewalt ausschalten, die von der Verfassung verpflichtet ist, jeden Einzelfall abzuwägen und das Prinzip der Verhältnismässigkeit zu beachten. Man will weg von der Europäischen Menschenrechtskonvention, der EMRK. Eine weitere SVP-Initiative, die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative, sieht ja vor, dass bei einem Widerspruch zwischen Bundesverfassung und EMRK die Schweiz letztere kündigen müsste. Das ist dieselbe Politik, wie sie Putin verfolgt. Nur geht Putin diplomatischer vor: Er hat die EMRK nicht gekündigt, sondern ein Gesetz erlassen, das bei Widersprüchen zwischen russischer Verfassung und EMRK festlegt, dass erstere jeweils Vorrang hat.
Wenn Sie Ihr Nein zur Durchsetzungsinitiative zusammenfassen müssten …
Es geht bei dieser Abstimmung nicht um die Frage, ob Ausländer/innen, die hierzulande mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, in der Schweiz bleiben können oder nicht. Es geht vielmehr um die Frage, ob diesen Personen das Recht zusteht, zur Landesverweisung überhaupt angehört zu werden. Und es geht darum, dass abgeklärt werden kann, ob ein Härtefall vorliegt, der einen ausnahmsweisen Verbleib in der Schweiz rechtfertigt. Der von der Durchsetzungsinitiative unabhängig von der Strafhöhe vorgesehene Ausweise-Automatismus ist unmenschlich.
Ewald Ackermann, SGB