Begegnung mit dem ehemaligen Co-Präsidenten der Unia
Von der Basis an die Spitze der Gewerkschaft
Ende Juni hat Renzo Ambrosetti das Co-Präsidium der Unia abgegeben. Im Interview blickt er zurück auf seine Tätigkeit in der Unia und deren Entstehung. Und er analysiert den heutigen Arbeitsmarkt.
kontakt.sev: Es ist bekannt, dass Renzo Ambrosetti seit Ende Juni nicht mehr Co-Präsident der Unia ist. Nicht alle wissen aber, dass deine Familie mit der Bahn ziemlich eng verbunden ist.
Renzo Ambrosetti: In der Tat bin ich in vier Generationen der Einzige, der einen anderen Weg eingeschlagen hat. Mein Grossvater und mein Vater haben bei der SBB gearbeitet, und jetzt auch mein Sohn. Mein Vater erhielt vom SEV ein Stellenangebot, das er aber schliesslich ablehnte.
Du bist also nahe an der Gewerkschaft aufgewachsen.
Natürlich, die Diskussionen über die Gesellschaft und all ihre Aspekte waren in und ausserhalb der Familie immer wichtig. So trat ich denn 1978 nach dem Abschluss des Jusstudiums, als ich nicht Anwalt werden wollte, eine Stelle beim Smuv* in Lugano an. Dort bin ich von der Pike auf Gewerkschafter geworden.
Auf diesem Weg hast du es weit gebracht …
Ich bin aber auch 37 Jahre lang diesen Weg gegangen. Ich wurde Regionalsekretär, kantonaler Sekretär, kam 1994 in die nationale Smuv-Leitung und wurde 2000 zum Smuv-Präsidenten gewählt. 2004 kam die Fusion mit der GBI zur Unia, bei der ich bis letzten Monat Co-Präsident war.
Du hast aber auch internationale Mandate ausgeübt?
Ja, 2007 wurde ich Präsident des europäischen Metallgewerkschaftsbundes EMB. Meine Erfahrung mit Unia erlaubte mir, im Prozess der Fusion mit den Bereichen Textilien und Chemie eine wichtige Rolle zu spielen. 2011 entstand die IndustriAll, ein europäischer Gewerkschaftsbund mit sieben Millionen Mitgliedern, bei dem ich Vizepräsident bin. Ich bin auch im Exekutivausschuss des Weltdachverbands der Gewerkschaften der Industrie.
Wie kann eine Gewerkschaft auf diesen Ebenen agieren?
Ich muss vorausschicken, dass ich in diesen Dachverbänden keine operative Rolle spiele, denn dafür ist der Generalsekretär mit seinen Leuten zuständig. Das Präsidium hat mehr strategische Aufgaben. Auf europäischer Ebene koordiniert der Sekretär die nationalen Vertragspolitiken, die oft sehr verschieden sind. Er definiert Industriestrategien in Europa, erarbeitet Rahmenverträge und koordiniert die Tätigkeit der Betriebskommissionen der multinationalen Konzerne. Nicht zuletzt unterstützen wir die Gewerkschaften osteuropäischer Länder, denn sie waren auf die Veränderungen, die das kapitalistische System mit sich brachte, sehr schlecht vorbereitet.
Kann man dort überhaupt etwas gegen Arbeitsbedingungen tun, die bei uns als Dumping gelten, in anderen Ländern aber als Chance für die Entwicklung?
In solchen Fällen muss man auf die Solidarität und Kompensationen setzen. Das gelingt aber nicht immer, auch weil manchmal die Gewerkschaften selber nur ihr eigenes Gärtchen pflegen. Wichtig ist vor allem, zu verhindern, dass die Armen gegeneinander Krieg führen, was niemandem nützt. Ein anderer Aspekt, der in unsern Ländern oft vernachlässigt wird, ist, dafür zu sorgen, dass Verlagerungen, wenn sie nicht verhindert werden können, wenigstens den Ländern, wohin sie erfolgen, wirkliche Entwicklungschancen bieten, auch bei den Arbeitsbedingungen. Die Entscheidzentren bleiben oft bei uns, und hier werden auch die Produkte der verlagerten Betriebe vermarktet. Deshalb ist es wichtig, hier bei uns zu handeln, Image-Komponenten ins Spiel zu bringen und auch auf unsere Regierungen Druck zu machen. Solche Verbindungen zwischen Gewerkschaften sind sehr wesentlich und wirken in zweierlei Hinsicht positiv: Sie helfen, die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen und damit die Lebensbedingungen in diesen Ländern zu verbessern und verringern die Ungleichheiten im Wettbewerb mit unseren Ländern.
In der Schweiz leidet das Tessin besonders stark unter den Folgen der Personenfreizügigkeit.
Die Personenfreizügigkeit ist in einem der sieben bilateralen Abkommen mit der EU geregelt. Diese Verträge sind für ein Land, das zwei Drittel seiner Produktion nach Europa exportiert, sehr wichtig. Ohne sie wäre es zum Beispiel für Stadler viel schwieriger, Züge nach ganz Europa zu exportieren. Die Personenfreizügigkeit ist aber zweifellos eine heikle Sache. Um die negativen Auswirkungen einzugrenzen, haben wir in der Schweiz flankierende Massnahmen, wie sie anderswo fehlen, obwohl es dort noch schlimmere Dumping-Erscheinungen gibt. Zum Beispiel denkt man auf europäischer Ebene erst jetzt über eine Revision der Gesetze zu den entsandten Arbeitskräften nach.
Im Tessin werden aber immer wieder krasseste Dumpingfälle bekannt, wie neulich jener eines Reisebüros in Chiasso, das 9 Franken Stundenlohn bezahlte …
Dass diese Erscheinungen zunehmen, hat mehr mit der Verrohung der Arbeitswelt und der Aufgabe jeder ethischen Rücksichtnahme seitens der Arbeitgeberschaft zu tun als mit der Personenfreizügigkeit an sich. Der besagte Fall betrifft ein multinationales, börsenkotiertes Unternehmen mit Milliardenumsatz, das bei den Löhnen knausert und sich a priori weigert, einheimisches Personal anzustellen. Nach meiner Meinung sind dies Firmen, auf die unser Kanton verzichten kann und muss, auch um den gesunden und ehrlichen Teil seiner Wirtschaft zu schützen, der unter der illegalen Konkurrenz unfairer Praktiken leidet.
Hast du als Tessiner in Bern nicht den Eindruck, dass es diesseits des Gotthards etwas an Sensibilität für die Probleme des Tessins fehlt?
Ja, doch sind wir Tessiner daran auch ein wenig selber schuld, denn wir sind selten imstande, klare Forderungen zu präsentieren. Und die Bundesratsmitglieder regelmässig zu beschimpfen, wie es die Lega in ihrem Sonntagsblatt tut, ist kaum geeignet, diese für unsere Probleme zu sensibilisieren. Doch es ist sicher noch zu wenig bekannt, welche Zustände bei uns herrschen, in unserem Dreieck, eingekeilt in der Lombardei, wo schwere wirtschaftliche Probleme immer mehr Menschen dazu zwingen, jede Art von Ausnutzung zu akzeptieren. Neulich lobte ein hoher Seco-Beamter das Potenzial für Tessiner Firmen, in der Lombardei aktiv zu werden. Er schien völlig zu ignorieren, auf welche bürokratischen Hürden Firmen, die dies versucht haben, gestossen sind, ganz zu schweigen von Einschüchterungen durch Pneuaufschlitzen usw. Das macht mir Sorgen. Wir stehen, glaub ich, an einem wichtigen Scheideweg: Entweder können wir wieder für Ordnung sorgen, oder dann wird sich das Gesetz des Dschungels durchsetzen.
Bist du nicht ein bisschen gar pessimistisch?
Die Verhältnisse werden immer komplexer und verworrener. Ein Beispiel: In einigen Branchen haben wir ein Kautionssystem eingeführt, damit allenfalls nicht einbezahlte Sozialbeiträge usw. gedeckt sind. Kaum stand die Regel, wurde sie schon umgangen: Mithilfe gefälliger Treuhänder wurden Scheingesellschaften wie SAGL gegründet, mit bis zu 20 Prozent Angestellten, die Vollzeit arbeiten. Es ist fundamental wichtig, die flankierenden Massnahmen zu verbessern, insbesondere die GAV-Anwendung auszudehnen und die Kontrollinstrumente zu verbessern, wie von den Gewerkschaften gefordert, statt Massnahmen wie höhere Steuern für die Grenzgänger zu ergreifen, die auf Rache an den Schwächsten hinauslaufen.
Warum werden die flankierenden Massnahmen nicht verbessert?
Die Arbeitgeber leisten dagegen starken Widerstand und behaupten, die Gewerkschaften hätten schon zu starken Einfluss auf den Arbeitsmarkt, obwohl es konkrete Beweise dafür gibt, dass unsere Forderungen berechtigt sind. Im Tessin haben wir etwa 15 Normalverträge erreicht, die Mindestlöhne festlegen (wenn auch vielleicht zu tiefe) und Arbeitszeitvorschriften, die uns die Möglichkeit geben, konkret zu intervenieren. Dass Ende 2013 der politische Wille fehlte, diese Massnahmen zu verbessern, hat dazu beigetragen, dass am 9. Februar 2014 die Initiative der SVP angenommen wurde. Falls Bundesrat und Arbeitgeber von griffigeren Massnahmen weiterhin nichts wissen wollen, fürchte ich, dass das Volk diese Haltung der Abschottung bestätigen wird, wenn es über die Beziehungen mit der EU abstimmen wird. Das hätte desaströse Folgen für die ganze Wirtschaft.
Du bist einer der Baumeister der Fusion von Smuv und GBI, deren Verhältnis nicht wirklich idyllisch war. Wie hast du das geschafft?
Zwischen den beiden Organisationen gab es tatsächlich einen gewissen Gegensatz, doch in beiden ist allmählich das Bewusstsein gewachsen, dass auf ihre traditionellen Branchen, Industrie und Baugewerbe, eine Redimensionierung zukam und dass es nötig sein würde, sich der «gewerkschaftlichen Wüsten» im Dienstleistungssektor anzunehmen. So entstanden erste Gedanken und später die Idee, eine neue Gewerkschaft zu gründen. Die Schwierigkeit dabei war, eine Struktur zu finden, die der Autonomie der verschiedenen Branchen im Smuv und der dirigistischeren Organisation der GBI (die vor allem die Baubranche vertrat – auch von daher dieser Unterschied) Rechnung trägt.
Diese Welten zusammenzubringen war nicht einfach.
Es ist uns gelungen, indem wir vier Sektoren bildeten, die je über ihre Autonomie verfügen, aber bei wichtigen Kämpfen gemeinsam agieren und sich gegenseitig unterstützen, wie zum Beispiel Ende Juni bei der nationalen Kundgebung für den Landesmantelvertrag im Bau. Nach elf Jahren wage ich zu sagen, dass Unia eine Erfolgsgeschichte ist. Denn um diese Gewerkschaft kommt man heute in der schweizerischen Sozialpolitik nicht herum.
Eine Besonderheit in dieser Geschichte war, dass Smuv und GBI beide durch einen Tessiner geleitet wurden.
Das ist ein wichtiges Detail, denn damit standen Vasco (Pedrina – Red.) und ich unter einem gewissen Druck weil wir nicht wollten, dass es heissen würde, zwei Tessiner hätten dieses Projekt zum Scheitern gebracht. Aber es trug auch zur Verständigung bei (lacht): Ich erinnere mich an spannungsgeladene Sitzungen, in denen wir plötzlich im Leventiner Dialekt zu sprechen begannen, uns einig wurden und dann noch die andern in einer offiziellen Sprache einigen mussten.
Die Bedeutung der Unia ist unbestritten. Droht sie damit aber nicht im SGB eine Vormachtrolle zu spielen?
Meiner Meinung nach spielen die anderen Verbände auf jeden Fall weiterhin eine wesentliche Rolle. Natürlich hat die Unia im SGB ein gewisses Gewicht, da sie ja mehr als die Hälfte der SGB-Mitglieder stellt. Was mich betrifft, habe ich die Autonomie der Sektoren in unserer Organisation immer beibehalten wollen und finde es daher richtig, die Autonomie der andern Verbände zu verteidigen. Ich denke auch nicht, dass die Unia kurzfristig weitere Branchen integrieren könnte. Paul Rechsteiner leistet ausgezeichnete Arbeit, was die Integration der verschiedenen Verbände im Dachverband betrifft, in dem der SEV stets eine erstrangige Rolle gespielt hat und weiter spielt. Es kommt vor, dass die einzelnen Verbände ihre Grenzen nicht erkennen, was ihnen schaden kann. Das beste Beispiel für Zusammenarbeit ist der Streik im Industriewerk Bellinzona, bei dem der SEV die branchenspezifischen Kenntnisse einbrachte und Unia die materiellen Ressourcen für die Aktion.
Wäre eine Konföderation nicht ein besseres Modell?
Ich bin ein überzeugter Befürworter der heutigen Struktur, die sich durch gewerkschaftliche Vielfalt auszeichnet und durch Offenheit gegenüber anderen Arbeitsrealitäten, die noch nicht in die Gewerkschaftswelt integriert werden konnten. In Italien gibt es mit dem föderalen Modell viele Probleme, zum Beispiel mit den Gegensätzen in der CGIL zwischen den Metallarbeitern der FIOM und den andern Verbänden.
Gibt es nicht Doppelspurigkeiten zwischen der Arbeit der Unia und jener des SGB?
Es ist nur eine Frage der Koordination, ich sehe da keine grossen Probleme. Es gibt allgemeine Fragen wie die Vorlage «Altersvorsorge 2020», um die sich der SGB kümmert, und solche, die unsere Sektoren betreffen und von der Unia bearbeitet werden. Bei einer dritten Art von Problemen, die uns sehr stark betreffen, wie etwa bei jenen aufgrund der Euro-Schwäche, arbeiten wir eng zusammen.
Kann sich Renzo Ambrosetti wirklich zurückziehen und ein Rentnerleben führen?
Nun ja, bis nächstes Jahr behalte ich meine internationalen Mandate und bleibe Präsident des Sektors Immobilien der Unia. Ich verfolge weiterhin die flankierenden Massnahmen und die Tätigkeit der paritätischen und tripartiten Kommissionen und präsidiere weiter die (kantonale) Associazione interprofessionale di controllo AIC, die sich um die Kontrolle entsandter Arbeitskräfte kümmert. Und ich möchte auch ein wenig Grossvater sein.
Pietro Gianolli / Fi
* Smuv = Schweiz. Metall- und Uhrenarbeiterverband, 1992 umbenannt in Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen, wobei die Abkürzung Smuv beibehalten wurde.
BIO
Renzo Ambrosetti (62) wurde in Basel geboren, wo sein Vater seine Bähnlerkarriere begann, in der er es bis zum Inspektor des Bahnhofs Bellinzona brachte. Renzo Ambrosetti wuchs dann im Kanton Tessin auf und studierte Jus in Zürich.
Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und pendelt zwischen Monte Carasso und Bern hin und her. Demnächst wird er in Lugano ein Büro haben.
Hobbys: die Berge und der Sport im Allgemeinen.
Kommentare
Remo Armati 28/07/2018 10:11:33
Ciao Renzo, ho letto l’intervista sulla tua carriera. Ne hai fatta di strada, complimenti. Ora leggo che continuerai par-time. Mi trovo in Verzasca e spulciando a destra e a manca ho intravisto una tua foto e quindi l’intervista. Adesso goditi la pensione che tu qualcosa di serio hai dato. A presto