Ausblick ins neue Jahr
«Es geht um Gerechtigkeit, und die geht uns alle an»
Nach einem intensiven 2014 geht dem SEV die Arbeit auch im 2015 sicher nicht aus. Giorgio Tuti, SEV-Präsident und Vizepräsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB, erklärt warum.
kontakt.sev: Mit welchen Gedanken und Gefühlen bist du nach der Festtagspause und dem Jahreswechsel zur Arbeit zurückgekehrt?
Giorgio Tuti: Das vergangene Jahr war – aber sicher nicht nur für mich – ein sehr intensives und stark beladenes Jahr. Wir haben gewerkschaftlich und politisch viel geleistet und dabei auch einiges erreicht, auf das wir stolz sein können. Ich war ein paar Tage mit meiner Familie weg und bin sehr gut erholt und voller Tatendrang ins Zentralsekretariat zurückgekehrt. Also mit guten Gefühlen, weil ich auf ein sehr motiviertes, professionelles Team und zahlreiche hervorragende Milizler/innen zählen kann und mit klaren Vorstellungen, was wir alle zusammen zu tun haben werden und was wir dabei erreichen wollen.
Der SEV-Vorstand hat im Dezember 25 Jahresschwerpunkte für 2015 festgelegt (siehe kontakt.sev 24/2014, Seite 2). Unter den elf gewerkschaftlichen Schwerpunkten figuriert an erster Stelle das Vorantreiben von Werbung und Sektionscoaching: Wo siehst du da den Schlüssel zum Erfolg?
Wir haben zwar die Arbeitsschwerpunkte nicht priorisiert, aber ja, die Mitgliederwerbung steht bei jeder Gewerkschaft zuoberst, so auch beim SEV. Er ist mit seinen acht Unterverbänden und über 150 Sektionen eine ausgeprägte Milizorganisation, die auf das Prinzip «Mitglied wirbt Mitglied» setzt. 80 Prozent aller Neumitglieder werden durch Mitglieder geworben, und das soll auch weiterhin so bleiben. Das Sektionscoaching haben wir als Projekt gestartet, um eben unsere Milizorgane zu unterstützen, sei es bei ihren Aktivitäten wie auch bei der Mitgliederwerbung. Und es zeigt sich schon jetzt, dass diese Art von Unterstützung der Sektionen sehr willkommen ist und einem Bedürfnis unserer Kolleginnen und Kollegen entspricht. Sehr gerne erwähne ich an dieser Stelle, dass der SEV im 2014 überdurchschnittlich viele Neumitglieder geworben hat und sich die Zahl der Austritte, vorwiegend aufgrund von Wechseln aus dem öV in andere Branchen, im Rahmen hält. 2015 gehen wir auf diesem erfolgversprechenden Weg weiter.
Inwiefern betrifft die SGB-Frauendemo vom 7. März auch die SEV-Männer?
Bei der Demo vom 7. März geht es einerseits um Lohngleichheit bzw. um die Bekämpfung von Lohndiskriminierung und andererseits darum, gegen eine Erhöhung des Rentenalters für die Frauen zu protestieren. Es ist kaum zu glauben, aber leider immer noch so: Frauen verdienen für die gleiche Tätigkeit immer noch weniger als Männer, einfach weil sie Frauen sind. Das ist eine unerhörte Frechheit, diese Ungleichheit gilt es zu bekämpfen und ein für allemal zu beseitigen. Das ist nicht nur eine Frauenangelegenheit. Es geht um Gerechtigkeit, und die geht uns alle an, das ist auch Männersache. Der SEV wird für diese Demo sehr viele Kolleginnen, aber eben auch Kollegen mobilisieren und dazu einladen, am 7. März auf dem Bundesplatz stark, sicht- und hörbar aufzutreten gegen diese Diskriminierung.
Wird der SEV-Kongress vom 28. Mai mehr als ein normaler Arbeitskongress?
Ich hoffe auf einen interessanten und aktiven Kongress mit guten Debatten und Beschlüssen für die nächsten zwei Jahre. Wir sind aktuell daran, ihn minutiös vorzubereiten, nebst den statutarischen Geschäften auch inhaltlich. Dazu werden Positionspapiere zu gewerkschaftlichen und politischen Themen ausgearbeitet und Inputreferate von externen Referentinnen und Referenten geplant, inklusive anschliessende Debatten. Obwohl der Kongress 2015 «nur» ein eintägiger Kongress ist, soll er sicher nicht weniger interessant und wichtig werden.
Wo liegen für dich die Prioritäten im Bereich der Vertragspolitik?
Unser oberstes Ziel ist und bleibt: Alle Unternehmen des öffentlichen Verkehrs unterstehen einem GAV! Daran arbeiten wir seit 2001 hartnäckig und mit gutem Erfolg, denn es fehlen nicht mehr viele GAV. Dabei sind die Prioritäten klar gegeben: bestehende GAV weiterentwickeln – nach der SBB sind nun die BLS und die RhB dran – und neue GAV abschliessen, vor allem auch bei den kleineren Unternehmungen im Güterverkehr, mit dem Ziel, eine hundertprozentige GAV-Abdeckung zu realisieren.
Sozialpolitisch stehen weiterhin die Reform «Altersvorsorge 2020» von Alain Berset und die Stärkung der AHV im Zentrum.
Bei der «Altersvorsorge 2020» wird es in erster Linie darum gehen, Leistungsverschlechterungen und eine Erhöhung des Rentenalters zu verhindern. Dagegen werden wir zusammen mit dem SGB mit aller Kraft antreten. Sozialpolitisch wird es aber auch um unsere AHVplus-Initiative gehen, die einen Zuschlag auf die AHV-Renten in der Höhe von 10 Prozent verlangt. Das würde bedeuten, dass die durchschnittlichen AHV-Renten für Alleinstehende um 200 Franken und jene für Ehepaare um 350 Franken steigen. Und das ist kein Luxus. Seit 1975 sind die AHV-Renten real nicht mehr erhöht worden. Es ist überfällig, dass dies nun geschieht.
2015 kommt auch die Erbschaftssteuer-Initiative vor das Volk …
Wird diese Initiative, die wir unterstützen, angenommen und die Steuer auf Erbschaften über zwei Millionen Franken eingeführt, ist der AHV-Zuschlag auf die Renten schon zu zwei Dritteln bezahlt. Ich fände es richtig und anständig, wenn diejenigen, die an grosse Erbschaften kommen davon auch etwas an die Allgemeinheit abgeben würden.
Daneben will der SEV-Vorstand auch die SGB-Resolution «Endlich zahlbare Krankenkassenprämien – höhere Prämienverbilligungen» unterstützen.
Da die Krankenkassenprämien immer mehr auf die Haushaltsbudgets drücken, will der SGB zwei Ziele in die Politmühle einspeisen: Als erstes Ziel fordert er, dass kein Haushalt für Krankenkassenprämien mehr als zehn Prozent des Einkommens aufwenden muss. Danach soll endlich das Sozialziel des heutigen Krankenversicherungsgesetzes eingelöst werden, so wie es in den 1990er-Jahren formuliert wurde: Kein Haushalt soll mehr als acht Prozent des Einkommens für Krankenkassenprämien aufwenden müssen. Beide Ziele erfordern höhere Prämienverbilligungen. Längerfristig sind einkommensabhängige Krankenkassenprämien anzustreben, wie es eigentlich zu einer Sozialversicherung gehören würde. Affaire à suivre!
Unter dem Stichwort Verkehrspolitik hat der SEV-Vorstand sechs Schwerpunkte verabschiedet. Wie stark kann und will sich der SEV im Referendumskampf gegen die zweite Gotthard-Strassenröhre engagieren?
Der SEV hat sich für Fabi (Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur) sehr stark eingesetzt, finanziell wie auch personell. Der Vorstand hat beschlossen, dass wir uns auch gegen die zweite Röhre engagieren werden. Eine zweite Gotthard-Strassenröhre zu bauen, um nach der Sanierung der ersten Röhre wieder zwei Fahrspuren zu schliessen, daran glaubt niemand. Sollte dieser Tunnel gebaut werden, würde er sehr viele zusätzliche Lastwagen anziehen, und das wollen wir nicht. Diese Gütertransporte gehören gemäss Verlagerungsziel auf die Schiene!
Warum bekämpft der SEV die Initiative «Pro Service public», wo er sich doch sonst für den Service public immer stark macht?
Klar ist der SEV für einen starken, qualitativ hochstehenden Service public. Die Initiative stärkt aber den Service public nicht. Sie schwächt ihn, trotz des schönen Titels. Und genau aus diesem Grund sind wir gegen diese Initiative. Nach ihrer Annahme wären Quersubventionierungen verboten. Das heisst, dass die SBB Gewinne im Fernverkehr oder bei den Immobilien nicht mehr verwenden könnte, um weniger rentable Dienstleistungen, wie z. B. im Regionalverkehr, mitzufinanzieren. Das hätte verheerende Auswirkungen auf die Leistungen einer integrierten Unternehmung wie der SBB. Es würde dazu führen, dass nicht rentable Dienstleistungen gestrichen werden müssten. Das widerspricht dem Grundsatz des Service public, wie wir ihn definieren und wollen. Nämlich hochstehende, flächendeckende und sichere Dienstleistungen zu einem angemessenen Preis.
Warum will der SEV mit dem SGB erneut eine Service-public-Tagung durchführen?
Der SEV war in dieser Sache schon 2013 sehr aktiv und hat die Idee einer Service-public-Tagung stark mitgeprägt. Dabei war für mich aber immer klar, dass dies nur ein Anfang sein kann, denn künftig werden die Service-public-Gewerkschaften viel stärker zusammenspannen und gemeinsam für die Stärkung bzw. gegen den Abbau des Service public kämpfen müssen.
Wie stellst du dir den SEV im nächsten Jahrzehnt vor?
Als weiterhin grösste und stärkste Gewerkschaft des öffentlichen Verkehrs, die mit hohen Organisationsgraden in den einzelnen Betrieben des öV gute Gesamtarbeitsverträge aushandelt und für gute Arbeits- und Lebensbedingungen für die Mitglieder sorgt. Ich stelle mir den SEV weiterhin als kompetenten, repräsentativen und glaubwürdigen Player in der Welt des öffentlichen Verkehrs vor. Und zwar gegenüber den Unternehmungen, der Politik und den Behörden in der Schweiz und in Europa. Der SEV wird aber auch weiter an einer starken Positionierung im SGB und in der Europä-ischen Transportarbeiter-Föderation ETF arbeiten und auch offen bleiben für zukünftige Kooperationen mit anderen Gewerkschaften des Service public. Denn wir alle haben ein grosses Interesse daran, zusammen den Service public zu stärken.
Fragen: Markus Fischer