Gewerkschaftssekretär Olivier Barraud verlässt den SEV
Vom Gewerkschaftsprofi zum Personalchef
Nach zehn Jahren beim SEV verlässt Gewerkschaftssekretär Olivier Barraud das Gewerkschaftsschiff Ende Oktober. Wir unterhalten uns mit einem charakterstarken Mann, Sohn und Enkel von Eisenbahnern, der nun Personalverantwortlicher der ORIF (Westschweizer Organisation für Bildung und berufliche Integration) wird. Mit 37 Jahren nimmt er eine neue Herausforderung an und hofft gleichzeitig, die Berufstätigkeit, das Familienleben und das politische Engagement besser in Übereinstimmung bringen zu können. Ohne Umschweife spricht er über seine Vergangenheit und seine Zukunft.
kontakt.sev: Olivier, du bist Sohn und Enkel von Eisenbahnern, hast zwölf Jahre bei der SBB gearbeitet, danach zehn Jahre beim SEV. Verlässt du die Welt des öffentlichen Verkehrs, um in zehn Jahren mit neuer Kraft zurückzukommen?
Olivier Barraud: (lacht …) Vor zehn Jahren wusste ich nicht, was ich in zehn Jahren tun würde … aber ich habe nichts ausgeschlossen, wie ich nie etwas ausschliesse … Möglicherweise komme ich einmal in die Welt des Verkehrs zurück, aber ich habe keine Ahnung, ob, wann, wie und wo das der Fall sein könnte!
Du gehst zur ORIF, der Westschweizer Organisation für Bildung und berufliche Integration, wo du HR-Verantwortlicher wirst. Ein ziemlich schroffer Wechsel, immerhin wechselst du «die Seiten». Warum?
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Veränderung so gewaltig sein wird – immerhin wird weiterhin der Mensch im Zentrum meiner Arbeit stehen. Ich glaube, dass man das Gebiet der «menschlichen Ressourcen» (HR, Human Ressources) auch bearbeiten kann, ohne das «Menschliche» und die Frage der «Ressourcen» als Gegensatz zu sehen. Die Herausforderung ist es, diese beiden
Aspekte miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Es gibt nicht nur Betriebe, in denen die Angestellten unglücklich sind – zum Glück! Ich bin überzeugt davon, dass die Unternehmen immer mehr Sorgfalt auf die Pflege ihres «Humankapitals» legen müssen, weil die Arbeitskräfte einerseits wegen der Alterung der Bevölkerung, andererseits wegen der restriktiven Einwanderungspolitik immer rarer werden.
Siehst du somit deine Aufgabe beim ORIF als eine Art Fortsetzung deiner gewerkschaftlichen Aktivitäten?
Nein! Ich bin wie ein Gastrokritiker, der sich selbst hinter den Herd stellt. In meinen zehn Jahren als Gewerkschaftssekretär habe ich Dutzende Arten der Personalführung kennengelernt. Ich habe zahlreiche Personalpolitikprojekte begleitet. Manche habe ich bekämpft, weil ich sie schlecht fand, andere habe ich unterstützt, weil sie gut waren. Wenn ich mich jetzt an den Herd stelle, will ich das bestmögliche Menu zubereiten.
In ein paar Jahren wird man also sehen, ob deine Angestellten eine Magenverstimmung haben oder sich einer beneidenswerten Verfassung erfreuen. Du hast uns aber noch nicht verraten, warum du den SEV verlässt …
Meiner Meinung nach erleidet man als Gewerkschaftssekretär Abnützungserscheinungen. Das war auch nach 12 Jahren bei der SBB nicht anders. Als ich hier anfing, sagte ich mir, bei zwei Gelegenheiten Bilanz meiner Arbeit hier zu ziehen: nach zehn Jahren Berufserfahrung und bei der Geburt meiner Kinder …
Zufällig fällt bei dir beides zusammen …
Fast, ich bin zwar diesen Sommer zum zweiten Mal Vater geworden, aber ich war es schon seit zwei Jahren. Es ist offensichtlich, dass das Leben als Gewerkschaftssekretär – Abendarbeit, Wochenendarbeit und flexible Arbeitszeiten – mit dem Leben als frischgebackener Vater nicht kompatibel ist. Ich will in meiner Familie dabei sein und mich täglich einbringen. Das ist vorab ein natürliches Bedürfnis, aber es entspricht auch meinen Werten.
Findest du, dass sich der SEV und die Gewerkschaften ganz allgemein in diesen Fragen der Arbeitsorganisation ungeschickt anstellen, oder ist dies unvermeidlich?
Das ist kein Naturgesetz, und es ist widersprüchlich. Es ist ein Widerspruch wirtschaftlicher Art. Mit seinen niedrigen Mitgliederbeiträgen kann der SEV nicht mehr Personal anstellen und die Arbeit anders aufteilen. Es bleibt aber die Frage, wie die Arbeit verteilt wird. Wer acht VPT-Sektionen betreut, hat bald einmal zwei bis drei Abende pro Woche besetzt von Februar bis Ende Juni und von September bis Mitte Dezember. Für einen jungen Vater heisst das zu oft, dass er am Morgen das Haus verlässt, wenn die Kinder noch schlafen, und am Abend heimkommt, wenn sie schon wieder im Bett sind. An meiner neuen Stelle werde ich nicht weniger Arbeit haben – vielleicht sogar mehr –, aber wenigstens werde ich am Abend zu Hause arbeiten können. Ich werde also mit meinen Kindern abendessen und sie ins Bett bringen können.
Was hat dich zur ORIF geführt, einer Organisation, die zum Ziel hat, Personen mit angeschlagener körperlicher oder seelischer Gesundheit in die Berufswelt einzugliedern oder zu reintegrieren?
Es ist eigentlich eine Rückkehr zu meinen Wurzeln, denn ich war während rund zehn Jahren Begleiter in einer Organisation, die Ferienlager für junge Menschen mit Behinderung organisierte. Dort bin ich indirekt mit der ORIF in Berührung gekommen, weil die Jungen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Lehrstelle brauchten. Meine Grossmutter litt an MS und sass im Rollstuhl. Die Welt der Menschen mit Behinderung war mir also seit ganz klein nicht fremd. Diese Erfahrung ist tief in meinem Innersten drin.
n Aber auch dein gewerkschaftliches Engagement hat bei der Wahl eine Rolle gespielt …
Meine Arbeit als Gewerkschafter hat mich in der Überzeugung bestärkt, dass die berufliche Wiedereingliederung 70% der Integration in die Gesellschaft ausmacht. Viel wichtiger als der Lohn ist dabei die Arbeitsumgebung. Unter diesem Gesichtspunkt fördern die berufliche Bildung und Eingliederung die Kontakte und verhindern die Einsamkeit. Ich bin der Meinung, dass die vordringliche Aufgabe der IV die Förderung der Integration und Wiedereingliederung ist. Manche Leute haben wohlverstanden keine Wahl und müssen eine Rente erhalten, zumindest eine Teilrente. Ich identifiziere mich mit den Werten der ORIF und man kann deshalb sagen, dass mir das Umfeld nicht fremd ist. Und was die Personalführung betrifft, kann ich mein Scherflein sicher beitragen.
Zwanzig Jahre hast du in der Welt des Transportwesens verbracht. Wie siehst du sie?
Sicherlich wird mir diese Welt fehlen! Es ist aber auch gut, den Bereich mal zu wechseln, weil man sonst immer den gleichen Blick auf alles hat. Wenn man nie aus seinen Kreisen herauskommt, riskiert man, ein Opfer des Inselsyndroms zu werden und zu glauben, was man sieht, sei die ganze Welt.
In der Verkehrspolitik waren die Veränderungen der letzten Jahre brutal, indem von immer weniger Personal immer mehr Leistung erwartet wurde. Die Gewerkschaften wie auch der HR-Bereich müssen innovative Lösungen für die Herausforderungen der neuen Technologien finden mit ihrer Subito-Ideologie, gerade auch was die Arbeitszeit betrifft, wo die neuen Technologien das gesellschaftliche Leben unter Kolleg/innen nicht fördern.
Wie wird die Welt der Gewerkschaften in zehn oder fünfzehn Jahren aussehen?
Der gewerkschaftliche Gedanke ist eigentlich ein Anachronismus, denn indem er aufs Kollektiv setzt, ist er dem heutigen Kult des Individuums entgegengesetzt. Wir laufen dem vorherrschenden Denken komplett entgegen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Gewerkschaften stark sind. Ich habe etwas Angst, dass es uns geht wie den Lachsen, die mit aller Kraft flussaufwärts schwimmen und schliesslich sterben. Die Gewerkschaften müssen es schaffen, dem Trend zu widerstehen und dabei stark und wirksam zu bleiben. Im gewerkschaftlichen Umfeld sind wir mit dem beunruhigenden Trend eines massiven Mitgliederschwunds in verschiedenen Gewerkschaften konfrontiert. Für den SEV bin ich zuversichtlich, weil man dort die Funktionsweise einer Gewerkschaft genau beachtet: Die Aktivist/innen bilden seine Basis, begleiten seine Arbeit und entscheiden. Mit einem durchschnittlichen Organisationsgrad von 65% haben wir eine sehr gute Repräsentativität. Es gibt nicht eine «Elite», die für die Leute entscheidet. Es macht einen stolz, so zu arbeiten! Manchmal ist der Profi-Apparat etwas unzufrieden, weil die Basis in manchen Fragen eine andere Meinung hat, aber sie entscheidet am Ende. Diese Art der Problemlösung haben manche Gewerkschaften vergessen zugunsten einer Philosophie, die die politische Ideologie vor die Organisation der Lohnabhängigen stellt.
Hast du als Mann, der Auseinandersetzungen und klare Worte nicht scheut und der oft im Rampenlicht der nationalen Medien stand, wenn es um Fragen rund um die SBB ging, nicht etwas Angst, jetzt im Schatten zu verschwinden?
Sicherlich. Doch die 20 Jahre Erfahrung im Verkehrswesen verschwinden ja nicht einfach, und wenn die Medien meine Meinung wissen wollen, werde ich sie sagen. Und wenn nicht, kann ich damit leben. Aber meinem narzisstischen Wesen tut es immer gut, im Rampenlicht zu stehen (lacht). Es gibt einem Wertschätzung. Es ist ein Aspekt des Berufes, den ich liebe, aber ich werde sozialdemokratischer Politiker und Verkehrsmensch bleiben, der eine persönliche Meinung zu diesen Fragen hat. Vielleicht interessiert das die Medien. Und wenn nicht, ist es mir gleich. Das Ziel bleibt aber immer, die Dinge konkret zu bewegen, mehr als in den Medien zu erscheinen.
Als aktives Mitglied der Waadtländer SP bist du Mitglied der Legislative von Moudon. Für den Nationalrat bist du auf dem ersten Ersatzplatz. Wird eine schwächere Medienpräsenz nicht auch deine Wahlchancen mindern? Wie siehst du das?
Ich ziehe keinen Strich unter meine politische Karriere. Ob ich nächstes Jahr für den Nationalrat kandidiere, weiss ich noch nicht, ich habe noch nicht mit meinem Arbeitgeber darüber gesprochen. Aber grundsätzlich gebe ich die gewerkschaftliche Arbeit nicht auf, um eine andere mit ähnlichen zeitlichen Beschränkungen aufzunehmen. Der Nationalrat interessiert mich, wie auch der Grosse Rat oder die Exekutive von Moudon. In der Politik kann man keine unrealistischen Träume haben, das wäre der sicherste Weg, enttäuscht zu werden. Bevor man in eine Wahl steigt, muss man verschiedene Punkte abwägen: die Meinung der Familie, jene des zukünftigen Arbeitgebers, die Bedürfnisse der Partei usw.
Letzte Frage, die auch die erste hätte sein können: Verlässt du den SEV mit leichtem Herzen?
Ja. Ich gehe mit dem Gefühl, meine Aufgabe erfüllt zu haben. Während zehn Jahren habe ich mich dafür eingesetzt, die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen zu verbessern. Besonders stolz bin ich auf meinen Beitrag zur Rettung der CGN. Auch der neue GAV SBB und SBB Cargo mit den neuartigen Frührentenmodellen ist sehr gut. Es berührt mich, dass dank ihnen 10 000 eine Überbrückungsrente erhalten können, von der mein Vater nach 46 Jahren bei der SBB nicht profitieren konnte. Er ging mit 61 in Rente, ohne von seinem Arbeitgeber einen Rappen zu erhalten. Es ist eine absolute Schande, einen Mitarbeiter so zu behandeln, der soviel fürs Unternehmen getan hat. Drum ja, ich habe die Modelle mit Leib und Seele verteidigt.
Vivian Bologna / pan.