Gerichtsurteil zum tödlichen Unfall eines SBB-Mitarbeiters vom Januar 2009
SEV-Mitglied von Gericht freigesprochen
Fünf SBB-Mitarbeiter verschiedener Hierarchiestufen mussten sich Ende Mai vor dem Regionalgericht in Moutier wegen mutmasslicher fahrlässiger Tötung verantworten im Zusammenhang mit dem Unfall eines SBB-Angestellten, der bei Arbeiten in einem Tunnel im Berner Jura durch einen Stromschlag starb. Unter den Angeklagten war der damalige Teamleiter Pierre (Name geändert), der von SEV-Vertrauensanwalt François Contini verteidigt wurde. Dieser und Pierre selbst (Box) blicken auf den Strafprozess zurück.
Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit ein SBB-Mitarbeiter mit zwei Kollegen in den Pierre-Pertuis-Tunnel geschickt wurde, um Eiszapfen zu entfernen, und dabei tödlich verunfallte. Wegen dem Verdacht auf fahrlässige Tötung ermittelte die Berner Justiz gegen fünf SBB-Angestellte. Sie alle hat nun die Regionalrichterin in Moutier freigesprochen. Der damalige Teamleiter der drei vom Unfall betroffenen Kollegen – nennen wir ihn Pierre – hatte zwar unterlassen, ein Sicherheitsdispositiv zu erstellen und einen Sicherheitschef zu bestimmen. Doch die Richterin kam zum Schluss, dass auch ein bezeichneter Sicherheitschef das «unvorhersehbare Verhalten des Opfers», das sich in den Gefahrenbereich begab, nicht hätte verhindern können. Es gebe keinen Kausalzusammenhang, urteilte sie, wies aber auch darauf hin, dass «die Armada von Spezialisten» in den hohen Sphären der SBB vor dem Drama nichts daran auszusetzen hatte, dass die Fahrleitung für die Enteisungsarbeiten unter Strom blieb … Diese Praxis hat die SBB seither geändert. Was hält Pierres Verteidiger François Contini vom Gerichtsurteil?
kontakt.sev: François Contini, sind Sie überrascht, dass alle fünf Angeklagten freigesprochen wurden?
François Contini: Nein, ich bin nicht überrascht. Der Untersuchungsrichter hat eine sehr gute Idee gehabt, wie die Richterin betonte: Jemand ist gestorben, also müssen die Verantwortlichkeiten untersucht werden, und dabei genügt es nicht, nur die untersten Hierarchiestufen anzuschauen sowie den direkten Vorgesetzten des Opfers anzuklagen. Auch wenn dieser tatsächlich vergass, ein wichtiges Formular auszufüllen – denn ein Sicherheitsdispositiv zu erstellen heisst bei solchen Routinearbeiten vor allem, dass man ein Formular ausfüllt. Nein, man muss auch untersuchen, ob andere Leute in der Hierarchie hätten Massnahmen ergreifen können, um den Unfall zu verhindern. Dieser hat ja immerhin bewirkt, dass die SBB ihre Praxis änderte und entschied, dass bei Enteisungsarbeiten die Fahrleitung im Prinzip auszuschalten ist.
Der Untersuchungsrichter wollte in der Hierarchie suchen. Dennoch fragten sich gewisse Angeklagte, warum sie vor Gericht zu erscheinen hatten …
Die lobenswerte Idee, auch in der oberen Hierarchie nach Verantwortlichkeiten zu suchen, ist bei Untersuchungsrichtern leider nicht immer anzutreffen. Im vorliegenden Fall hat seine Untersuchung ein wenig darunter gelitten, dass er nicht wirklich eruiert hat, wer innerhalb der Hierarchie für die Arbeitssicherheitsfragen zuständig war. Er hat zwei Personen angeklagt, die offensichtlich nichts mit dem Unfall zu tun hatten, sowie zwei andere Personen, die dem Opfer direkt vorstanden, aber nicht in erster Linie für Sicherheitsfragen verantwortlich waren. Zudem hatte er die Anklageschrift besonders schlecht formuliert, denn er hatte ein Verb vergessen, sodass man nicht genau wusste, was er den Angeklagten vorwarf: Dass sie keine Regeln aufgestellt hatten? Dass sie Regeln nicht befolgt hatten? Oder dass sie deren Befolgung nicht kontrolliert hatten? … Mit einer so schlecht abgefassten Anklageschrift, die sich zum Teil gegen Personen richtete, die für Arbeitssicherheitsfragen eh nicht zuständig waren, konnte es nur auf Freisprüche für die anderen vier Angeklagten neben meinem Klienten hinauslaufen.
Für unseren SEV-Kollegen Pierre lag der Fall anders …
Bei ihm stellte sich eine andere Frage: Um ihn der fahrlässigen Tötung zu überführen galt es aufzuzeigen, dass seine Unterlassungen für den Unfall kausal waren, dass also der Unfall ohne Pierres Unterlassungen hätte vermieden werden können. Die Richterin verneinte aber klar, dass im vorliegenden Fall das Drama hätte vermieden werden können, wenn ein Sicherheitsdispositiv erstellt und ein Sicherheitschef bestimmt worden wären.
Hat der Prozess für Sie den schalen Nachgeschmack unvollendeter Arbeit?
Die Zeugenaussagen zahlreicher Personen, der Arbeitskollegen des Opfers und des Experten, der mit der Analyse des Unfalls beauftragt wurde, zeigen auf, dass eine der Hauptursachen des Unfalls im Verhalten des Verunfallten lag. Dieser missachtete unerklärlicherweise grundlegende Sicherheitsvorschriften, die ein Monteur, der im Umfeld einer elektrischen Leitung mit so grosser Spannung – 15 000 Volt – arbeitet, nicht missachten dürfte. Wir machen im Leben alle Fehler. Manchmal haben wir dabei Glück, und manchmal endet es tragisch.
Die Richterin hat ironisch bemerkt, «dass die Abwesenden immer Unrecht haben». Damit wollte sie betonen, dass es einfach ist, die ganze Schuld dem Opfer in die Schuhe zu schieben ...
Diese Gefahr besteht in der Tat. Die SBB trägt eine gewisse Verantwortung. Der Untersuchungsrichter hat sich gefragt, warum vor dem Drama keine Vorschriften erlassen wurden, die den Unfall verhindert hätten, und warum bei Enteisungsarbeiten die Fahrleitung unter Strom blieb. Das sind Fragen, die man sich stellen muss. Ich war überrascht, während dem Prozess von einem Verantwortlichen der Division Infrastruktur zu hören, er habe vor dem Unfall nicht gewusst, dass in den Tunneln Enteisungsarbeiten stattfinden. Und von einem Verantwortlichen der Region, er habe nicht gewusst, dass die Eiszapfen von der Plattform des Schienentraktors aus entfernt wurden, obwohl man es seit Jahrzehnten so machte. Man sieht also, dass es bei der SBB trotz aller Reglemente und Sicherheitsaudits offenbar einen Graben gibt zwischen dem, was die Basis lebt, und dem, was die Leute auf den höheren Hierarchiestufen wahrnehmen.
So betrachtet, hätte der Unfall zweifellos vermieden werden können, wenn mehrere Jahre zuvor Vorschriften erlassen und die Enteisungsarbeiten mit abgeschalteter Fahrleitung vorgenommen worden wären.
Pierre befindet sich weit unten in der Pyramide: Er war zum Zeitpunkt des Unfalls Teamleiter. Beim Prozess stand er im Mittelpunkt. Hätte er der ideale zweite «Schuldige» sein können?
Es wurde offenkundig, dass die SBB enorm viele Reglemente für alles hat. Um zu zeigen, dass er nicht verantwortlich war, verteilte einer der Angeklagten ein Reglement zur Führung seines Geschäftsbereichs: Es umfasste mit den Anhängen 120 Seiten … Was die Sicherheitsfragen betrifft, gibt es Reglemente über alles und nichts. Dies hat zur Folge, dass man sagt: «Wenn die Leute die Reglemente nicht einhalten, ist das ihr Problem.» So wird die Verantwortung ans untere Ende der Stufenleiter abgeschoben. Stattdessen müsste man diese Reglemente hinterfragen: Werden sie der Technik und den Arbeitsweisen von heute gerecht?
Zudem hat der Prozess aufgezeigt, dass es auch gut dotierte Sicherheitsteams gibt und dass diese ebenfalls betroffen sind: Sie müssen sagen, ob die besten Vorschriften und die wirksamsten Massnahmen ergriffen worden sind.
Konnte man fünf Jahre nach dem Unfall feststellen, dass sich die SBB des Problems bewusst geworden ist?
So tragisch der Unfall war, so rasch war die Reaktion der SBB: Schon eine halbe Stunde später verbot sie das Enteisen bei eingeschalteter Fahrleitung als Sofortmassnahme und hielt dies sechs Monate später als generelles Verbot in einem Reglement fest. Das Problem wurde befriedigend geregelt, zugunsten der Sicherheit des Personals. Aus der Tragödie wurden wirksam und rasch die Lehren gezogen.
Darum fragte der Untersuchungsrichter: Wenn die SBB nach dem Drama so schnell reagieren konnte, warum dann nicht schon vorher? Diese Frage bleibt offen.
Vivian Bologna / Fi