«Ich will weiterhin daran glauben»
Saverio Lurati hat seinen Rücktritt als Präsident des Gewerkschaftsbundes Tessin und Moesa auf die Delegiertenversammlung im Juni angekündigt. kontakt.sev schaut mit ihm zurück auf eine bewegte Zeit und blickt auf die heutige heikle Situation im Tessin und in der Schweiz.
kontakt.sev: Das mindeste, was man sagen kann: Du hast als Gewerkschafter 26 sehr bewegte Jahre erlebt!
Saverio Lurati:und Uhrenarbeiterverband), habe ich die Gründung der Unia mitgemacht. Ich denke, dass meine früheren Erfahrungen mir sehr geholfen haben, alle diese Veränderungen zu bewältigen.
Wie meinst du das?
Bis ich 38 war, habe ich im privaten Sektor gearbeitet. Nach einer Lehre als Autoelektriker habe ich die Ausbildung zum Flugzeugmechaniker gemacht und wurde dann Büroleiter mit 15 Angestellten, bevor ich Gewerkschaftsfunktionär wurde.
Was hat dich zu diesem Schritt bewogen?
Mit 26 Jahren habe ich mit linker Politik in meiner Gemeinde begonnen. Später hat mir der damalige GBH-Sekretär in Lugano vorgeschlagen, ich solle mich professionell mit Arbeitsthemen beschäftigen.
Heute scheint ein solcher Schritt praktisch unmöglich.
Zuerst war ich nicht einmal Mitglied einer Gewerkschaft, weil ich so überheblich war zu glauben, ich könne alle Probleme selber lösen. Als ich dann die Führung des Büros übernahm, in dem ich arbeitete, fand ich mich plötzlich unverhofft in der Situation, auch gewerkschaftlicher Vertreter "meines Personals" zu sein. Offensichtlich passte mir diese Aufgabe und ich konnte sie lösen, auch dank einem Gespür für den Spielraum, den ich mir bei Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber nehmen konnte.
Und dann hast du den Beruf gewechselt und wurdest Gewerkschafter in einem Bereich, wo du aber selbst gar nicht gearbeitet hattest.
Ich habe mich nicht aus ideologischen Gründen für diese Sekretär bei meinem Vorgesetzten intervenierte, ich solle meine Forderungen weniger scharf formulieren.
Hast du diesen Widerspruch innerhalb der Unia nicht mehr erlebt?
Nein! Es ist ein Zeichen dafür, dass die Unterschiede eher aus dem gewerkschaftlichen Apparat stammen als von den Arbeiterinnen und Arbeitern. Ich habe als Werber auf den Baustellen und an den Arbeitsplätzen begonnen, und die Kolleginnen und Kollegen haben mich, wohl auch wegen meines Werdegangs, immer als einen der ihren betrachtet. Nach der Gründung der Unia wurde ich auch im Industriesektor sehr gut aufgenommen. Ich glaube, es geht wirklich darum, dass man die jeweiligen Probleme begreifen will; das ist wichtiger als die Fähigkeit, immer eine Lösung zu finden.
Wie kann man es heute unter einen Hut bringen, den immer komplexeren Herausforderungen des Wirtschaftssystems zu begegnen und auf die alltäglichen Bedürfnisse zu reagieren?
Die Gewerkschaften brauchen Leute mit soliden beruflichen Erfahrungen. Das hat allerdings seinen Preis. Es braucht auch Leute mit einer akademischen Ausbildung, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der generellen Strategien leisten können. Aber wir brauchen wirklich Leute «von der Front».
Hast du nicht den Eindruck, dass Leute, die im Beruf eine gewisse Position erreicht haben, sich schwer damit tun, über den Graben zu springen und zur Gewerkschaft zu wechseln?
Ich glaube, dass unter den fortschrittlichen Kräften viele dazu bereit wären und wir Gefahr laufen, sie nicht mehr zu entdecken. So hat es in den Gemeinden viele Leute, die sich bereits für eine Haltung entschieden haben und sich nicht scheuen, ihre Meinung zu sagen, und zwar in ganz konkreten alltäglichen Anliegen. Ich finde, es fehlt den Linken und Fortschrittlichen in unserem Land an Emotionen; sie sind zwar sehr stark auf intellektuellem und konzeptionellem Niveau, aber es fehlt die Fähigkeit, sich mit der alltäglichen Realität der Leute zu beschäftigen, die arbeiten. Damit öffnet sich das Feld für jene mit den populistischen Ideen, die sich auch deswegen ausbreiten können, weil der Zusammenhalt unter der arbeitenden Bevölkerung fehlt.
Das sollte eine Aufgabe der Gewerkschaften sein.
Sicher, aber auch die aktuelle Struktur des Gewerkschaftsbundes mit unter sich nahezu hermetisch abgeschlossenen Verbänden ist meines Erachtens ein Hindernis, da sie die Verbundenheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus allen Sektoren, privaten und öffentlichen, nicht fördert. Dies wäre aber unentbehrlich, um echte Fortschritte zu erzielen. Das Beispiel, das am deutlichsten zeigt, was möglich wäre, ist der Kampf um die Officine in Bellinzona.
Das war wirklich ein Moment mit sehr starkem Zusammenhalt ...
Erst recht, wenn wir berücksichtigen, dass wir in einer Zeit leben, wo starke Kräfte die Spaltung schüren. Im Tessin wiederholt die Lega seit 20 Jahren, das öffentliche Personal bestehe nur aus Faulpelzen. In ihrer Zeitung prangert sie alle an, die anderer Meinung sind und schafft damit in der öffentlichen Meinung eine Animosität, die um jeden Preis verstärkt wird. Wenn jemand eine gewisse Position erreicht hat, wird er als Opportunist
bezeichnet und in der bürgerlichen Politik gibt es eine Bewegung, die viel lieber angebliche Privilegien bekämpft als sich ums Wohlergehen des Volkes zu kümmern.
Ein Wohlergehen, das auch durch die Bedingungen in den Nachbarländern immer mehr unter Druck kommt.
Die Entwicklung der Wirtschaft ist leider nicht in unseren Händen. Die Konkurrenzfähigkeit wird heute ausschliesslich über die Arbeitskosten definiert. Es gab Zeiten, da galten die Sklaven als privilegiert gegenüber andern, die gar nichts bekamen. Aber wir haben dennoch dafür gekämpft, dass alle frei und selbstverantwortlich werden, statt generell das Sklaventum einzuführen.
Wir müssen das Bewusstsein erhalten, dass der erreichte Wohlstand insgesamt steigt. Wir sehen die Managergehälter, die explodieren, wogegen die tieferen Löhne real sinken. Es genügt, daran zu denken, dass UBS und CS ihren CEO jeweils über 12 Millionen Franken bezahlen, obwohl die Minder-Initiative angenommen wurde, die diese Gehälter beschränken wollte. Das Problem ist also die Verteilung des Reichtums.
An der Medienkonferenz zum 1. Mai hast du den 18. Mai als entscheidendes Datum für unser Land bezeichnet.
Unsere Forderung nach einem Mindestlohn von 4000 Franken ist ein erster angemessener Schritt für die Achtung der Würde der Arbeiterinnen und Arbeiter. Eine Würde, die oft mit Füssen getreten wird, was – getrieben von populistischen Kräften, ohne dass sich die Mitteparteien gemüssigt fühlen, etwas dagegen zu unternehmen – die Frustration schafft, die zum Resultat vom 9. Februar geführt hat. Das ist ein Resultat, das uns Sorgen machen muss, denn es hat eine Spaltung zwischen Arbeitern verstärkt, die immer mehr nach einem Krieg unter den Armen riecht.
Ein Mindestlohn könnte diese Spaltung verkleinern, da er auch wirksame Kontrollen gegen das Dumping ermöglicht, das unser Arbeitsleben vergiftet. Unser Kanton hat ein Lohnniveau, das rund 15 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Die Initiative
würde es vielen Leuten er-möglichen, ohne öffentliche Unterstützung zu leben. Diese ergänzt heute die Privatwirtschaft, die ungenügende Löhne zahlt. Auf kantonaler Ebene stimmen wir am gleichen Tag über eine Steueramnestie ab, die jenen nützt, die seit Jahren den Fiskus hintergehen. Solche Ungerechtigkeiten sollten jeden vernünftigen Bürger dazu bringen, die richtige Entscheidung zu treffen.
Deshalb sprichst du von der Notwendigkeit eines Generationenvertrags.
Wir befinden uns wirklich in einer Notlage, wenn eine steigende Zahl Menschen mit voller Arbeitsleistung Sozialhilfe beanspruchen muss. Neben der persönlichen Tragödie ist dies auch eine Bedrohung fürs gesamte System; so wird auch der Schritt in die Selbstständigkeit von Jugendlichen verzögert, auch die Gründung einer Familie. Ganz abgesehen davon, dass die Gefahr besteht, dass die finanzielle Not diese Leute ein Leben lang begleitet. Deshalb brauchen wir einen Generationenvertrag, der
alle vereinigt, zum Schutz der Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Du hast dich immer als Optimisten bezeichnet. Das Bild, das du beschreibst, lässt dafür aber wenig Platz.
Mein Optimismus kommt aus der Überzeugung, dass das Volk in diesem Land viel weniger egoistisch ist, als angesichts gewisser Abstimmungsresultate zu denken wäre. Wenn es nötig ist, hat es immer Idealismus gezeigt, und daran will ich weiterhin glauben.
Interview: Pietro Gianolli / pmo
Bio
Saverio Lurati wurde 1950 geboren. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und drei Enkel. Seit 2003 ist er Mitglied des Grossen Rates des Kantons Tessin als Vertreter der SP, die er seit 2012 präsidiert. Seit 2007 ist er bereits Präsident des Gewerkschaftsbundes Ticino e Moesa.
Er ist begeistert von den Bergen, vom Skifahren und vom Reisen.