Standortbestimmung vor dem eidgenössischen Wahljahr
«Gewerkschaften sind mächtige Akteure»
Am 18. Oktober 2015 finden in der Schweiz National- und Ständeratswahlen statt. Das Ergebnis dieser Wahlen hat einen grossen Einfluss auch auf das Arbeitsleben im Service public. Anlass genug für einen «Blick nach vorn» mit einem gewieften Politikbeobachter.
Mark Balsiger, im nächsten Herbst finden in der Schweiz nationale Wahlen statt. Das wird für Sie als Politikberater ein spezielles und auch intensives Jahr?
Es wird ein spannendes, aber strapazierendes Jahr für mich, denn ich möchte befähigt sein, die Winkelzüge zu erkennen. Es gibt ja nicht nur die Parteien und mehr als 3000 Kandidierende, sondern auch diverse andere Akteure, und manche spielen auch unsichtbar hinter den Kulissen mit.
Sie beobachten auch die Medien; welches sind denn die aktuellen politischen Trends, was wird den Ausgang der Wahlen beeinflussen?
Zum einen hat in der Schweiz der permanente Wahlkampf Einzug gehalten, das ist eine Herausforderung für die Akteure, zu denen auch die Medien zählen. Es gibt auch eine Tendenz zur Materialschlacht (für diejenigen, die sich das leisten können), gleichzeitig nimmt die Qualität der Medien ab, systematisch einzuordnen, was auf dem politischen Parkett geschieht. Das Episodenhafte ist im Vormarsch. Parteien machen sich das zunutze – mit Pseudoevents, Provokationen und dergleichen mehr. Letztlich ist das eine unschweizerische Entwicklung.
Vor den letzten Wahlen hat der SEV ein Parlamentarierinnen- und Parlamentarier-Ranking erstellt und veröffentlicht, aus dem hervorging, welche Bundespoliti- ker/innen ihm am nächsten stehen. Wie sinnvoll finden Sie solche Rankings?
Ich beklage oftmals den Ranking-Fetischismus, weil fast jede dieser Erhebungen Unsauberkeiten oder Fehler hat, und es ersetzt für viele Leute das Beobachten und Sich-Auseinandersetzen mit Themen und mit Akteuren. Dass man aufgrund von «Ranglisten» seinen Wahlentscheid trifft, finde ich nicht gut.
2011 traten auf 365 Listen insgesamt 3458 Kandidierende zu den Nationalratswahlen an. Ist das – mit oder ohne Rankings – nicht eine Überforderung der Wählenden, kann man da überhaupt noch irgendwie den Überblick behalten?
Eine Überforderung ist in den grossen Kantonen mit vielen Kandidierenden und Listen tatsächlich spürbar, es überfordert aber insbesondere auch die kantonalen Parteien. Viele der Kandidierenden stellen nur ihren Namen zur Verfügung, sonst tun sie nichts. Es gibt das «Je-mu-ka», das «Jeder muss kandidieren», und für die Parteifunktionäre ist es eine Belastung, lethargische Kandidat/innen auf der Liste zu haben, die nirgendwo mitmachen, nicht auf die Strasse gehen, nicht ihren Freundeskreis anschreiben; das ist eine Fehlentwicklung. Es ist übrigens wissenschaftlich nicht erwiesen, dass mehr Kandidierende mehr Wählerprozente ergeben – trotzdem glaubt die Mehrheit der Leute in den Parteien daran.
Ohne dass Sie uns Ihr neuestes Buch aus dem Gedächtnis rezitieren müssen: Was sind die Elemente eines erfolgversprechenden Wahlkampfs?
Für Einzelpersonen gibt es 26 Erfolgsfaktoren. Dieses Modell habe ich vor zehn Jahren an der Universität Bern entwickelt und inzwischen wird es – da-rauf bin ich ein bisschen stolz – auch gelehrt. Das Modell wurde noch nie infrage gestellt. Die wichtigsten der 26 Faktoren sind beispielsweise die Kandidatur für eine etablierte Partei, der Bekanntheitsgrad, der politische Rucksack und die Vernetzung. In der Regel ist jemand gewählt, wenn er oder sie 18 bis 20 dieser Erfolgsfaktoren erfüllt.
Und wieviel bringt es, wenn man sich an diesen Erfolgsfaktoren orientiert? Wird man nicht vielmehr gewählt, wenn man in der richtigen Partei ist und, je nachdem, eine junge Frau oder ein alter Mann?
Selbstverständlich gibt es schnellere Karrieren, wenn man bei der Partei ist, welche gerade stark im Aufwind ist oder wo Dynamik entsteht, weil altgediente Leute zurücktreten. Es ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass jüngere Frauen schneller Karriere machen können – das Aussehen spielt eine Rolle.
Wie schätzen Sie den Einfluss der Gewerkschaften ein? Bringt es bei den Wahlen etwas, wenn man Gewerkschafter oder Gewerkschafterin ist?
Die Gewerkschaften sind weiterhin sehr aktive und auch mächtige Akteure in der politischen Arena; wer dort dazugehört und auf diese verlässlichen Netzwerke zurückgreifen kann, hat durchaus die Möglichkeit, Karriere zu machen, steht dann aber auch in einem Abhängigkeitsverhältnis. Wie bei den Verbänden ist das auch bei den Gewerkschaften der Fall: Wer überdurchschnittlich stark gepusht wird, hat eine moralische Verpflichtung gegenüber seinem grossen Unterstützer.
Wenn Sie wissen oder zu wissen glauben, wie man einen Wahlkampf erfolgreich führt, warum nehmen Sie dann nicht selber als Kandidat an den Wahlen teil?
(lacht) Ich habe die Befürchtung, dass ich kein guter Politiker wäre. Ganz ausschliessen will ich das aber nicht. Dann aber eher auf der kommunalen Stufe in einer Gemeinde mit einer guten politischen Kultur, wo der Diskurs gepflegt wird und das Mitmachen in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen möglich ist. In der Stadt Bern geht das nicht, da würde ein Parlamentsmandat ein 40 %-Pensum bedeuten. Das kann ich mir nicht leisten.
Noch geht es wie gesagt zehn Monate bis zu den Wahlen. Dürfen wir Sie trotzdem schon um eine Prognose bitten? Bleibt alles beim Alten mit Änderungen im Prozentbereich, oder gibt es im nächsten Herbst markante Verschiebungen?
Stand heute: Ich glaube nicht an Erdrutsche, wobei man in der Schweiz bei einer Veränderung von nur drei Prozentpunkten bereits von einem Erdrutsch spricht. Ich vermute, dass aufgrund der sehr konfliktiv ausgetragenen Debatte um die Zukunft der Schweiz in Europa die Polparteien zulegen werden, also die SVP und die SP. Die Mitte inklusive FDP wird weiter aufgerieben – auch weil es mit der BDP und der GLP zwei neuere Konkurrenten gibt. Die GLP legt vermutlich in Prozenten zu, dürfte aber Mandate verlieren – das ist die Anomalie des Wahlsystems.
Woher kommt denn dieses fast etwas Schwerfällige in der Schweizer Politik?
Wieso schwerfällig?
Nun, weil sich eben kaum je etwas ändert in der Schweiz.
Wenn man einzelne Politikfelder der Schweiz über eine längere Zeitspanne betrachtet und analysiert, merkt man, dass wir schneller sind als andere Länder Europas. Das hat auch damit zu tun, dass schon früh alle mitwirken können mit dem Hobel und dem Schmirgelpapier. Das führt zu – böse gesagt – verwässerten Gesetzen und Erlassen; alle Mitwirkenden sind durchschnittlich unzufrieden, haben aber trotzdem etwas erreicht. In den meisten europäischen Ländern gibt es im Schnitt alle acht oder zwölf Jahre einen Regierungswechsel, und dann werden viele der grösseren Änderungen wieder rückgängig gemacht, also «drei Schritte nach vorne, drei zurück» und man ist wieder gleich weit. In der Schweiz ist das nicht der Fall, und ich bin ein Verfechter dieses Modells. Als ich es meinem Politologieprofessor an der Uni in Cardiff (in Wales) erklärte, wurde er zunehmend verwirrt und fragte schliesslich ungläubig zurück: «Does it work, funktioniert es?». Natürlich tut es das, und zwar viel besser, als die zahllosen Nörgler und Zyniker in unserem Land behaupten.
Ein schwedischer Journalist hat mich vor einigen Jahren gefragt, weshalb man in der Schweiz überhaupt wählen gehe, wenn doch nichts ändere. Haben Sie eine Antwort auf diese Frage? Und nehmen Sie persönlich als Wähler an der Wahl teil?
Ich gehe immer wählen, weil ich es als ein ganz grosses Privileg empfinde, partizipieren zu dürfen. Es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn ich in diesem Land, das manchmal halbwegs verdrossen, manchmal verzagt ist, nicht teilnähme. Dass sich nichts ändert, nehme ich persönlich nicht so wahr. Ich wähle übrigens quer durch alle politischen Farben – ich mache das gern transparent. Ich wähle Leute, die ich aufgrund persönlicher Kontakte für kompromissfähig und klug halte.
Interview: Peter Anliker
Mark Balsiger (47) studierte Journalistik, Politologie sowie Geschichte und absolvierte den Diplomkurs an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Er war zwölf Jahre als Redaktor bei verschiedenen Medien tätig, zuletzt beim Radio DRS, und als Mediensprecher beim VBS. 2002 hat er in Bern die «Border Crossing AG» gegründet, eine Agentur, die in den Bereichen Kampagnen, Politikberatung, Medienarbeit und Auftrittskompetenz wirkt. Daneben arbeitet er als Dozent und Prüfungsexperte und ist Mitglied des Publikumsrats der SRG Deutschschweiz.
Der parteilose Balsiger ist Autor dreier Handbücher: «Wahlkampf in der Schweiz» (2007) und «Wahlkampf – aber richtig» (2011) sind vergriffen, vor Kurzem ist im Stämpfli-Verlag «Wahlkampf statt Blindflug» erschienen. Alle drei geben praxiserprobte Tipps für Wahlkampagnen auf kommunaler, kantonaler oder eidgenössischer Ebene.