In der Sattlerei von Anyway Solutions in Quartino arbeiten ein Dutzend Eisenbahner in Reintegration
Die schlaue Alternative zur IV
Ein Jahr nach der Unterzeichnung einer Vereinbarung über Nischenarbeitsplätze zwischen der SBB und dem SEV zeigen sich erste Entwicklungen: Die Stellen für Leute mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit nehmen zu. Als Gegenleistung vergibt der SEV einen Exklusivauftrag an die Sattlerei von Anyway Solutions im Tessin.
Das Industriegebiet von Quartino in der Magadinoebene: Anonyme Flachdachbauten reihen sich aneinander, Firmenschild an Firmenschild. Unscheinbar findet sich hier die Sattlerei von Anyway Solutions, eine von derzeit sechs Produktionsstätten des Bereichs, der für Nischenarbeitsplätze innerhalb der SBB zuständig ist. Unter der Anleitung von drei ausgebildeten Sattlern arbeiten elf Männer auf Integrationsstellen und produzieren sowohl für die SBB als auch für Private – manchmal grosse Serien, manchmal Einzelstücke.
SEV ist Kunde
Eine SEV-Delegation, bestehend aus Präsident Giorgio Tuti, Regionalsekretärin Françoise Gehring und Gewerkschaftssekretär Jérôme Hayoz, besuchte die Sattlerei aus einem ganz besonderen Anlass: Zurzeit werden dort für den SEV Ledertaschen hergestellt, die exklusiv im Rahmen der Werbeaktion 12-12-12 als Prämie vergeben werden (siehe Artikel auf Seite 14). Der SEV wird auch weiterhin geeignete Aufträge an Anyway Solutions vergeben, als aktiven Beitrag an die Reintegration.
Der Besuch hatte aber auch zum Ziel, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen, gut ein Jahr nach der Unterzeichnung der Vereinbarung über Nischenarbeitsplätze. Giorgio Tuti zeigte sich beeindruckt: «Hier wird eine hervorragende Arbeit geleistet, sowohl für die direkt Betroffenen als auch für die Allgemeinheit! » Bei allen Meinungsverschiedenheiten, die zwischen SBB und SEV zwangsläufig bestehen: Der Einsatz der SBB auf dem Gebiet der Reintegration hat nationalen Vorbildcharakter. «Die SBB nimmt hier eine Verpflichtung wahr, die meines Erachtens eine Selbstverständlichkeit sein sollte, die es aber leider nicht ist», ergänzte der SEV-Präsident. Allzu gerne drücken sich die Arbeitgeber vor sozialer Verantwortung und schieben Leute an die Invalidenversicherung ab, wenn sie ihre Leistung nicht mehr bringen.
Die letzte Chance für produktive Arbeit
Betriebsleiter Filippo Stalder bestätigte, dass dies für die Betroffenen jeweils die letzte Möglichkeit darstelle, im Arbeitsalltag zu verbleiben. «Für die meisten ist es wichtig, dass sie trotz ihren Einschränkungen etwas Nützliches leisten können», betonte er.
Stalder ist erst seit anderthalb Jahren bei der SBB; davor arbeitete er fürs Verteidigungsdepartement – und war Vorstandsmitglied des Personalverbands im Tessin. Als seine Stelle infrage gestellt wurde und sein Chef ihm eröffnete, er müsse möglicherweise nach Sarnen ziehen, wechselte er zu Anyway Solutions.
Mit sichtlichem Stolz stellt er seinen Kleinbetrieb vor: Weil es kaum mehr private Sattlereien gibt im Tessin, zählt er unterschiedlichste Auftraggeber ausserhalb der SBB zu seinen Kunden, unter anderem die Tessiner Kantonspolizei, die Regionalverkehrsgesellschaft Fart, aber auch Private, die mit Spezialwünschen kommen. «Wir sind sehr beweglich und können kurzfristig auf Anliegen reagieren!»
Meist SBB-Aufträge
Während an den andern Anyway-Standorten die SBB praktisch alleiniger Kunde ist, machen deren Aufträge in der Sattlerei nur rund zwei Drittel des Volumens aus. Im Moment werden gerade die Taschen für die neuen Smartphones fürs Zugpersonal produziert, eine Grossserie von gegen 2000 Stück.
Die Sattlerei macht jedoch keine aktive Werbung, das wäre politisch heikel, da der Betrieb indirekt mit öffentlichen Geldern unterstützt wird. Einzig über Mund-zu- Mund- Propaganda kommen private Kunden zur Sattlerei.
Mit Qualität überzeugt
«Wir haben mit unserer Qualität überzeugt», betont Elmar Perroulaz, Leiter von Anyway Solutions. Er erinnert sich: «Am Anfang bestand – auch innerhalb der SBB – grosse Skepsis, Aufträge an Leute mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit zu vergeben! » Das hat sich inzwischen geändert: «Wir haben kaum je Kunden enttäuscht, und das hat sich herumgesprochen. » Sein Mitarbeiter, der für die Auftragseingänge zuständig ist, muss nicht mehr als Verkäufer auftreten, sondern ist ausgelastet mit der Bearbeitung der Anfragen, die direkt hereinkommen.
Höhere Absenzzeiten
Auch das administrative Personal von Anyway Solutions wird nach Möglichkeit ausschliesslich von Leuten in Reintegration besetzt: «Wir haben beispielsweise Personen, die nach einem Burnout zu uns kommen; wir nehmen den Leistungsdruck weg, womit sie in der Lage sind, vollwertig mitzuarbeiten », erläutert Perroulaz. Filippo Stalder weist darauf hin, dass die Sattlerei durchaus Besonderheiten aufweist, die sie von einem andern Betrieb unterscheiden. So muss bei der Arbeitsplanung mit höheren Abwesenheiten gerechnet werden. Die Beschwerden, die dazu geführt haben, dass die Leute ihren angestammten Beruf aufgeben mussten, verschwinden nicht; sie sind körperlich teilweise stark beeinträchtigt.
Entsprechend legt Stalder grossen Wert auf eine familiäre Atmosphäre: Das einfache Mittagessen wird gemeinsam eingenommen, täglich ist einer der Mitarbeiter zuständig fürs Kochen. Beim Besuch des SEV gab es Ragout mit Kartoffelstock und Salat – wegen der Gäste wurde der beste Koch an den Herd beordert …
Peter Moor