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Vom Bahnlehrling zum Gewerkschaftspräsidenten

«Gewerkschaften sind solidarische Gemeinschaften»

Alexander Kirchner ist Präsident der deutschen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Im Interview spricht er darüber, weshalb berufsständische Organisationen unsolidarisch sind und weshalb die Zukunft bei Europa liegt.

Alexander Kirchner

kontakt.sev: Alexander Kirchner, welche Bedeutung hat die Arbeiterbewegung in Deutschland?

Alexander Kirchner: Die Arbeiterbewegung in Deutschland hat Höhen und Tiefen erlebt. Die Zerstrittenheit der Arbeiterbewegung zur Zeit der Weimarer Republik war mit ein Grund dafür, dass Hitler an die Macht kommen konnte. Die Gewerkschaften waren nicht in der Lage, eine starke Opposition aufzubauen. Daraus haben sie etwas gelernt: Nach dem Krieg haben sie sich neu strukturiert und die Einheitsgewerkschaft gebildet, um aus dieser Erfahrung heraus stärker auftreten zu können.

Wo steht die Bewegung heute?

Die Einheitsgewerkschaft hat nicht nur eine gesellschaftspolitische Stabilisierung gebracht, sondern auch eine schlagkräftige Arbeitnehmervertretung gegenüber den Arbeitgebern und der Politik organisieren können.

Zur Person Alexander Kirchner

Alter

Ich bin 56 Jahre alt.

Werdegang

Ich bin 1973 zur Eisenbahn gekommen und habe eine Ausbildung als Energieanlage-Elektroniker gemacht. Ich bin Gewerkschaftsmitglied ab dem ersten Arbeitstag, wie es sich gehört als Eisenbahner. 1974 bin ich Jugendvertreter geworden, danach Personalrat, erst im Betrieb und dann auf der Direktionsebene. Ich bin erst spät Gewerkschaftssekretär geworden. 1991, nach der Öffnung der Mauer war ich zwei Jahre mit dem Wohnmobil in Ostdeutschland unterwegs und habe Unterstützungsarbeit für den Aufbau der Personalräte in Ostdeutschland gemacht. Anschliessend konnte ich über viele Jahre Tarifpolitik mitmachen, was für mich eines der interessantesten Felder ist, weil man am Ende immer etwas Konkretes in der Hand hat, ein Ergebnis. Nun bin ich seit vier Jahren Vorsitzender der EVG.

Verbundene Mandate

Ich bin seit 3 Jahren Vizepräsident der ETF. Wir haben in Deutschland zudem eine Allianz pro Schiene, in der viele Non-Profit-Organisationen gemeinsam mit der Bahnindustrie und Eisenbahnverkehrsunternehmen versuchen, für die Schiene Lobbyarbeit zu machen; dort bin ich auch Vorsitzender. Wie viele Gewerkschafter bin ich auch schon von Vater und Grossvater politisch geprägt; ich bin Mitglied der SPD und war auch lange lokalpolitisch tätig.

Familie

Ich bin mit einer Portugiesin verheiratet. Meine Frau ist als Gastarbeiterkind 1969 nach Deutschland gekommen, wo ich sie kennen gelernt habe. Wir haben eine Tochter, die inzwischen das Abitur hinter sich hat und das Studium beginnen will – und ich liebe sie beide über alles!

Freizeit

Gewerkschafter führen oft ein Leben, in dem Bestandteile wie Arbeit, Familie und Freizeit ein Stück weit ineinander übergehen, was auch gut ist. Aber ich muss immer wieder auch mal etwas anderes machen und den Kopf frei bekommen. Mein Hobby ist Motorradfahren. Ich versuche, zwei, drei Wochen im Jahr zu finden, die ich mit dem Motorrad unterwegs bin.

Beziehung zur Schweiz

Ich habe nicht Verwandte oder Bekannte, mit denen ich in regelmässigem Kontakt bin, aber ich bin schon oft in der Schweiz gewesen. Ich habe natürlich auch mit dem Motorrad dort schon viele Strecken abgefahren; es ist ein sehr schönes Land und gerade für Motorradfahrer stellenweise ein Eldorado.

Welche Rolle spielt die EVG innerhalb dieser Bewegung?

Wir haben es erstmals geschafft, dass eine Gewerkschaft aus dem Beamtenbund heraus in den Dachverband des DGB gekommen ist: Aus der DGBGewerkschaft Transnet und der Beamtenbund-Gewerkschaft GDBA ist unsere neue Konstruktion, die EVG, zusammengekommen. Es ist eigentlich nichts als logisch, wenn Menschen mit Verantwortung in Gewerkschaften erkennen, dass nicht der Kollege der Gegner ist, sondern der Arbeitgeber und die Politik. Die Spaltung der Menschen im Betrieb ist etwas Schlechtes!

Welche politischen Themen beschäftigen dich im Moment am meisten?

Vorerst einmal die bahnspezifischen Themen, insbesondere die Frage über den Erhalt der integrierten Struktur der Bahnunternehmen. Das ist existenziell bedeutend für das Produkt Schiene im Verkehrsmarkt. Allgemein sind es die Fragen um die Zukunft von Europa.

Welche Chancen haben wir, den sozialen Frieden und den Wohlstand in Europa zu halten?

Da sehe ich mit Sorge darauf, dass Europa auseinander driftet, was dazu führt, dass gefährdet wird, was uns seit fast 70 Jahren Frieden in Europa gebracht hat.

Wo siehst du das grösste Problem?

Schon Helmut Schmidt hat gesagt, Europa habe nur eine Chance, wenn die Machtzentren in Europa eine Balance entwickeln. Es ist nicht gut, wenn Deutschland – oder ein anderes Land – wirtschaftlich oder politisch übermächtig wird. Der europäische Gedanke und die europäische Weiterentwicklung funktionieren nur, wenn die Balance erhalten bleibt. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die wirtschaftlich schwachen Staaten, ob Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien, auch tatsächlich die Aussicht haben, für ihre Menschen gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen zu haben. Nur so ist Europa langfristig haltbar.

Bist du dabei eher optimistisch oder pessimistisch?

Die Konzepte von Merkel und anderen werden keine Lösungen bringen. Im Gegenteil: Die Schwachen werden noch schwächer werden. Wir haben keine Perspektive für diese Länder, wie sie ihre Volkswirtschaft so aufbauen können, dass sie halbwegs wieder Schritt halten können. In diesem Punkt bin ich also eher pessimistisch.

Aber …?

Optimistisch bin ich, weil ich glaube, dass in den letzten 40, 50 Jahren, die Menschen – die Menschen! – zueinander gekommen sind. Meine Eltern, meine Grosseltern hatten keine Chance, ausserhalb von Deutschland Urlaub zu machen, heute ist das gang und gäbe! Junge Menschen treffen sich überall auf der Welt. Ich glaube nicht daran, dass die Menschen in Nationalstaatlerei zurückfallen wollen. Sie wollen Europa, da bin ich optimistisch.

Welches ist deine Hauptsorge in der Organisation, die du führst?

Gewerkschaften waren immer solidarische Gemeinschaften, in denen die Starken den Schwachen geholfen haben. Dieser Gedanke geht mehr und mehr zugrunde, wenn einzelne Berufsstände nur versuchen, für sich das Beste herauszuholen. Dieser Tendenz müssen wir etwas entgegensetzen.

Du sprichst damit vor allem die Gewerkschaft der Lokführer GDL an. Was macht ihr da konkret?

Ich halte hier nichts von Verboten und Reglementen. Wir weisen auch nicht nach, dass wir auch in den letzten Jahren die bessere Tarifpolitik gemacht haben, obwohl wir es könnten! Nein, wir zeigen, dass wir auch für die berufsspezifischen Interessen dieser Kollegen Antworten haben, dass wir auch ihre Interessen in dieser Solidargemeinschaft wahren, in der alle Eisenbahnerinnen und Eisenbahner drin sind.

Wie sind die Resultate?

Es funktioniert. Dort, wo unsere Funktionäre und unsere Mitglieder diese Gemeinschaft leben, haben berufsständische Gewerkschaften keine Chance. Das ist mein Ansatz: Es geht um die Bedürfnisse der Mitglieder, es geht um das Ganze, es geht auch um jene, die schwach sind. Geht man damit auf die Kollegen zu, erlebt man, dass sie es auch so wollen.

Was bedeutet für dich das Vierländertreffen?

Es bietet die Gelegenheit, die Entwicklungen unserer Nachbarn zu betrachten und abzugleichen mit dem, was man selbst an Entwicklungen sieht. 80 Prozent der Verkehrspolitik werden nicht mehr in Berlin entschieden, sondern in Brüssel. Es gibt keinen andern Weg, als sich miteinander abzustimmen und gemeinsame Strategien zu entwickeln.

Die EU setzt voll auf Liberalisierung, selbst die linken und grünen Fraktionen. Was läuft da?

Dort werden sehr stark ideologische Diskussionen geführt. Bei den Trennungsbefürwortern geht es nach dem Motto: Wir zerlegen die Bahn, das bringt mehr Wettbewerb, und mit mehr Wettbewerb bekommen wir automatisch mehr Eisenbahnverkehr und das zu noch günstigeren Preisen. Die Realität zeigt etwas anderes: Wo die Trennung vollzogen worden ist, hat sie nicht unbedingt zu mehr Wettbewerb geführt, und wenn sie zu Wettbewerb geführt hat, dann waren oft die Preise deutlich höher oder der Staat hat noch eine höhere Verschuldung gemacht. Die Franzosen und selbst die Engländer sagen heute: «Wir haben mit der Trennung Fehler gemacht und wollen dort korrigieren.»

Wie sieht für dich die Lösung aus?

Meines Erachtens geht es darum, Strukturen zu schaffen, die einerseits die Unternehmen effizient arbeiten lassen, was ihnen mehr Verkehr bringt, andererseits aber zulassen, dass im Wettbewerb auch andere Verkehr fahren können.

Das ist ein europäisches Thema. Welche Rolle spielt die Schweiz in dieser Diskussion?

Es ist für uns in Europa sehr hilfreich, wenn wir sagen können: Auch die Schweizer Kollegen unterstützen diesen Ansatz. Das wirkt verstärkend: Wenn die Schweizer es genau so sehen, dann ist es noch ein Stück mehr wert!

Interview: Peter Moor