1.-Mai-Feier
1.-Mai-Rede von Giorgio Tuti in Aarau
Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV und Vizepräsident des SGB
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen
«Wir sind die 99 Prozent» – das ist der Slogan der Bewegung, die sich über ganz Europa und Amerika ausbreitet. Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind ein Teil dieser Bewegung, nur gibt es uns schon viel länger, und wir weisen schon immer darauf hin, dass Einkommen und Vermögen ungerecht verteilt sind. Das gilt auch für die Schweiz: Auch hier hat ein Prozent der Bevölkerung so viel Vermögen wie die andern 99 Prozent alle zusammen!
Bei den Löhnen ist die Entwicklung genau gleich: Die Schere öffnet sich weit und weiter. Die obersten Einkommen wachsen stark und die untersten überhaupt nicht.
Dahinter steht eine Wirtschaft, die Egoismus belohnt und Gemeinsinn abstraft. Dahinter steht aber auch eine Politik, die dieses üble Spiel mitspielt. Der Kanton Waadt ist grosszügig mit Wirtschaftsförderung, und was geschieht: Alinghi-Segler Bertarelli kassiert 16 Milliarden Franken für seine Firma Serono, die Käuferin Merck profitiert von den Steuererleichterungen, zahlt gigantische Boni und Dividenden, und schliesst ohne mit der Wimper zu zucken den Schweizer Standort: 1250 Stellen weg. Wir drücken der UNIA und der Belegschaft die Daumen und wünschen viel Erfolg und Hartnäckigkeit im Kampf gegen den Abbau der Arbeitsplätze und den Erhalt des Standortes.
Die Schweizer Wirtschaft ächzt unter dem Eurokurs. Finanzwelt, Unternehmen und Wissenschaft sind sich für einmal einig mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund: Der Wechselkurs stimmt nicht mit der wirtschaftlichen Realität überein – und die Politik schaut zu. Wir bleiben dabei: Es braucht einen Wechselkurs von 1 Franken 40 pro Euro, für sichere Arbeitsplätze, für die Schweizer Qualität, für Export und Fremdenverkehr.
Die bürgerliche Mehrheit im Parlament geht aber noch weiter: Sie steuert direkt auf einen massiven Sozialabbau zu: Einmal mehr will sie die Invalidenrenten kürzen, viele sogar einfach streichen. Als Gewerkschaft erleben wir tagtäglich, was das für Betroffene heisst, wenn sie nach 40 Berufsjahren plötzlich vor dem Nichts stehen, weil ein Arzt und ein Gericht IV-hörig den Daumen nach unten halten. So war das nicht gemeint: Das ist nicht die IV, die wir geschaffen haben.
Die bürgerliche Mehrheit, angeführt von Arbeitgeberverband und Economiesuisse, begnügt sich aber nicht mit dem Abbau bei der Invalidenversicherung: Sie nimmt einen neuen Anlauf zur Senkung der Renten bei den Pensionskassen – dabei haben wir vor zwei Jahren klar gezeigt, dass ein Rentenklau nicht in Frage kommt!
Und natürlich soll auch das AHV-Alter angehoben werden und am Teuerungsausgleich der Renten geschraubt werden. Ich verstehe nicht, weshalb das Volk solche Leute wählt! Aber ich will hier nicht die Wählerinnen und Wähler beschimpfen, denn ihr, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, ihr habt richtig gewählt, da bin ich mir sicher!
Aber, das müssen wir zur Kenntnis nehmen, die Schweiz hat eine bürgerliche Mehrheit, und diese Mehrheit entscheidet konsequent und systematisch gegen die einfachen Lohnempfängerinnen und -empfänger.
Unsere Instrumente um Gegensteuer zu geben sind vorhanden:
Wir machen Initiativen, zum Beispiel die 1:12-Initiative, die dafür sorgen wird, dass die Lohnschere endlich wieder kleiner wird. Stellt euch das einmal vor: Ein normaler Mitarbeiter der Credit Suisse müsste 301 Jahre arbeiten, um einen Jahreslohn seines obersten Chefs zu verdienen – 301 Jahre! Ich komme zwar nicht aus der Bankbranche, aber nur so nebenbei: Auch SBB-Meyer und Post-Bucher wären betroffen, vom Swisscom-Schloter ganz zu schweigen – und das wäre auch richtig so!
Wir machen eine Mindestlohninitiative, um dafür zu sorgen, dass alle vom Einkommen leben können, wenn sie arbeiten. 400‘000 Leute in der Schweiz erhalten für ein volles Pensum weniger als 4000 Franken im Monat, und drei Viertel davon sind Frauen. Das kann in einem reichen Land wie dem unsern doch nicht wahr sein.
Wir unterstützen die Erbschaftssteuerinitiative, weil wir finden, dass Erbschaften über 2 Millionen Franken viel Geld ohne Arbeit sind, und dass es richtig ist, wenn ein Teil davon der Allgemeinheit zu gut kommt, um die Altersvorsorge für alle statt für wenige zu sichern.
Weitere Initiativen werden kommen, ob im Parlament oder direkt beim Volk, wird sich zeigen: AHVplus ist der Denkansatz der Gewerkschaften, um die Altersvorsorge wieder auf feste Beine zu stellen. AHVplus heisst vor allem, dass gemacht wird, was sowieso in der Verfassung steht: dass alle in Würde alt werden dürfen und auch können.
Unser wichtigstes Instrument im Umgang mit der Wirtschaft aber, das müssen wir nicht mehr erfinden und wir müssen auch nicht mehr beweisen, dass es etwas bringt. Unser wichtigstes Instrument im Umgang mit der Wirtschaft sind Gesamtarbeitsverträge, sie sind das Erfolgsrezept des Schweizer Wohlstands. Letztes Jahr haben wir den 100. Geburtstag des Gesamtarbeitsvertrags als Instrument gefeiert. Es kommt ja wirklich selten vor, dass ich einen Freisinnigen zitiere, aber hier ist es für einmal mehr als angebracht. An dieser Feier zu 100 Jahren Gesamtarbeitsvertrag in der Schweiz hat unser Wirtschaftsminister Schneider-Ammann etwas Richtiges gesagt. Im Rahmen eines möglichen vertragslosen Zustandes auf dem Bau hat er gesagt: «Ein vertragsloser Zustand ist kein Zustand» – und wo er recht hat, hat er recht!
In meiner Branche, im öffentlichen Verkehr, gibt es noch nicht so lange Gesamtarbeitsverträge; eigentlich sogar erst seit 10 Jahren. Mit der Liberalisierung der Bahnen und überhaupt der Verkehrsunternehmen haben auch wir gelernt, Gesamtarbeitsverträge zu verhandeln, um fürs Personal anständige Bedingungen, gute Löhne und sichere Arbeitsplätze zu garantieren.
Dies ist umso wichtiger, als der Service Public in der Schweiz in den letzten zehn Jahren einen schweren Stand hatte. Zwar haben wir wichtige Siege erreicht und das Schlimmste verhindert. Aber machen wir uns nichts vor: Noch immer pflegen die Liberalisierer ihre Träume und nehmen einen Anlauf nach dem andern, um die sichere, kostengünstige flächendeckende Versorgung der Schweizer Bevölkerung mit Infrastrukturen und Gütern zu hintergehen. Liberalisierung heisst beim Service public nichts anderes als Gewinne für die Reichen auf Kosten der Armen. Da haben wir etwas dagegen, und da tun wir auch etwas dagegen.
Jetzt gerade wehren wir uns vom SEV zusammen mit vielen andern Organisationen gegen einen Abbau beim Güterverkehr. Bald wird es im Parlament um den Ausbau der gesamten Schweizer Bahninfrastruktur gehen. Es wird darum gehen, ob wir die Mobilität bewältigen werden, die zum heutigen Arbeitsalltag dazugehört. Dazu braucht es nicht nur Tunnel durch die Alpen, sondern es braucht leistungsstarke Bahn- und Busnetze, gerade auch hier im Mittelland. Und es ist nicht mit dem Bauen getan: Das Netz muss unterhalten werden, die Transportmittel müssen unterhalten werden. Das kostet Geld; das ist der Preis, den wir für unsere Lebensqualität bezahlen müssen. England hat gezeigt, was es heisst, Bahnsysteme zu liberalisieren, zu privatisieren. Wir wollen keine englische Verhältnisse!
Aber in der Schweizer Politik heisst die Frage im Moment nicht: Wie viel Mobilität brauchen wir, sondern die Frage heisst im Moment: Wollen wir Mobilität für alle oder Kampfjets für wenige? Wollen wir Kampfjets statt Bahnen, Schulen, Spitälern?
Diese Antwort wird uns nicht schwer fallen.
Ich wünsche euch ein schönes Fest; heute feiern wir den Tag der Arbeit, und morgen arbeiten wir wieder daran, für sichere Arbeitsplätze, gute Löhne und ein Alter in Würde mit anständigen Renten.
Danke für eure Aufmerksamkeit!