Maschineningenieur Walter Kobelt leitet die Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe im Uvek
«Unsere Empfehlungen sind machbar und bezahlbar»
Seit 10 Jahren gibt es für Bahnen und Schiffe in der Schweiz die Unfalluntersuchungsstelle, wie sie in der Luftfahrt schon lange üblich war. Sie erstellt Berichte mit Empfehlungen, die dazu beitragen sollen, dass weniger Unfälle geschehen.
kontakt.sev: Herr Kobelt, die Aufgabe Ihrer Stelle ist es, künftige Unfälle zu vermeiden. Hat Ihre Arbeit dies tatsächlich bewirkt?
Walter Kobelt: Unsere Abschlussberichte enthalten am Schluss immer Sicherheitsempfehlungen, und diese werden zum grössten Teil umgesetzt. Persönlich habe ich den Eindruck, dass die Unfallzahlen in den letzten Jahren rückläufig waren.
Sie können Empfehlungen abgeben, aber keine Anweisungen aussprechen?
Unsere Empfehlungen gehen an das Bundesamt für Verkehr, das diese als verbindlich erklären kann. Dann müssen die Unternehmen sie umsetzen. Aber die Unternehmen warten in der Regel nicht, bis das BAV eine Empfehlung als verbindlich erklärt. Ich führe das auch darauf zurück, dass wir Empfehlungen abgeben, die machbar und bezahlbar sind.
Die Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe UUS
Die Stelle wurde bei der Umwandlung der SBB ins Eisenbahngesetz aufgenommen, seit dem 1. Oktober 2000 ist sie tätig. Sie besteht aus drei hauptamtlichen Untersuchungsleitern und 14 Untersuchungsleitern im Nebenamt und ist dem Generalsekretariat des Uvek angegliedert. Die UUS hat Unfälle zu untersuchen, bei denen es schwere Personenschäden oder Sachschäden über 100 000 Franken gegeben hat, zudem auch Beinahe- Unfälle und Sabotageakte. Am Schluss erstellt die UUS einen Bericht, der Empfehlungen enthält. Die Berichte werden im Internet publiziert unter www.uus.admin.ch. Für die rechtliche Beurteilung sind die Berichte jedoch nicht verbindlich; die Gerichte entscheiden unabhängig von der UUS. Jährlich gibt es in der Schweiz zwischen 60 und 70 Vorfälle, die die UUS untersucht. Die Transportunternehmen sind verpflichtet, Vorfälle an die UUS zu melden, Meldestelle ist die Rettungsflugwacht, die danach den Pikett-Untersuchungsleiter aufbietet.
pmo
Es stellt sich die Frage zwischen Sicherheit und Rentabilität, anders gesagt: Was darf ein Menschenleben kosten?
Ich bin der Meinung, dass es immer Unfälle geben wird. Keine menschliche Tätigkeit ist fehlerfrei. Die Mittel für die Sicherheit sind beschränkt; jeder Franken kann nur einmal ausgegeben werden. Es wäre unsinnig, wenn wir nach einem einzigen Unfall für einen Feldweg eine Unterführung empfehlen würden, denn mit dem gleichen Geld kann andernorts etwas gemacht werden, das viel mehr für die Sicherheit nützt.
Das ganze System kommt ursprünglich aus der Luftfahrt. Weshalb wurde es bei den Bahnen erst so spät eingeführt?
Der Luftverkehr war schon immer international. Bei den Eisenbahnen hatte man dagegen lange Zeit die Staatsbahnen mit ihrem weitgehend geschlossenen System, wo die Bahnen die Sicherheit selbst verantworteten. Nun haben wir ganz andere Konstellationen. Ich erinnere mich an eine Entgleisung vor mehreren Jahren im Badischen Bahnhof in Basel, also auf Schweizer Boden. Die Infrastruktur gehört der Deutschen Bahn. An der Spitze des Zuges war eine Lok der HGK, die diese von Adtranz geleast hatte mit einem Lokführer aus Dresden. Die Trasse hatte SBB Cargo bestellt, und die Güter gehörten ganz verschiedenen Firmen. Das ist die heutige Situation. Deshalb wurden externe, unabhängige Stellen geschaffen.
Sie sind praktisch Tag und Nacht auf dem Sprung. Was erwartet Sie, wenn Sie ausrücken müssen?
Das kann sehr verschieden sein. Ich habe schon äusserst tragische Fälle erlebt; am schlimmsten wohl der Fall, als zwei Burschen, Brüder, auf einem Bahnübergang unter den Zug kamen und getötet wurden. Ich habe aber auch schon einem Eisenbahner sagen müssen, er sei soeben das zweite Mal geboren worden, weil er so viel Glück hatte. Manchmal können wir in einer warmen Halle arbeiten, das andere Mal stehen wir stundenlang im strömenden Regen.
Man hört meist von den spektakulären Unfällen; das dürfte aber eine Minderheit sein?
Ja, vieles ist nicht auffällig. Wir gehen natürlich nicht in jedem Fall vor Ort. Wir klären zuerst telefonisch ab, ob etwas geschehen ist, bei dem es uns braucht, um einen Bericht darüber zu machen.
Wie ist es mit Suiziden?
Wir werden jeweils informiert. Wo nicht klar ist, ob es sich um einen Unfall handelt, untersuchen wir den Vorfall.
Sie kommen viel mit dem Leid der Menschen in Kontakt. Wie gehen Sie damit um?
Wenn wir dazukommen, ist der Unfall passiert und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Aber wir können aus dem Unfall etwas Positives herausholen, wenn wir gute Sicherheitsempfehlungen formulieren und gleiche Unfälle verhindern. Natürlich geht es manchmal unter die Haut, aber wir können es verarbeiten. Wir sind ja auch nicht die Ersten am Unfallplatz.
Erhalten Sie die Fälle sofort und korrekt gemeldet?
Die grösseren Unternehmen verhalten sich sehr korrekt. Bei kleineren Bahnen oder Seilbahnen harzt es gelegentlich eher noch. Da kann es vorkommen, dass wir erst aus den Medien von einem Vorfall erfahren, dann schalten wir uns nachträglich ein.
Weshalb ist ihre Meldestelle bei der Rega?
Sie war für die Luftfahrt schon bei der Rega, und da haben wir uns einfach angeschlossen. Das hat sich sehr gut bewährt.
Bei den spektakulären Fällen werden Sie von den Medien jeweils früh um Auskünfte angefragt, und Sie liefern schnell Informationen. Weshalb?
Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht auf Information. Wenn ich nichts sage, fragen die Medien jemand anderes, die «Eisenbahnexperten», und es beginnen die Spekulationen. Ich enthalte mich aber strikte jeglicher Urteile. Das ist nicht immer ganz einfach, aber inzwischen habe ich da einige Übung.
Es kommt dann aber vor, dass andere Stellen, so zum Beispiel letzten Sommer nach dem Unfall in Fiesch der SEV, Ihnen Vorverurteilungen vorwerfen…
Es kann vorkommen, dass gewisse Medien trotz präziser Information daraus Geschichten machen, die völlig anders herauskommen, und dann lässt sich dieser Vorwurf natürlich nicht vermeiden. Da rege ich mich auch darüber auf.
Treffen Sie in der Regel klare Situationen an?
Ja, es ist meist recht schnell klar, was geschehen ist. Aber damit geben wir uns nicht zufrieden und öffnen den Blickwinkel. Gerade in diesem Fall in Fiesch haben wir trotz recht klarer Situation sehr vieles weiter untersucht, um uns nicht den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, wir hätten nicht genau hingeschaut. Aber irgendwann kommt auch der Moment, wo die Öffentlichkeit von uns eine Aussage erwartet.
Dann geben Sie jeweils Ihren Bericht ab, und dieser wird auch einbezogen, wenn es zu einem Strafverfahren kommt. Ich erinnere mich an einen Fall – eine Kollision in Oerlikon –, wo das Gericht sich deutlich von Ihrem Bericht distanziert hat. Was heisst das für Sie?
Das war ein spezieller Fall: Wir konnten zwar die Abläufe darstellen, aber nicht die Kausalität herstellen. Wir beschrieben dort den wahrscheinlichen Unfallablauf, aber beweisen konnten wir das nicht. Aber auch in diesem Fall war es so, dass unser Bericht dann für die Instruktion gebraucht wurde und für klarere Anweisungen sorgte.
Wie ist generell Ihr Verhältnis zu den Unternehmen?
Mir scheint es gut, und das höre ich auch von den Unternehmen. Wir sind klar ein Dienstleister; wir stehen nicht oberhalb der Unternehmen, sondern auf gleicher Augenhöhe. Dadurch haben wir ein gutes Einvernehmen. Wir sind auch recht oft im Führerstand unterwegs; da geht es nicht um Überwachung, sondern darum, dass wir unsere Strecken- und Fahrdienstkenntnisse aufrechterhalten. Wir müssen den Betrieb kennen!
Aber am Anfang galten Sie doch bei den Bahnen als Eindringlinge!
Das stimmt! Das waren wir ja auch… Zuvor hatten die Bahnen das alles in den eigenen Händen, und dann kam plötzlich eine externe Stelle, die das Recht hatte, alles anzuschauen, allenfalls gar etwas zu beschlagnahmen. Da mussten sie sich zuerst daran gewöhnen.
Interview: Peter Moor
Bio
Maschineningenieur Walter Kobelt ist 59-jährig. Nach dem Studium an der ETH arbeitete er in der Mess- und Regeltechnik, zweieinhalb Jahre davon in Australien. 1984 kam er zur SBB, wo er eine verkürzte Lokführerausbildung absolvierte und danach in der Hauptwerkstätte Yverdon und bei der Zugführung des Kreises III als Ingenieur arbeitete; 1989 wurde er Betriebsleiter der Hauptwerkstätte Zürich. 2000 wechselte er als Leiter zur neu geschaffenen UUS. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In der Freizeit zieht es ihn nach oben und unten: Er ist Mitbesitzer eines Sportflugzeugs, das er selber regelmässig fliegt, zudem betreibt er Modellflug und taucht.