Mit der Mindestlohninitiative will der SBG ein dringendes Problem lösen
Höchste Zeit für Mindestlöhne
Sammelzeit für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund, der das Jahr mit der offiziellen Lancierung der eidgenössischen Volksinitiative für einen Mindestlohn beginnt. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fordert, dass jemand, der den ganzen Tag arbeitet, zumindest genügend verdienen muss, um die eigene Familie durchzubringen. Gegenwärtig ist das nicht so: In der Schweiz erhalten 400 000 Personen Hungerlöhne, die sie in die Armut führen. Das ist in einem reichen Land wie der Schweiz nicht akzeptabel.
Ein würdiges Leben: Dies verlangt der SGB für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unseres Landes. In unserem Interview bezieht der Ökonom Silvano Toppi Stellung zu den Forderungen.
kontakt.sev: In der Arbeitswelt ist der Lohn ohne Zweifel einer der wichtigsten Bestandteile. Welches ist Ihr Augenmerk beim Grundsatz des Mindestlohns?
Silvano Toppi: Der Lohn ist sicher ein wichtiger Wert, aber man muss sich auch Rechenschaft geben darüber, dass er nicht der Einzige ist. Sonst läuft man Gefahr, in die Logik der heute herrschenden Ökonomie zu verfallen, für die nur die Arbeitskosten zählen, also der Lohn, und die den Wert der Arbeit nur auf ihre Kosten reduziert und damit den Wert der Arbeit und die Rechte der Arbeitnehmenden systematisch verschlechtert. Den Grundsatz des Mindestlohns in der Bundesverfassung sehe ich als Versuch, ein fundamentales Recht und eine Pflicht festzuhalten. Diese werden leider notwendigerweise in der Umformung durch die Initiative auf einen Geldbetrag reduziert – 22 Franken pro Stunde. Es geht aber nicht nur um eine Geldfrage, es ist eine grundlegend demokratische Fragestellung.
Uneinheitliche Praxis in Europa
Der gesetzlich geregelte Mindestlohn ist weltweit in einer Mehrzahl der Länder Realität. Er gilt in den USA, in Australien und in 20 der 27 Länder der Europäischen Union. Die Ausnahmen sind Italien, Deutschland, Dänemark und skandinavische Länder. Es sind keine zufälligen Unterschiede, sondern unterschiedliche historische Entwicklungen haben dazu geführt. Beispielsweise stehen in Deutschland und Italien Verhandlungslösungen vor gesetzlichen Regelungen, dies aufgrund des politischen Gewichts und der Verhandlungsstärke der Gewerkschaften. Als erste Länder haben Holland (1969) und Frankreich (1970) Mindestlöhne eingeführt. Gemäss den Angaben von Eurostat 2009 kennen in Europa folgende Länder eine gesetzliche Regelung: Belgien, Bulgarien, Tschechien, Estland, Irland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Lettland, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Holland, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, die Slowakei und Grossbritannien. Auch Österreich kennt einen verankerten Mindestlohn, aber als Verhandlungsresultat der Sozialpartner. Die Beträge der Mindestlöhne sind von Land zu Land unterschiedlich, denn sie sind auf verschiedene wirtschaftliche und soziale Umstände und auch auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet. 2009 lag Luxemburg zuvorderst (1641 Euro im Monat) vor Irland (1462), Belgien (1387), Holland (1382) Frankreich (1321) und Grossbritannien (1010). Der Betrag entspricht je nach Land einem Wert zwischen 30 und 70 Prozent des Durchschnittslohns.
Wie wird ein Mindestlohn definiert und festgelegt?
Der Lohn ist ein Preis, der Preis eines Gutes, hier der Arbeit. Es geht also um die besondere Logik und die Grundgrössen der Wirtschaft, woraus sich Verletzlichkeit, Mobilität und Erpressbarkeit ergeben, dies besonders wegen der Technologie (Ablösung der Arbeit), der Globalisierung (Standortverlagerung) und der Besitzverhältnisse (wechselnde, nicht identifizierbare Ansprechpartner). Generell ist der Lohn damit ein Kostenfaktor, den es zu senken gilt. Im ersten Teil der Initiative versucht man klar zu machen, dass es nicht nur darum gehen kann. Der Lohn ist für die überwiegende Mehrheit der Menschen die Grundlage des Lebensunterhalts. Er ist damit auch der wichtigste Motor der Wirtschaft (über den Konsum). Aber er stellt auch eine soziale Norm dar als Grundbedingung für das Leben in der Gesellschaft, für die gesellschaftliche Anerkennung, für die Vernetzung, für ein Minimum an persönlicher oder familiärer Planbarkeit. Ein Lohn muss seinem Empfänger, seiner Empfängerin ermöglichen, anständig in der Gesellschaft zu leben und muss den Umständen und der familiären Situation Rechnung tragen. Ich bestreite nicht, dass es tatsächlich sehr schwierig ist, einen Minimallohn zahlenmässig festzulegen. Es bleibt die Tatsache, dass ein allfälliger Schutz des Arbeiters durch das Lohnniveau nur ein Element des Schutzes des Arbeitseinkommens sein kann, das mit weitern sozialen Mechanismen verbunden sein muss (beispielsweise jenem der Familienzulagen).
In den vergangenen Jahren gab es in den europäischen Gewerkschaften grosse Diskussionen, da es auch die Meinung gibt, Mindestlöhne sollten ausschliesslich in Verträgen geregelt werden. Zahlreiche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstehen aber keinem Gesamtarbeitsvertrag, sind also nicht eingeschlossen. Kann der Mindestlohn ein Schutzdamm gegen ungenügende Löhne sein?
Ich erachte die direkte Vertragspartnerschaft in Verbindung mit der Konfliktbereitschaft (die aus meiner Sicht ein ethischer Wert bleibt, den es zurückzugewinnen gilt) als das wirkungsvollste Instrument, um Resultate zu erzielen, und das sicherste in der Anwendung. Es gibt darüber hinaus aber drei weitere wahre und akzeptierte Fakten. Zuallererst wurde die Macht der Gewerkschaften systematisch abgebaut (und ihre Vertragsfähigkeit geschwächt), vor allem, wo die internationale Konkurrenz spielen lässt oder wo die Führung des öffentlichen Bereichs privatisiert wird. Zweitens wurde der sakrosankte Arbeitsfrieden (vereinbart zwischen den Partnern von Gesamtarbeitsverträgen) als völlig unantastbares Argument genutzt, um jeglichen staatlichen Einfluss auf die Lohnfindung abzuweisen. Drittens gibt es, was auch immer gesagt wird, eine gewisse Tendenz zahlreicher (armer) Arbeitnehmender, sich selbst aufzugeben, gerade solcher, die nicht von Gesamtarbeitsverträgen profitieren oder denen von den Arbeitgebern Betriebsreglemente aufgezwungen wurden (nicht nur im Verkauf). Der von aussen festgelegte und reglementierte Mindestlohn könnte zumindest eine Mauer sein, die verhindert, dass man immer tiefer rutscht. Dies besonders dann, wenn die Arbeitsrechte begraben werden unter den verschiedensten «Hanswurstereien», die in den neuen Arbeitsbeziehungen des absteigenden Prekariats produziert werden.
Was wären auf dem Schweizer Arbeitsmarkt die hauptsächlichen Vorteile einer solchen Massnahme, was die Nachteile?
Der Vorteil ist sicher, dass man einen allgemeinen Referenzwert in der Verfassung hat, der sich auf die genannten Elemente bezieht und also nicht einfach das Ziel hat, die Arbeitskosten zu minimieren. Der Nachteil besteht darin, dass man ausdrücklich etwas festlegt, das einem stark verankerten Glaubenssatz widerspricht: Je weniger die Arbeit reglementiert ist (je «freier» sie also ist), desto mehr Arbeit (welche?) gibt es und weniger Arbeitslosigkeit. Dieser Grundsatz lässt zwei Reaktionen zu, derer man sich bewusst sein muss: einmal jene, den Mindestlohn als eine Art offizieller Indikator zu betrachten, der es ermöglicht, die Löhne festzulegen bei oder nur wenig oberhalb der festgelegten Schwelle (vor allem für wenig qualifiziertes Personal im Service, im Verkauf, in der Reinigung usw.); dazu jene, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zu verzichten, die aus wirtschaftlicher Sicht nicht lohnend sind, wenn sie auf dem gesetzlich festgelegten Lohnniveau angesiedelt sein müssen.
Glauben Sie, dass der Mindestlohn auch als Mittel gegen die Schwarzarbeit wirken kann?
Das glaube ich nicht. Es könnte sogar das Gegenteil eintreten, wenn nicht schärfste Kontrollen bestehen (wahrscheinlich zusammen mit andern Auswirkungen verstärkter Ermittlungen vonseiten der Gewerkschaften). Zumindest in der gegenwärtigen Situation des Arbeitsmarkts.
Welche Auswirkungen waren festzustellen in den Ländern, die schon einen Mindestlohn eingeführt haben? Welches waren Schwächen und Stärken?
Ich denke, dass das Land mit der längsten entsprechenden Erfahrung Frankreich ist (Gesetz vom 11. Februar 1950, 60 Jahre Mindestlohn mit zahlreichen Veränderungen und Anpassungen). Aufgrund der langen Erfahrung in Frankreich und der Untersuchungen, die darüber in den letzten Jahren gemacht wurden, sind zwei grundsätzliche Erkenntnisse festzustellen; die erste ist, dass der Mindestlohn die Beschäftigung nicht vermindert hat. Trotzdem wird diese Kritik immer wieder vorgebracht, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Zweitens kann festgestellt werden, dass der Mindestlohn letztlich den starken Anstieg der Lohnungleichheiten nicht verhindert hat. Als Stärke liesse sich sagen, dass er bewirkt hat, dass gewisse Lohnwerte nicht abgerutscht sind, also nicht jene negativen Nebenwirkungen auslöste, die von den Gegnern eines gesetzlichen Mindestlohns vorgebracht wurden. Ein Schwachpunkt ist, dass keine Bewegung zu einer besseren Verteilung der geschaffenen Mehrwerte entstanden ist, wie alle Statistiken aus den europäischen Ländern bestätigen (mit wenigen Ausnahmen in den nordischen Ländern).
Welche Auswirkungen könnte die Einführung des Mindestlohns auf die gewerkschaftliche Vertragslandschaft in der Schweiz haben?
Der Mindestlohn wäre ein Bezugswert, ich würde aber meinen vor allem für Klagen an Orten, wo es möglich wäre, das Gesetz nicht anzuwenden, weil Gewerkschaften fehlen oder ausgeschlossen sind oder mangels griffiger öffentlicher Überwachungsinstrumente. Ich erlaube mir anzufügen. dass die Gewerkschaft nicht erwarten sollte, dass die allfällige Einführung des Mindestlohns sie von einem andern Zielen entlastete, das von deutlich grösserer Tragweite wäre, weil es auch das Problem der Sozialversicherungen einschliesst, abgestützt auf die Finanzierung über Lohnanteile (was ein weiterer Vorteil eines Minimallohns wäre!): die breite und bessere Beteiligung am Mehrwert, am Reichtum, der im Land geschaffen wird. Tatsächlich ist der Anteil des Reichtums, der als Vergütung an die Arbeit geflossen ist, in den vergangenen 25 Jahren laufend zurückgegangen, zum Nutzen der Rendite, des Kapitalertrags, des Kapitals.
Ist der Mindestlohn ein ausreichendes Instrument, um das Phänomen der Working Poor zu bekämpfen?
Aus den bereits genannten Gründen glaube ich nicht, dass der Mindestlohn genügen würde, das Phänomen der Working Poor zu bekämpfen oder zu reduzieren. Auch weil dies nicht nur ein Problem der Löhne ist.
Wie beurteilen Sie den in der Volksinitiative enthaltenen Vorschlag, also einen gesetzlich verankerten Mindestlohn von 22 Franken in der Stunde (bzw. 4000 Franken im Monat bei 42 Stunden pro Woche), regelmässig an den Index angepasst, gültig für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?
Die Übergangsbestimmungen mit dieser Zahl sind keine solchen. Es muss laufend überprüft und angepasst werden. Das gehört aber nicht in die Verfassung. Der Vorschlag ist annehmbar, auch wenn der umstrittenste Punkt diese 4000 Franken sind, auf denen dann herumgeritten wird, statt dass man über den Grundsatz diskutiert, den die Initiative vorschlägt.
Was sind für Sie die Argumente, auf die man bei der Unterschriftensammlung Gewicht legen sollte?
Erstens: Die nötige Aufwertung der Arbeit, nach der Abwertung während der letzten 25 Jahre, sei es die Aufwertung als sozial-moralischer Wert, sei es als Wert der Entschädigung, des Geldes, für einen grossen Teil der Arbeitswelt. Zweitens: Wenn man weiter glauben will, dass das Wohl im wirtschaftlichen Wachstum liegt, sollte man zumindest mit einem Minimum an ökonomischer Logik zugeben, dass man ohne Neuverteilung des Produktionszuwachses nicht sehr weit kommen wird. Auch nicht, indem man weiterhin die Arbeit allein als Kostenfaktor betrachtet, den es zu senken gilt oder an einen Ort zu verlagern, wo er billiger ist. Das zeigen zahlreiche europäische Länder, die unter der Schuldenlast zerbrechen. Das zeigt auch die Schweiz, die ohne den Binnenkonsum und ohne die Fallschirme der Sozialwerke am Ende wäre.
Françoise Gehring / pmo