Zugsunglück mit Todesfolge

Die Suche nach dem Schuldigen

Unter Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern, die für sicherheitsdienstliche Verrichtungen zuständig sind, gilt seit jeher das makabere Sprichwort «Mit einem Bein im Grab, mit dem anderen im Knast». Gerade auch wegen letzterem Risiko sind wohl viele Kolleginnen und Kollegen treue Mitglieder des SEV. Sie wissen, dass sie auch als Angeklagte in einem Strafverfahren wegen eines Eisenbahnunfalls auf die wertvolle Unterstützung der SEV-Profis oder auf einen der erfahrenen SEV-Vertrauensanwälte zählen dürfen.

Sicher ist vielen der tragische Unfall von Zürich-Oerlikon vom Oktober 2003 noch in Erinnerung. Damals konnte der Regioexpress Zürich-Konstanz in Zürich-Oerlikon nicht rechtzeitig anhalten, und es kam zu einer Flankenfahrt in den entgegenkommenden Schnellzug Schaffhausen-Zürich. Ein Todesopfer, mehrere Verletzte und grosser Sachschaden waren die Folgen.

INFO

Das SEV-Rechtsschutzteam empfiehlt allen Kolleginnen und Kollegen, die bei einem Eisenbahnunfall möglicherweise als Angeschuldigte in ein Strafverfahren verwickelt sind:

  1. umgehend ein Gesuch um Berufsrechtsschutz einreichen und
  2. den UUS-Untersuchungsbericht dem vom SEV zugeteilten Anwalt oder dem/der zuständigen Gewerkschaftssekretär/in unverzüglich zustellen.

In die Strafuntersuchung waren mehrere Kollegen involviert. Der SEV gewährte ihnen Berufsrechtsschutz und beauftragte verschiedene Vertrauensanwälte, sie zu unterstützen. Gegen alle – bis auf einen – stellte die Staatsanwaltschaft die Untersuchung ein, da ihnen kein pflichtwidriges Verhalten nachgewiesen werden konnte. Bereits in dieser Phase haben die SEV-Vertrauensanwälte gute Arbeit geleistet.

Verhandlung vor dem Bezirksgericht

Die Staatsanwaltschaft glaubte den Schuldigen in der Person des Zugbegleiters gefunden zu haben und erhob am Bezirksgericht Zürich Anklage. Bei der Gerichtsverhandlung im April 2008 zeigte es sich, dass sich die Staatsanwältin weitestgehend auf den Bericht der Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe (UUS) stützte. Auf dieser Grundlage versuchte sie zu beweisen, dass ein pflichtwidriges Verhalten des Zugbegleiters zum erwähnten tragischen Unfall geführt habe (die Juristen sprechen hier von Kausalzusammenhang).

Nur am Rande sei vermerkt, dass in diesen Untersuchungsberichten einleitend jeweils vermerkt ist, dass der Bericht nicht dazu diene, Schuldige zu finden, sondern einzig und allein dazu, Sicherheitsempfehlungen an die Unternehmung abzugeben.

Der vom SEV beauftragte Anwalt zerzauste bei der Verhandlung den Untersuchungsbericht nach Strich und Faden. Er deckte darin enthaltene Widersprüche, Mutmassungen und diverse weitere Mängel schonungslos auf. Sein Plädoyer liess den angeklagten Zugbegleiter und die ebenfalls anwesenden Kolleg/innen, direkten Vorgesetzten und SEV-Sekretäre auf einen Freispruch hoffen.

In seinem Urteil stellte das Bezirksgericht wohl in einem Detail ein pflichtwidriges Verhalten fest, kam aber zum Schluss, dass es nicht zum Unfall geführt hatte. Das heisst, der Unfall wäre auch ohne diesen Fehler des Angeklagten nicht zu verhindern gewesen. Der Zugbegleiter wurde daher freigesprochen.

Nachdem bereits die mündliche Begründung dieses Freispruchs nicht ganz präzise gewesen war, schlich sich auch in die schriftliche Begründung des Urteils eine Ungenauigkeit ein. Deshalb und wohl auch getragen von der Idee, dass es für diesen Unfall doch einen Schuldigen geben müsse, zog die Staatsanwalt den Freispruch weiter.

Berufungsverhandlung vor dem Obergericht

Vor einigen Tagen stand unser Mitglied in Begleitung seines Anwalts, einer Gruppe von Kolleg/innen, direkter Vorgesetzter sowie Vertreter der SEV-Zentrale vor dem Obergericht des Kantons Zürich. Wie schon im ersten Verfahren vor dem Bezirksgericht stützte sich auch der Leitende Staatsanwalt auf den UUS-Bericht. Wiederum zeigte der SEV-Anwalt die gravierenden Mängel dieses Berichts auf. Es gelang ihm schlüssig zu beweisen, dass einzelne Feststellungen in diesem Bericht schlicht und einfach falsch oder bestenfalls Vermutungen sind. Im Rahmen der Urteilsbegründung folgten die beiden Richter und die Richterin der Beweisführung des SEV-Anwalts. Der Gerichtspräsident bezeichnete den UUS-Bericht gar als «unwissenschaftlich». Das Obergericht bestätigte deshalb einstimmig den Freispruch des Bezirksgerichts.

Es bleibt zu hoffen, dass die Staatsanwaltschaft endlich einsieht bzw. akzeptieren kann, dass die Schuldfrage bei diesem schweren Eisenbahnunfall ungeklärt bleibt, und auf einen Weiterzug vor Bundesgericht verzichtet. Für den angeklagten Zugbegleiter fände damit eine äusserst belastende Situation nach bald sechs Jahren ein gutes Ende.

René Windlin, SEV-Kompetenzzentrum Recht

Die Rolle der SBB: Fahrplan vor Sicherheit?

Vor dem Bezirks- und dem Obergericht wurde auch das Verhalten oder die Mitverantwortung der SBB thematisiert. Konkret ging es dabei um den Zeitpunkt der «Wirkungsbremsprobe» durch den Lokführer. Am Unglückszug waren zwischen dem ersten und dem zweiten Wagen die Bremshahnen geschlossen, so dass acht von neun Wagen nicht bremsten – trotz der Bremsprobe bei der Zugvorbereitung. Dies merkte der Lokführer zu spät, weil 2003 die Regel galt, bei der Abfahrt von Zürich die Wirkungsbremsprobe erst ausserhalb des am dichtesten befahrenen Bereichs vorzunehmen, also erst bei der Anfahrt auf Oerlikon oder Dietikon. Nach dem Unglück galt dann die Weisung, die Bremsprobe unmittelbar nach der Abfahrt durchzuführen. Doch inzwischen scheint die SBB diese Vorschrift wieder gelockert zu haben, wie der «Tages-Anzeiger» am 5. Juni gestützt auf Aussagen von Lokführern schrieb. Die SBB gewichte den Fahrplan stärker als die Sicherheit, kritisierte der SEV-Anwalt vor Obergericht: «Nichts gelernt und alles vergessen!» Dies dementierte SBB-Sprecher Daniele Pallecchi energisch: «Sicherheit steht bei uns immer zuoberst.» Der Bremstest müsse «unmittelbar nach der Abfahrt» erfolgen, aber wenn möglich nicht während der Fahrt über Weichen.

rw/Fi