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Matthias Hartwich

«Sie sind wie pervertierte Robin Hoods»

Matthias Hartwich hat vor zwei Jahren das Amt des SEV-Präsidenten übernommen. In diesen beiden Jahren ist viel passiert. Gerade die letzten Wochen geben wieder zu denken.

Matthias, seit der Machtübernahme von Donald Trump in den USA erleben wir bewegte Wochen. Es begann bereits mit der Amtseinführung, als Elon Musk den Hitlergruss zeigte. Was hat das bei dir ausgelöst?

Als in Deutschland Geborener ist das extrem widerwärtig zu sehen. Auch in Deutschland gibt es eine Partei, die den Hitlerfaschismus relativiert und mit Musk gemeinsam Wahlkampf betreibt. Das ist abstossend, weil sich Leute wie Musk nicht nur in den USA, sondern in ganz Europa in die Politik einmischen, nicht nur jetzt bei den Bundestagswahlen in Deutschland. Wir erleben Grenzüberschreitungen, die wir vor wenigen Jahren für undenkbar gehalten haben.

Parteien, die auf Autorität statt Demokratie setzen, haben in ganz Europa Aufwind. In Italien sind sie an der Macht, in Österreich kommen sie wahrscheinlich bald an die Macht. In den Niederlanden sind sie stärkste Partei, und in Schweden kontrollieren sie quasi die Regierung. Auch in Frankreich und Deutschland sind sie auf dem Vormarsch. Was bedeutet das für uns Gewerkschaften?

Gewerkschaften betreiben nicht Parteipolitik, aber diese Situation ist bedrückend. Rechtsextreme Parteien stehen in den meisten Fragen genau für das Gegenteil von dem, für das wir als Gewerkschaften einstehen. Diese Leute wollen die Gesellschaft entsolidarisieren. Wir wollen Solidarität, das Miteinander statt das Gegeneinander, für das diese Leute stehen. Sie sind für Liberalisierung, Privatisierung und schützen die Reichen statt die Armen. Sie sind wie pervertierte Robin Hoods: «Nehmt es von den Armen, gebt es den Reichen.» Steuergeschenke für Superreiche, höhere Krankenkassenbeiträge, Steuern und Abgaben für die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zugleich: Sie jammern ständig, man dürfe nichts mehr sagen. Das reden sie in jedes Mikrofon, in jede Kamera, um dann mit Ungeheuerlichkeiten die Meinungsfreiheit zu missbrauchen und zu untergraben.

In der Schweiz gibt es schon lange eine Regierungsmehrheit aus Mitte und Rechts. Diese Allianz polarisiert und ist immer weniger kompromissbereit, wie die Versuche, die Finanzierung der vom Volk beschlossenen 13. AHV zu hintertreiben, zeigen. Früher ist man eher aufeinander zugegangen. So ist die AHV nur entstanden, weil Rechte und Linke das Sozialwerk zusammen entwickelt haben. Wie beurteilst du die Situation hier?

Eine rechtsbürgerliche und liberale Regierung, wie sie die Schweiz kennt, ist weit entfernt von einer faschistischen Regierung. Anders als in manchen Gegenden Deutschlands oder anderen europäischen Ländern muss ich hier keine Angst um das Leben einer Freundin oder eines Freundes mit dunkler Haut haben, wenn er oder sie abends ausgeht. Doch die neoliberale Politik der letzten 40 Jahre hat wie überall in Europa auch in der Schweiz Spuren hinterlassen. Auch hier hat eine Umverteilung von unten nach oben stattgefunden: Der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Volkseinkommen ist auch hier gesunken. Rechtsextreme Parteien kritisieren aber nicht das Wirtschaftssystem, sondern sie suchen Sündenböcke. Sie geben den Migrantinnen und Migranten die Schuld an allem, was nicht gut läuft. Ich glaube, dass die Schweiz nicht in Gefahr ist, faschistisch zu werden. Wir müssen aber auch hier den Neoliberalismus stoppen, denn er ist die Ursache der gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Es geht nicht so sehr um Parteien, sondern um ein Umdenken: Extremer Reichtum ist fast nie das Ergebnis von Fleiss und harter Arbeit, sondern fast immer von Erben, Spekulation und Steuergeschenken.

Kürzlich in einer Umfrage einer Tageszeitung zum Thema Sparmassnahmen sahen Schweizerinnen und Schweizer an vielen Orten Sparpotenzial, aber kaum im öffentlichen Verkehr. Sind wir also im öV auf der sicheren Seite, wenn es um Einsparungen und Einschränkungen geht?

Leider ist niemand jemals sicher vor liberalisierungswütigen Leuten, ausser er oder sie ist Grosserbin oder Multimillionär. In Teilen der EU-Kommission sind Liberalisierung und Privatisierung schon fast religiös verehrte Dogmen. Das gilt leider auch für den öV, besonders für den Eisenbahnverkehr, sowohl beim Güter- als auch beim Personenverkehr. In unseren Nachbarländern werden die Bahnen quasi zerschlagen, der Güterverkehr von der Schiene auf die Strasse verlagert und die Privatisierung und Liberalisierung vorangetrieben, obwohl alle Studien zeigen, dass diese Konzepte überall krachend gescheitert sind. Für diese Fehler zahlen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dann einen hohen Preis und die Umwelt erst recht. Wo privatisiert und liberalisiert worden ist, muss die Bevölkerung für die marode Infrastruktur aufkommen und leidet unter schlechten, unpünktlichen und unwirtschaftlichen Angeboten. In der Schweiz ist die Ausgangssituation besser, unter anderem, weil Kooperation Vorrang vor Konkurrenz hat. Das heisst nicht, dass die Begehrlichkeiten nicht da sind. Die mögliche Öffnung des internationalen Personenverkehrs ist ebenso riskant wie die Versuche der Finanzministerin, im regionalen Personenverkehr Geld einzusparen. Letzteres würde bedeuten, dass entweder das Angebot und die Qualität oder die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten schlechter werden – oder beides. Wir müssen also auch hier wachsam bleiben.

Du hast vor zwei Jahren, als du das Amt des SEV-Präsidenten angetreten hast, gesagt: «Ohne Reibung keine Funken.» Das heisst, wir müssen kämpferisch sein, um das Feuer der Leidenschaft für unsere Branche zu entfachen. Was sagst du heute?

Kampf ist ja kein Selbstzweck. Ein Feuer kann wärmen und Licht in der Nacht geben, aber es kann auch ausser Kontrolle geraten und das Erworbene zu Asche verbrennen. Als demokratische Organisation brauchen wir den Diskurs, die Auseinandersetzung nach innen und aussen, aber auch die Fähigkeit, Kampagnen und Kämpfe erfolgreich zu führen, um die Ziele unserer Mitglieder zu erreichen. Glücklicherweise ist das wichtigste Ziel unserer Mitglieder auch ganz im Sinne der Schweizer Bevölkerung, nämlich einen qualitativ hochwertigen öV zu liefern. Das hat seinen Preis und braucht gesellschaftliche Auseinandersetzung. Da sind wir als SEV jeden Tag gefordert. Und wenn es nötig ist, schlage ich dafür gern Funken; dann muss man manchmal eben auch der sein, der das Feuer entfacht.

Michael Spahr