Drohende Massenentlassung
Stahlwerk Gerlafingen: umwelt- und systemrelevant
Stahl Gerlafingen produziert aus Schrott Recycling-Stahl, was zu einer umweltfreundlichen Bauwirtschaft beiträgt. Doch das Werk leidet – wie das zweite verbliebene Schweizer Stahlwerk in Emmenbrücke – unter hohen Strompreisen, Billigkonkurrenz und Exporthemmnissen. Darum droht eine Massenentlassung und womöglich gar die Schliessung des Werks. Dagegen wehren sich Personal, Gewerkschaften und Regionalpolitik und fordern bessere Rahmenbedingungen für die Herstellung von «grünem Stahl» in der Schweiz.
Das Stahlwerk im Kanton Solothurn wurde 1996 schon einmal in extremis gerettet und gehört heute zur italienischen Beltrame-Gruppe. Obwohl China den Weltmarkt schon länger mit Billigstahl überschwemmt, war das Werk 2022 noch rentabel, doch 2023 resultierte ein Verlust von 60 Mio. Franken (Solothurner Zeitung = SZ vom 13.10.2024), vor allem wegen der infolge des Ukrainekrieges gestiegenen Stromkosten und wegen Wettbewerbsverzerrungen durch die Europäische Union.
Abbau von 95 Stellen
National bekannt wurde der Ernst der Lage am 15. März 2024, als die Werkleitung ankündigte, die Produktionsstrasse für Profilstahl zu schliessen, um den Mittelabfluss zu stoppen. Hergestellt wurden dort Stahlträger für den Bau, die grösstenteils exportiert wurden, bis die EU ab Sommer 2023 Stahlimporte faktisch verbot. Die EU fördert ihre Stahlindustrie unter anderem auch durch Steuererleichterungen und Deckelung der Strompreise. Diese sind für die Schweizer Stahlwerke viel höher. Die Werkleitung kritisierte vor allem die «horrenden» Netzbeiträge an die Energiewirtschaft.
Personal, Gewerkschaften und Politiker:innen forderten vom Bund Notmassnahmen, doch davon wollte Wirtschaftsminister Guy Parmelin nichts wissen, weil die Stahlindustrie nicht systemrelevant sei. Dem widersprach Andreas Steffes, Geschäftsführer des Verbands Metal.Suisse: Dank dem Baustahl aus Gerlafingen hätten zu Beginn der Coronakrise und des Ukrainekrieges keine Baustellen stillgelegt werden müssen wie im nahen Ausland. Zudem sei die Verarbeitung von Schrott zu hochwertigem Spezialstahl in Gerlafingen und bei Swiss Steel in Emmenbrücke viel umweltfreundlicher als die Roheisenerzeugung aus Erzen im Hochofen und verdiene staatliche Förderung. Deutschland zum Beispiel subventioniere den Bau von Elektrolichtbogen-Öfen (SZ vom 19. März).
Als Ende April das Konsultationsverfahren mit den Gewerkschaften abgeschlossen war und vom Bund keine Nothilfe kam (ausser der Möglichkeit von Kurzarbeit), setzte Stahl Gerlafingen den Abbau per Ende Mai um. Von rund 600 Stellen wurden 95 gestrichen, neben «natürlichen Abgängen» gab es 68 Kündigungen.
Zweite Massenentlassung?
Wegen weiterhin tiefroter Zahlen kündigte das Werk am 11. Oktober an, bis Ende Jahr weitere 120 Stellen abzubauen – nach der Konsultationsfrist Mitte November. Zudem wurde praktisch die ganze Belegschaft in Kurzarbeit geschickt, vorerst bis Ende Oktober. Konzern-Präsident Antonio Beltrame sagte, die Zukunft des Werks hänge nun von politischen Entscheidungen ab. Ohne Änderungen der Rahmenbedingungen sei das Risiko einer Werkschliessung gross. Man verlange keine Subventionen, sondern nur gleiche Wettbewerbsbedingungen wie für die Konkurrenz im Ausland, vor allem beim Strompreis: Der Konzern habe 2023 in der Schweiz 143 Euro pro Megawattstunde bezahlt, in Italien 88 Euro und in Frankreich 30 Euro …
«Grüner Stahl»
Beltrame zeigte sich enttäuscht über die fehlende Unterstützung des Bundesrats, denn das Werk sei für die Kreislaufwirtschaft wichtig. Rund 440 Mio. Franken habe der Konzern bisher in Gerlafingen investiert, auch zur Reduktion des CO₂-Ausstosses. Mit 368 Kilogramm CO₂ pro Tonne zähle das Werk zu den umweltfreundlichsten in Europa (SZ vom 13.10.). Es recycelt jährlich 700 000 Tonnen Stahlschrott, wovon die Hälfte per Bahn angeliefert wird. Bei seiner Schliessung würden rund 50 000 zusätzliche Lastwagenfahrten ins Ausland nötig. Auch für den Solothurner Regierungsrat ist klar: Das Werk trägt zur Versorgungssicherheit, Kreislaufwirtschaft und Schonung der natürlichen Ressourcen bei. Darum setzte er sich beim Bundesrat für eine Befreiung des Werks von der Winterreserve-Abgabe an die Energieversorger ein gegen das Versprechen, bei einer Mangellage vom Netz zu gehen (SZ vom 25.10.).
Die Mitarbeitenden und ihre Gewerkschaften lancierten eine Petition mit der Forderung an die Beltrame-Gruppe, auf Entlassungen zu verzichten und Kurzarbeit anzuordnen. Von der Politik fordert die Petition verbindliche Vorgaben für die Verwendung von emissionsarmem Recycling-Stahl im öffentlichen Beschaffungswesen und in der gesamten Bauwirtschaft.
Am 21. Oktober forderten fast alle 500 Mitarbeitenden und die Geschäftsleitung mit den Gewerkschaften und Politer:innen vor dem Bundeshaus in Bern Massnahmen des Bundes. Am 7. November übergaben Mitarbeitende in Bern die Petition mit 15 129 Unterschriften an Bundesrat Parmelin und am 9. November in Gerlafingen an die Werkleitung anlässlich einer Kundgebung mit 1000 Teilnehmenden. Sie unterstrichen die Bedeutung des Werks und des Wissens der Arbeiter:innen für die Recycling-Stahlindustrie in der Schweiz. Nun liegt der Ball bei der Bundespolitik. In mehreren parlamentarischen Kommissionen ist das Thema auf der Tagesordnung, vor allem eine rasche Reduktion der Stromnetzgebühren.
Markus Fischer
Wichtiger Bahnkunde
Beim Transport von Schrott, anderen Rohstoffen und Stahlprodukten ist Stahl Gerlafingen ein wichtiger Bahnkunde. «Das Stahlwerk Gerlafingen ist also auch für Bähnler:innen wichtig», sagt SEV-Gewerkschaftssekretär Philipp Hadorn. Er schätzt die Bedeutung für SBB Cargo auf jährlich um die 10 000 Wagen mit einem Umsatz von 10 Millionen Franken. Kostendeckende Tarife sind nicht tragbar für das Stahlwerk, nicht-kostendenkende nicht für SBB Cargo. «Die Politik muss Service public definieren, samt dessen Finanzierung», findet Hadorn. «Nur so kann die Verlagerung auf die Schiene Erfolg haben und damit zur Erreichung der Klimaziele beitragen.»