Auf den Spuren von …
Markus Senn, Frequenzerheber
Markus Senn arbeitet bei der SBB in der Frequenzerhebung (FQ): Er kontrolliert Billette, erfasst deren Art und die Fahrwege der Reisenden, die Sitzbelegung, Hunde, Velos. Daneben gibt er Auskünfte, hilft beim Ein- und Aussteigen usw. Dieser Kundenservice steht allerdings im Widerspruch zu Mengenvorgaben für die Billetterfassung. Und der Lohn ist vergleichsweise tief.
Ich treffe Markus Senn im Café Brésil beim Bahnhof Biel. Er zeigt mir auf dem Handy seine Tour an diesem Samstag: 15.16 ab mit dem ICN nach Genève-Aéroport, an 16.56. Acht Minuten später zurück nach Biel, an 18.43. Nach zwei Stunden Pause nimmt er um 20.50 den Zug nach Neuenburg, an 21.21 – ab 21.36 zurück nach Biel, an 22.07. Zum Schluss fährt er noch Solothurn retour und hat um 00.29 Feierabend.
Die Stunde bis zum Dienstantritt um 15.01 Uhr vergeht im Flug, denn das wechselvolle Berufsleben des 58-Jährigen, bevor er vor 16 Jahren bei der SBB als Quereinsteiger begann, und seine Hobbys Musik, Informatik und Campingreisen bieten abendfüllenden Gesprächsstoff. Eigentlich wollte er Musiker werden wie der Vater, lernte mit sieben Jahren klassische Klarinette und später weitere Blasinstrumente, spielte alle Saxophontypen, war Chorleiter und komponiert bis heute Musikstücke aller Art, etwa Electronic Dance Music (siehe youtube.com/c/markussenn). Doch das Konservatorium blieb für ihn aus finanziellen Gründen nur ein Traum. Er lernte Bäcker und zog die drei Jahre trotz Mehlstauballergie durch. Nach dem Abschluss wechselte er den Beruf und wurde Magaziner bei der EPA. Vier Jahre später absolvierte er bei einer Versicherung die Ausbildung zum eidgenössischen Versicherungsinspektor und betreute Grossfirmen. Als er nach über zehn Jahren plötzlich von Tür zu Tür Verträge akquirieren sollte, wehrte er sich und wurde gekündigt. Nun machte er sein zweites Hobby zum Beruf: Nachdem er in den 80er-Jahren Commodore-Rechner zusammengelötet und später als Mitglied eines Clubs Firewalls geknackt hatte («immer ohne Schaden anzurichten»), wurde er IT-Verantwortlicher bei einer Unternehmung für Firmenliquidationen. Er stellte Daten auf PCs sicher, betreute die Webseite und über 80 Mitarbeitende, führte sie in neue Software ein. Der 150-Prozent-Job war gut bezahlt, endete aber nach ein paar Jahren wegen Meinungsverschiedenheiten abrupt.
Damals bewarb er sich bei der SBB als FQ-Mitarbeiter – eine Funktion, die er von seiner Partnerin kannte, einer langjährigen, inzwischen pensionierten SBB-Mitarbeiterin. Nach zwei Monaten Ausbildung und den Prüfungen u. a. in Geografie wurde er fest angestellt. Heute hat er ein 70-Prozent-Pensum und kümmert sich daneben als Hauswart um drei Gebäude mit 28 Wohnungen und 1500 m² Rasen. Kundenbegleiter kann er wegen einer Sehbeeinträchtigung nicht werden. 100 Prozent FQ könnte er sich kaum vorstellen. Der stundenlange intensive Umgang mit Zahlen führt dazu, dass er nach Spätschichten manchmal kaum Ruhe findet und schlecht schläft. Deshalb sind fünf FQ-Tage am Stück für ihn die obere Grenze. Belastend findet er auch kurze Ruheschichten von 12 oder gar 11 ½ Stunden. FQ-Schichten gibt es fast rund um die Uhr: Manchmal nimmt er in Biel um 3 Uhr früh das Taxi nach Le Locle oder kommt erst nach 2 Uhr zurück nach Biel.
An der FQ-Arbeit gefällt ihm die Selbstständigkeit und der Kontakt zu unterschiedlichsten Leuten aus verschiedensten Ländern. Weniger gefällt ihm die Einreihung im Anforderungsniveau D (51 636 – 75 776 Franken bei 100 %) trotz hoher Anforderungen: Man braucht ein ausgesprochenes Zahlenflair und muss die Geografie und das Bahnnetz gut kennen, um Verbindungen richtig im Elaz-Gerät (Elektronischer Assistent Zugpersonal) zu erfassen, wie auch die Billette und den öffentlichen Verkehr allgemein, um Kundenfragen kompetent beantworten zu können. Gefragt sind zudem gute Deutsch-, Französisch- und Englischkenntnisse, etwa in Zügen nach Interlaken, die auch zum Bieler Rayon gehören. Dieser reicht von Genf über Lausanne bis Brig, über Zürich und Luzern bis Konstanz oder Chur und im Jura bis Basel, Pontarlier oder Delle. «Die SBB nutzt es aus, dass Teilzeitarbeitende auf den Job angewiesen sind und sich darum nicht wehren.» Dass der Depotcoach gestrichen wurde und Informationen zunehmend selbständig zusammengesucht werden müssen, vereinfacht die Arbeit nicht.
Für Markus Senn ist es eine Ehrensache, der Kundschaft einen guten Service zu bieten. Darum nimmt er sich die nötige Zeit für Auskünfte oder um einer älteren Dame beim Aussteigen zu helfen, auch wenn er so gegenüber der Leistungsvorgabe von drei bis vier erhobenen Billetten pro Minute in Rückstand gerät. Die Vorgesetzten können die Zahl der erfassten Billette live kontrollieren, doch Markus Senn lässt sich dadurch nicht beirren.
Im ICN nach Yverdon zeugt sein professioneller Umgang mit den Reisenden von langer Erfahrung, Kontaktfreudigkeit und Menschenkenntnis. Eine gestiegene Aggressivität gewisser Kunden hat auch er festgestellt, ist aber bisher nur gelegentlich verbal attackiert worden. Weibliche FQ-Mitarbeitende würden wohl allgemein öfter angegriffen, denkt er.
Dem SEV ist er von Anfang an beigetreten, «weil die Gewerkschaft die Mitarbeitenden bei ihren Anliegen nur unterstützen kann, wenn sie die Gewerkschaft unterstützen».
Markus Fischer