Tag der Arbeit
Kämpferischer 1. Mai 2024
Am Tag der Arbeit waren Zehntausende an rund 50 Kundgebungen unterwegs und forderten «Prämien runter, Löhne rauf!». Auch der SEV markierte eine starke Präsenz.
In Bern, Bellinzona, Biel, Chur, Freiburg, Genf, Lausanne, Olten, Rapperswil-Jona, Solothurn und Zürich wehen am 1. Mai die Fahnen des SEV. Solidarisch mit Mitgliedern von anderen Gewerkschaften fordern sie die Erhöhung der Reallöhne, die in verschiedenen Branchen seit Jahren sinken. Ausserdem verlangen sie gerechtere Krankenkassenprämien, die die Haushaltskassen weniger stark belasten.
«Viele Patrons, bürgerliche Politikerinnen und Versicherungen singen uns das Entsagungslied», sagt SEV-Präsident Mattias Hartwich in seiner Rede an der Veranstaltung in Biel. «Wir sollen verzichten, damit sie mehr haben vom gesellschaftlichen Reichtum, den wir erarbeiten. Sie singen: ‹Wenn ihr brav verzichtet, wenn die Reichen mehr haben, dann wird es später allen besser gehen.› Das ist eine Lüge, denn wenn die Reichen reicher werden, werden die Reichen reicher und sonst niemand. Unser Anteil am erarbeiteten Reichtum der Gesellschaft sinkt seit Jahrzehnten. Dabei schaffen wir den Wohlstand. Es ist Zeit, dass sich das wieder ändert und dass auch wir alle wieder einen gerechten Anteil am Wohlstand erhalten.» Zudem fordert er bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Verkehr, um den Personalmangel zu bekämpfen, statt drohenden Kürzungen im regionalen Personenverkehr.
In Rapperswil-Jona hält Valérie Boillat ihre erste Rede als neue SEV-Vizepräsidentin und ruft zur Senkung der Krankenkassenprämien auf: «Eine Erhöhung der Beiträge um durchschnittlich 8,7 Prozent ist nicht mehr zu verkraften. Am 9. Juni können wir ein Zeichen setzen, indem wir Ja zur Prämien-Entlastungs-Initiative sagen.» Sie betont, wie wichtig es ist, dass die Arbeitnehmenden am 1. Mai auf die Strasse gehen: «Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte, Würde, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz – das sind Werte, auf die wir stolz sein müssen. Anders als das Streben nach kurzfristigem Profit sind unsere Werte ein starkes Gegenmittel gegen Hilflosigkeit, Unsicherheit, Lähmung und Resignation, ein Gegengift zur Kaufkraftkrise, Sinnkrise, Klimakrise etc.»
In Zürich hält SGB-Chefökonom Daniel Lampart in seiner Rede fest: «Branchen, die nicht überlebensfähig sind, zahlen den Verantwortlichen die höchsten Löhne. In Branchen, die für uns überlebenswichtig sind, ist das leider anders. Hier werden teilweise Löhne bezahlt, die kaum zum Leben reichen – trotz Lehre. Das muss sich ändern: im reichsten Land der Welt müssen 5000 Franken Lohn mit Lehre das Minimum sein.» Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen werden in Bern, Biel und Schaffhausen am 1. Mai Initiativen für einen Mindestlohn auf kommunaler Ebene gestartet.
Michael Spahr
Rede von SEV-Präsident Matthias Hartwich in Biel:
Impressionen aus der ganzen Schweiz
SGB-Verteilungsbericht 2024
Nur Topverdienende erhielten mehr Lohn
Die unteren und mittleren Reallöhne stagnieren, die Last der Krankenkassen-Prämien wird untragbar. Die Einkommens- und Abgabenpolitik in der Schweiz geht klar in die falsche Richtung. Leidtragende sind diejenigen mit un-teren und mittleren Einkommen. Profiteure sind die Topverdiener:innen und Gutsituierten. Die obersten Löhne sind stark gestiegen. Die Firmen schütten mehr Dividenden aus. Und die Kantone senken die Steuern für hohe Einkommen und Vermögen. Das zeigt der Verteilungsbericht, den der SGB am 29. April den Medien vorstellte. Es braucht eine Wende in der Lohn- und Einkommenspolitik, damit alle, die Tag für Tag hart für ihr Geld arbeiten müssen, finanziell gut über die Runden kommen.
Bei den unteren und mittleren Reallöhnen droht ein «verlorenes Jahrzehnt»: Real sind sie heute nicht wesentlich höher als im Jahr 2016. Hauptgrund ist, dass viele Arbeitgeber ihren Kunden zwar höhere Preise verrechneten, aber nicht bereit waren, ihrem Personal den Teuerungsausgleich zu gewähren. Die Kader und Topverdienernden hingegen (oberstes Prozent der Löhne) haben heute 3000 Franken pro Monat zusätzlich. Erstmals haben in der Schweiz über 4000 Personen ein Jahresgehalt von einer Million Franken und mehr. «Von der Individualisierung der Lohnpolitik über Bonuszahlungen in den Firmen profitieren Kader und Topmanager überproportional», hält SGB-Chefökonom Daniel Lampart, fest. «Damit auch die Arbeitnehmenden mit normalen Löhnen etwas vom Wohlstand haben, den sie erwirtschaften, braucht es wieder mehr allgemeine Lohnerhöhungen.»
Ungerechte Abgabenpolitik korrigieren
Auch die Steuer- und Abgabenpolitik spielte den Gutsituierten in die Hände. Die Kantone haben wieder damit begonnen, die Einkommens- und Vermögenssteuern zu senken. Weitere Steuersenkungen sind geplant. Auf der anderen Seite wiegt die Krankenkassen-Prämienlast für die unteren und mittleren Einkommen immer schwerer – auch weil die Kantone die Prämienverbilligungen nur schwach erhöhen. Eine vierköpfige Familie zahlt heute mehr als 1000 Franken pro Monat für die Krankenkasse, auch wenn sie ein Hausarzt- oder HMO-Modell gewählt hat. «Statt die ungerechte Verteilung der Einkommen zu korrigieren, verstärkt die aktuelle Abgabenpolitik die Ungleichheiten, vor allem weil die ungerechten Kopfprämien ungebremst steigen», sagt SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard.
Normal- und Geringverdienende haben deshalb heute nach Abzug der Steuern und Wohnkosten weniger Geld zum Leben als im Jahr 2016. Die Topverdiener-Haushalte hingegen stehen finanziell besser da. Ihre Bruttoeinkommen stiegen. Und weil die Schweiz das Gesundheitswesen als einziges Land in Europa über eine Kopfsteuer finanziert, müssen sie sich weniger an der Entwicklung der Gesundheitskosten beteiligen als anderswo.
Entlastung bei den Krankenkassenprämien und markant höhere Löhne nötig
In der Abgabenpolitik müssen die Kopfsteuern bei den Krankenkassenprämiengesenkt werden – über höhere Prämienverbilligungen, wie es die Prämien-Entlastungs-Initiative vorsieht: Niemand soll mehr als 10 % des Einkommens für die Prämien ausgeben müssen. Die geplanten Senkungen der Einkommens- und Vermögenssteuern hingegen gehen in die falsche Richtung, denn sie stellen jene noch besser, die es nicht nötig haben.
Die Reallöhne der Normal- und Wenigverdienenden müssen markant steigen. Wer eine Lehre gemacht hat, soll mindestens 5000 Franken pro Monat verdienen, und generell müssen die Löhne mindestens 4500 Franken betragen. Diese Lohnerhöhungen sind betriebswirtschaft-lich möglich, denn die Erträge und Margen der Firmen sind gut. «Um die Lohnlücke zu schliessen, braucht es in diesem Lohnherbst substanzielle Lohnerhöhungen, vor allem bei den unteren und mittleren Löhnen und bei den so-genannten Frauenberufen mit zu tiefen Löhnen», sagt SGB-Vizepräsidentin Vania Alleva.