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Mutterschaft und Arbeit: «Es fehlen noch immer 20% des Lohns»

Am 7. Februar fand eine Konferenz zum Thema Mutterschaft und Arbeit statt, organisiert von der Hochschule für Gesundheit Waadt (HESAV) und Unisanté. Ein Rückblick mit der Organisatorin Isabelle Probst, Psychologin und assoziierte Professorin der HESAV (mit Unterstützung von Peggy Krief, Maria-Pia Politis Mercier und Alessia Abderhalden-Zellweger).

Kann eine schwangere Frau sich leicht über ihre Rechte vor und nach der Geburt informieren?

Isabelle Probst: Nein. Die Schutzbestimmungen über Schwangerschaft und Mutterschaft sind auf verschiedene Gesetze und GAV verteilt. Dieses komplexe System macht es den Arbeitnehmerinnen nicht leicht, sich zu orientieren, ihre Rechte zu kennen und auch zu nutzen. Selbst die Arbeitgeber sind nicht wirklich auf dem Laufenden.

Welche Konsequenzen hat eine Schwangerschaft für die Arbeit?

Die Ökonomin Melania Rudin vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) präsentierte die Resultate einer Studie, die sie 2017 mit rund 3000 berufstätigen schwangeren Frauen durchgeführt hatte. Zwar besteht ein Kündigungsschutz während der Schwangerschaft sowie für 16 Wochen nach der Geburt. Trotzdem erhalten 3% der Frauen danach die Kündigung und 10% kündigen selbst, u.a. weil die Arbeitsbedingungen nicht angepasst wurden oder die Arbeitszeiten nicht vereinbar sind.

Und wie wirkt sich eine Schwangerschaft auf den Lohn aus?

Die Studie vom BASS hat ergeben, dass ein Viertel der Frauen während der Schwangerschaft mit Lohneinbussen zu kämpfen hat – das ist bei Weitem kein vernachlässigbarer Anteil! Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits kommt es während der Schwangerschaft oft zu Krankmeldungen bzw. Arbeitsunfähigkeit, sei es aufgrund von Komplikationen oder ungeeigneter Arbeitsbedingungen. Das Gehalt ist dann meist nur zu 80% gedeckt. Ausserdem sehen Arbeitsgesetz (ArG) und Mutterschutzverordnung einen präventiven Urlaub vor. Der Arbeitgeber muss eine Risikoanalyse in Bezug auf Schwangerschaft und Mutterschaft am Arbeitsplatz durchführen und die Arbeitsbedingungen anpassen oder die Angestellte an einen sicheren Arbeitsplatz versetzen. Ist dies unmöglich oder vernachlässigt der Arbeitgeber seine Pflichten, darf die Arbeitnehmerin zu Hause bleiben und hat Anspruch auf 80% ihres Lohnes.

Gilt dies auch im öffentlichen Verkehr?

Ja, auch dort hat der Arbeitgeber die Risiken abzuwägen, wobei der Arbeitszeitgestaltung besondere Aufmerksamkeit gilt. Er ist verpflichtet, die Gesundheit seiner schwangeren Angestellten zu schützen und die nötigen Schutzmassnahmen frühzeitig zu ergreifen.

Ist der Präventivurlaub überhaupt bekannt?

Nein, er ist kaum bekannt und wird nur selten angewendet. Die meisten Frauen lassen sich normal krankschreiben, aus Angst vor einer Kündigung oder weil sie beim Arbeitgeber keinen schlechten Eindruck hinterlassen wollen. In der Schweiz gibt es keinen Mutterschaftsurlaub vor der Geburt. Der reguläre Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen zu 80% des Lohnes – manche GAV sehen eine höhere Lohnfortzahlung vor – kann erst nach der Entbindung bezogen werden.

Frauen haben also noch immer eine teilweise Lohneinbusse …

Ja, auch wenn es unglaublich ist, dass bei Schwangerschaft und Geburt noch immer 20% des Lohnes fehlen. Dies ist auch bei den Mutterschaftsgeldern der Fall, es gibt eine Art Bestrafung. Mutterschaft bzw. Elternschaft gilt weiterhin als persönliche Entscheidung und ist somit Privatsache. Doch genau davon müssen wir wegkommen: Die Vereinbarkeit von Schwangerschaft und Mutterschaft mit der Arbeit ist nicht nur das Problem der Frau. Es ist keine private Frage, sondern eine öffentliche und kollektive.

Inwiefern beeinträchtigt dies die Gesundheit?

Weil die Sozialversicherungen Lohnausfälle während der Schwangerschaft nur ungenügend decken, arbeiten viele Frauen weiter. Viele fürchten sich vor Lohneinbussen oder einem schlechten Verhältnis zum Arbeitgeber. Auch auf politischer Ebene fehlen entschiedene Präventivmassnahmen am Arbeitsplatz. All dies gefährdet einen Teil der Frauen und ihre Kinder.

Wie liesse sich dieses Problem lösen?

Es bräuchte einen Mutterschaftsurlaub vor der Geburt, und die Arbeitgeber müssten sich ihrer Verantwortung bewusster werden. Nur so könnten sie die nötigen Schutzmassnahmen in ihren Unternehmen umsetzen, wie es das Gesetz vorsieht. Zwar sind sie gesetzlich dazu verpflichtet, doch bekommt man immer wieder den Eindruck, der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sei eine freiwillige Option. Zudem gibt es keine Strafen.

In Québec ist die Situation anders …

In der Tat! Anne Renée Gravel, Professorin aus Montréal, sprach in ihrem Vortrag über das dortige Gesetz zum Präventivurlaub für schwangere Angestellte, das Teil der Gesetzgebung über Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ist. Missachtet ein Arbeitgeber die Regeln, wird er sanktioniert.

Was sagt dieses Gesetz genau aus?

Seit 1981 sieht der Artikel 40 vor, dass eine schwangere Arbeitnehmerin eine Versetzung fordern darf. Dafür braucht es eine Bescheinigung, dass die bisherigen Arbeitsbedingungen eine Gefahr für die Mutter oder das ungeborene Kind darstellen. Ist eine Versetzung an einen sicheren Arbeitsplatz nicht möglich, hat die Arbeitnehmerin als letzte Massnahme das Recht, ihre berufliche Tätigkeit bis zur Geburt des Kindes zu unterbrechen – zu 90% des Nettolohns. Der Arbeitgeber ist also gesetzlich verpflichtet, die Arbeitsbedingungen anzupassen.

In Québec ist das fast schon zur Routine geworden, oder?

Ja, das stimmt. Es hat sich durchgesetzt, dass die Anstellung über längere Zeit fortgeführt wird. Immer mehr Teams organisieren sich fast schon automatisch, verteilen Aufgaben neu oder passen diese an, wenn eine Kollegin schwanger wird.

Welche Erkenntnisse brachte die Konferenz in Bezug auf das Stillen hervor?

Seit 2016 sieht ein neues Gesetz reduzierte Arbeitszeiten vor, um der Frau die Möglichkeit zu geben, Milch abzupumpen oder bei der Arbeit zu stillen. Dieses Gesetz ist jedoch noch sehr unbekannt; die Stillerleichterung wird an vielen Arbeitsplätzen nicht oder nur ungenügend umgesetzt. Die Arbeitsplätze werden schon vor der Geburt nur selten richtig angepasst – bei der Rückkehr nach der Geburt ist es noch schlimmer. «Das Stillen ist der arme Vetter unter den armen Vettern», fasste Brenda Spencer von Unisanté in ihrem Vortrag zusammen.

Und was ist eigentlich mit den Vätern?

Fortpflanzungsmedizinische Fragen betreffen auch die Väter! Laut Tony Musu vom europäischen Gewerkschaftsinstitut braucht es ein grösseres Bewusstsein, insbesondere, was den Kontakt von künftigen Vätern mit giftigen chemischen Substanzen betrifft. Manche Arbeitsplätze bergen reproduktionstoxische Risiken, welche die Fruchtbarkeit beeinträchtigen oder zu Missbildungen führen können. Durch beschädigte männliche Samenzellen oder zu langes Sitzen von über sechs Stunden kann es zu Fehlgeburten kommen. Diese Realität wird gerne unter den Teppich gekehrt. Auch die Frage nach dem Elternurlaub ist in der Schweiz nicht zufriedenstellend gelöst. Ob die Frau nach der Geburt wieder arbeiten kann, auch wenn sie noch stillt, hängt überdies von der Unterstützung des Partners ab, auch wenn Teilzeitarbeit nicht immer möglich ist.

Welche Lösungsvorschläge wurden genannt?

Manche Gesetze existieren bereits. Hier braucht es ein starkes politisches Engagement, damit sie auch wirklich umgesetzt werden. In erster Linie müssen mehr Kontrollen durchgeführt werden, dazu braucht es mehr personelle Ressourcen, Spezialisten und drastischere Sanktionen. Auch die Unterstützung der Gewerkschaften ist wichtig, damit die Rechte am Arbeitsplatz respektiert werden und die Gesundheit der betroffenen Personen ausreichend geschützt wird. Zudem ist es dringend nötig, das Bewusstsein für potenzielle Kindsgefährdungen zu steigern (Missbildungen, Frühgeburten, Krebs, Komplikationen, etc.) und die Gesundheit der Frauen ernst zu nehmen. Die Präventionskosten müssen solidarisch geteilt werden, um kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen. Nicht zuletzt ist Personalabbau nicht förderlich, wenn man Arbeitsplätze anpassen will. Ist ein Team bereits unterbesetzt, stellt ein Mutterschaftsurlaub womöglich das ganze Team auf den Kopf.

Yves Sancey/Übersetzung: Karin Taglang


Es gibt nur eine Gesundheit

Kommentar von Lucie Waser, Gewerkschaftssekretärin SEV, zuständig für die Chancengleichheit

Der Gesundheitsschutz ist durch die Coronakrise zum Thema geworden, und das ist den Gewerkschaften zu verdanken. Die Arbeitgeber verstehen, dass der Schutz von Angestellten ein Wert darstellt. Damit werden hoffentlich auch Frauen* in der Schwanger- und Mutterschaftsphase nicht mehr als Exotinnen abgestempelt. Es ist irre, dass Kinder in der modernen Zeit zum Problem wurden, wohingegen sie über tausende von Jahren keines waren, sondern schlicht zum Leben dazu gehörten.

Es wird immer Regelungen für schützenswerte Menschen brauchen, denn die Menschen sind nicht alle gleich. Zu den schützenswerten Angestellten zählen nicht nur die Schwangeren, die ein neues Leben in sich tragen, sondern auch Menschen mit Erkrankungen. Schwangerschaft ist aber keine Krankheit, sondern etwas ganz Normales. Der SEV engagiert sich in allen Betrieben dafür, dass das Arbeitsgesetz eingehalten wird, und erkämpft in den GAV zusätzliche Verbesserungen. Viele öV-Betriebe haben wegen den Diskussionen mit uns erkannt, dass Familienfreundlichkeit den Arbeitgeber attraktiv macht und sinnvolle Regelungen auf allen Seiten das Leben vereinfachen. Der SEV wird sich auch in Zukunft für Gesundheitsthemen engagieren, denn es gibt nur eine Gesundheit.

Solidaritätsfonds des SEV-LPV

Wo liegt für Lokführer/innen der Unterschied zwischen dem LPV und dem VSLF? «Als Mitglied im LPV-SEV profitierst du von Leistungen aus dem Solidaritätsfonds, dem Solifonds», erklärt Hanny Weissmüller, Lokführerin bei der SBB und Vertreterin des LPV in der Frauenkommission des SEV.

«Dieser Fonds ist eine Versicherung für den Fall einer Arbeitsverhinderung wegen Krankheit oder Unfall, Schwangerschaft und der anschliessenden Stillzeit. Er federt beispielsweise einen Teil des Rückgangs der Nacht- und Sonntagszuschläge ab. Im ersten Jahr beträgt der monatliche Anspruch immerhin 400 Franken. Aus diesem Grund sind die Mitgliederbeiträge beim LPV auch höher als diejenigen beim VSLF. Kürzlich haben zwei Lokführerinnen in der Romandie ein Kind bekommen. Diejenige, die Mitglied beim VSLF ist, sah neidvoll auf ihre Kollegin im LPV.»

Lokführerinnen der SBB legen ihre Arbeit im Führerstand nieder, sobald ihre Schwangerschaft bekannt ist, und arbeiten fortan im Büro. «Neben der Entschädigung gibt es auch die Kinderbetreuung zu regeln, je nach Organisation in der Familie», führt Hanny weiter aus. «Nach dem Mutterschaftsurlaub können Frauen, die ihr Kind stillen, nicht fahren, denn die Dienstpläne tragen diesem Umstand nicht Rechnung.» Daher besteht auch das Risiko, dass junge Lokführerinnen länger als zwölf Monate nicht mehr fahren können. «Dann müssen sie die Theorieprüfungen wiederholen und erneut einen Kontrollkurs absolvieren. Unter diesen Umständen ist der Beruf für junge Frauen mit Kinderwunsch sicher nicht interessant.»

Vivian Bologna/chf