Eidgenössische Abstimmungen
«Das Risiko von Dumping würde zunehmen»
Die Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung», auch «Begrenzungsinitiative» genannt, kommt am 27. September vors Volk. Sie will aber nicht den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte einschränken, sondern die flankierenden Massnahmen abschaffen. Mit ihrer «Kündigungsinitiative» will die SVP den Arbeitsmarkt deregulieren – zum Schaden aller Arbeitnehmenden, die nicht mehr durch Lohnkontrollen geschützt würden, warnt Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), im Interview.
SEV-Zeitung: Die Initianten sprechen von einer «Begrenzungsinitiative». Warum nennen die Gewerkschaften sie «Kündigungsinitiative»?
Pierre-Yves Maillard: Im Gegensatz zu 2014, als die SVP ihren Diskurs nach der Abstimmung über die «Masseneinwanderungsinitiative» komplett änderte, ist diesmal alles besonders klar. Der Initiativtext (siehe Box) sieht vor, dass der Bundesrat 30 Tage Zeit hat, um das Personenfreizügigkeitsabkommen von 1999 zu kündigen, falls es innerhalb eines Jahres nicht gelingt, ein Abkommen ohne Freizügigkeit auszuhandeln. Damit werden die ersten sieben Abkommen mit der EU und das Entsendegesetz, auf dem die flankierenden Massnahmen basieren, aufgehoben.
Bringt diese Initiative denn keine Begrenzung der Einwanderung?
Die SVP-Initiative nimmt für sich in Anspruch, die Zuwanderung zu bekämpfen. Aber ihre Befürworter sagen: «Die Wirtschaft wird weiterhin alle Arbeitskräfte haben, die sie braucht.» Die Initiative verlangt keine Reduktion der Ausländerzahl wie Schwarzenbach. Blocher greift als guter Ultraliberaler vor allem die flankierenden Massnahmen an. Das Problem für ihn ist, dass die Freizügigkeit zu einer «Überregulierung» des Arbeitsmarktes geführt hat, wie er es nennt. Er will eine Liberalisierungskur. An der Medienkonferenz vom 14.September 2018 zur Lancierung der Initiative sagte Frau Martullo-Blocher: «Wenn wir das Ende der Freizügigkeit erreicht haben, dann können wir die flankierenden Massnahmen abschaffen.» Die SVP sagt es nicht mehr oft, aber wenn die Initiative angenommen wird, bedeutet dies, dass mehr oder weniger grosse Kontingente möglich sind, denn Zahlen nennt die SVP nie. Vor allem aber wird es keine Grundlage mehr geben für die flankierenden Massnahmen, insbesondere für die Kontrolle der Löhne und Arbeitsbedingungen und für die Allgemeinverbindlich-Erklärung von Gesamtarbeitsverträgen.
Durch eine selbstbestimmte Migrationspolitik würden Dumping und Lohndruck vermieden, sagt die SVP…
Das stimmt eben überhaupt nicht, und das ist das eigentliche Problem dieser Initiative. Die Arbeitgeber werden weiterhin einstellen, wen sie wollen, denn die SVP will ihnen die Kontingente geben, «die sie brauchen». Aber dank der Initiative werden die Löhne weniger kontrolliert werden und wir werden eine Zuwanderung von rechtlosen, ausbeutbaren Arbeitnehmenden haben, deren Zahl sogar noch grösser sein könnte als heute. Denn ausser in ihrem irreführenden Titel spricht die Initiative nicht von Begrenzung. Wenn man zulässt, dass die Löhne in einem deregulierten Arbeitsmarkt nach unten gedrückt werden, wird der Bedarf der Wirtschaft an «billigen» ausländischen Arbeitskräften zunehmen. Dies haben wir in den 1960er-Jahren schon einmal erlebt.
Einige Kolleg/innen, besonders in den Grenzkantonen, haben Sympathien für die Initiative, weil sie glauben, dass der freie Personenverkehr zu einem direkten Wettbewerb zwischen schweizerischen und ausländischen Arbeitnehmenden führt, und damit zu einem enormen Druck auf die Löhne.
Diese Befürchtung besteht in der Tat. Aber genau aus diesem Grund haben die Gewerkschaften nicht die Freizügigkeit allein akzeptiert. Vor den bilateralen Abkommen und flankierenden Massnahmen waren von den Arbeitnehmenden in der Schweiz nur 1,4 Millionen durch einen GAV abgedeckt. Jetzt sind es 2 Millionen, und für die meisten von ihnen ist im GAV auch eine Lohntabelle mit Mindestlöhnen enthalten. Was schützt, ist nicht eine Kontrolle der Nationalität der Arbeitnehmenden, sondern eine gute Regulierung des Arbeitsmarktes.
Die Kontrollen, die von Kanton zu Kanton unterschiedlich sind, zeigen, dass die Schutzbestimmungen in 15 bis 20% der Fälle verletzt werden.
Niemand bestreitet, dass es Missbräuche gibt. Nach 15 Jahren Personenfreizügigkeit muss jedoch vor allem festgestellt werden, dass die Schweizer Löhne nicht gesunken sind, auch wenn der Anstieg der Krankenkassenprämien zu einer gewissen Kaufkraftstagnation geführt hat. Die Niedriglöhne sind sogar gestiegen, gerade wegen der Begleitmassnahmen.
Würde das Kontingentsystem, wie es die SVP in ihrer Initiative fordert, also zu Lohnsenkungen führen?
Wenn das Freizügigkeitsabkommen fällt, fällt auch das Entsendegesetz und damit die Massnahmen zum Schutz allgemein verbindlicher GAV im Obligationenrecht. Käme es tatsächlich so weit, würden wir natürlich dafür kämpfen, dass diese Rechtsgrundlagen bestehen bleiben, aber unsere Ausgangslage wäre viel schlechter. Heute führen wir 41'000 Kontrollen pro Jahr in Unternehmen durch, fast so viele wie die Deutschen mit 50'000 Kontrollen – bei einem zehnmal grösseren Arbeitsmarkt. Die europäischen Gewerkschaften sind sich einig, dass wir das beste Lohnkontrollsystem haben.
Das Schweizer Volk ist in der Europapolitik pragmatisch. Wir akzeptieren einen Deal nicht um jeden Preis, weshalb das Rahmenabkommen nochmals eine ganz andere Geschichte ist. Aber ein System abzuschaffen, das wir kennen und das funktioniert, wäre ein Risiko, das die Leute hoffentlich vom Gegenteil überzeugt.
Ist es nicht widersprüchlich, die Personenfreizügigkeit mit der EU zu befürworten und gleichzeitig die Unterzeichnung des institutionellen Abkommens mit ihr abzulehnen?
Das Rahmenabkommen ist ein neuer Vertrag, den wir unterzeichnen können oder nicht. Und so, wie er jetzt ist, wollen wir ihn nicht, denn so ist auch er ein Angriff auf die flankierenden Massnahmen, diesmal nicht von innen, sondern von aussen, seitens der EU. Es ist auch sehr interessant, dass in Brüssel und Herrliberg [wo Blocher sein Luxushaus hat – Anmerkung der Red.] letztlich die gleiche liberale Vision des Arbeitsmarktes befürwortet wird. Gewisse proeuropäische Liberale unterscheiden sich inhaltlich nicht von den Blocherianern: Alles muss dem Wettbewerb unterworfen werden, auch die Arbeitsbedingungen. Angesichts dieser Vision setzen sich die europäischen und schweizerischen Gewerkschaften für eine bessere Regulierung des Arbeitsmarktes ein, denn die heutige Regulierung genügt nicht. Und auch die flankierenden Massnahmen sind noch ungenügend. Aber wenn wir diesem Rahmenabkommen oder der internen Liberalisierung, wie sie Blochers Initiative will, zustimmen, werden wir einen noch stärker deregulierten Arbeitsmarkt haben – und schlechter geschützte Arbeitnehmende, die noch mehr unter Druck kommen.
Yves Sancey/Übersetzung: Markus Fischer