Kapital und Ideologie
Den Kapitalismus überwinden
Rigoros und klar untersucht Thomas Piketty in seinem meisterhaften Essay «Kapital und Ideologie» die Mechanismen, die die Ungleichheiten im Lauf der Zeit legitimiert haben. Und er befürwortet eine radikale Umverteilung der Karten.
Alle Menschen sind in Bezug auf den Reichtum ungleich geboren, und diese Ungleichheit zwischen den Einwohner/innen eines jeden Landes oder zwischen den Völkern aller Länder sämtlicher Kontinente hat zu Armut, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und verschiedentlich auch zu Krieg geführt.
Wenn wir die 1 232 überwältigenden, profunden und mitreissenden Seiten des jüngsten Buches «Kapital und Ideologie» von Thomas Piketty zusammenfassen müssten, sollten wir vielleicht von einer Umkehr der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ausgehen. Aber man könnte auch von der Schöpfung ausgehen: am Anfang war die Ungleichheit des Besitzes.
Von Ordnungsgemeinschaften (Klerus, Adel und Stände) über versklavte Gesellschaften oder die koloniale Welt, Kastengesellschaften in Indien bis zur Klassentrennung in der «Belle Epoque» oder von Roosevelts «New Deal» bis zum chinesischen Modell wurde diese Ungleichheit nach demselben Prinzip aufgebaut: die Rechtfertigung dieser Ungleichheit durch eine «Ideologie». «Jedes unausgewogene Regime basiert im Grunde auf einer Theorie der Gerechtigkeit», schreibt Piketty. Ungleichheiten müssen gerechtfertigt sein und auf einer glaubhaften,logischen Vision der idealen und politischen Organisation beruhen. In allen Gesellschaften geht es darum, eine Reihe von konzeptionellen und praktischen Fragen nach den Grenzen der Gemeinschaft, nach der Organisation der Besitzverhältnisse sowie nach dem Zugang zu Bildung und zur Aufteilung der Steuern zu regeln. «Diese 360-Grad-Analyse, wie es die Reichsten geschafft haben, die Verteilung von Gütern ‹natürlich› oder sogar ‹offensichtlich› zu machen, ist reich an Lehren», so der Autor: «Die eingebrachten Antworten der vergangenen Gesellschaften hatten ihre Schwächen. Sie haben grösstenteils der Zeit nicht standgehalten und wurden durch andere ersetzt. Es wäre falsch sich vorzustellen, dass die Ideologien der Gegenwart, die Verherrlichung der finanziellen Undurchschaubarkeit und das verdiente Vermögen weniger wahnsinnig oder nachhaltiger sind.»
Wir erinnern uns, dass Thomas Piketty in seinem früheren Essay-Band «Das Kapital im 21. Jahrhundert» ein Bild der Unterschiede im Verlauf der Jahrhunderte gestaltet hat. Dieses Mal zögerte er nicht, über sein Fachgebiet, die Ökonomie, hinauszugehen, um den grenzenlosen Einfallsreichtum mächtiger Menschen zu beschreiben, die versuchten, ihre Finanz- und Immobilienposition zu rechtfertigen. Geschichte, Politikwissenschaften, Soziologie, Literatur, all diese Fachbereiche sind in diesem Gemälde sorgfältig und aufsehenerregend vereint, flüssig (trotz des Ausmasses) und unerbittlich in seiner Darstellung.
Einige Schlussfolgerungen sind so erschütternd, als Mahnmal, Mithilfe von Statistiken, dass die schwindelerregenden Ungleichheiten, die die französische Gesellschaft während der «Belle Epoque» kennzeichneten, trotz der lyrischen (und heuchlerischen) Glaubensbekenntnisse der siegreichen Dritten Republik, die noch stärker waren als das Ancien Régime kurz vor der Revolution ... «Seit der Revolution von 1789 liebte es Frankreich, sich der Welt als Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu präsentieren», schreibt Piketty. «Das Nachlassarchiv hat uns gezeigt, dass Frankreich im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungeheuer ungleich war.» Faszinierend sind auch die detaillierten Erläuterungen, wie die französischen und amerikanischen Eliten, als sie endlich die Abschaffung der Sklaverei beschlossen, ihr ganzes Talent in die Berechnung der zu gewährenden Entschädigungszahlungen investierten ... an Besitzer, die plötzlich ihrer Gratisarbeiter beraubt wurden, ohne darüber nachzudenken, ob die Sklaven selbst eine Entschädigung erhalten sollten. Es ist nicht die Geschichte, die grausam ist, es sind die Menschen.
Meisterhaft sind die ersten beiden Teile des Buches, über ungleiche Regimes und Sklaven- sowie Kolonialgesellschaften. Sie führen uns in die Grenzgebiete von Indien, China und Japan. Der dritte Teil – über den grossen Wandel im 20. Jahrhundert, der zuerst durch einen Rückfluss der Ungleichheiten gekennzeichnet ist, dann durch ihre Vertiefung aus den 1980er Jahren gekennzeichnet ist – führt uns in ein bekannteres Gebiet, weil es bereits durch Thomas Piketty und andere untersucht worden ist. Aber auf den vierten und letzten Teil, «Die Dimension des politischen Konflikts überdenken», war man eindeutig gespannt auf den Ökonomen. Und das neue «wie weiter» begeistert durch seine Klarheit und Radikalität: «Auf der Grundlage der in diesem Buch analysierten Erfahrungen bin ich überzeugt, dass es möglich ist, über den Kapitalismus und das Privateigentum hinauszugehen und eine gerechte Gesellschaft auf der Grundlage von partizipativem Sozialismus und Sozialföderalismus aufzubauen», betont Piketty. «Partizipativer Sozialismus», «sozialer Föderalismus»? Ersterer zielt auf eine bessere Machtverteilung in den Unternehmungen ab, insbesondere auf die Umsetzung des «befristeten Eigentums» am Kapital: eine hochprogressive Einkommens- und Vermögenssteuer – bei der Wohlhabendste beispielsweise bis zu 80 Prozent Erbschaftssteuer bezahlen – würde es ermöglichen, die Karten in Echtzeit und zwischen den Generationen umzuverteilen. Was den «sozialen Föderalismus» betrifft, so besteht er darin, den Kampf gegen die Ungleichheit als einen internationalen Kampf zu betrachten, mit dem Ziel einer einheitlichen Steuerreform zwischen mehreren Ländern.
Man könnte über das manchmal übertriebene Vertrauen, das Thomas Piketty in die «Transparenz» zu haben scheint, diskutieren: Diese ist zwar zweifelsohne notwendig, um das wahre Vermögen der Reichsten zu erkennen, doch kommt sie in «Kapital und Ideologie» als Absolutwert daher, ohne dass die Gefahren, die den Beitritt zu diesem neuen Mantra begleiten, wirklich infrage gestellt werden. Es bleibt das immense Verdienst dieses Meisterwerks, dass es das Drama der Ungleichheit mit grossartiger Sorgfalt als das analysiert, was es ist: eine Katastrophe. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zeigt Thomas Piketty auf, dass es brennt. Und wir können nicht mehr wegschauen.
Thomas Piketty, Capital et idéologie, Editions du Seuil, 1232 S., 2019. 25 €. Übersetzungen sollten folgen.