Ein Blick zurück nach 99 Jahren
Der Generalstreik hat die Schweiz durchgeschüttelt
Vom 12. bis 14. November 1918 haben 250 000 Lohnabhängige die Schweiz lahmgelegt. Wir befragten zu diesem in der Geschichte der Schweiz einzigartigen Streik Adrian Zimmermann; er ist Historiker und Co-Organisator eines Symposiums, das dem Generalstreik von 1918 gewidmet ist.
Adrian Zimmermann, welche Dimension hatte der Generalstreik 1918?
250000 Personen haben am Generalstreik teilgenommen, das entspricht etwa einem Viertel aller Angestellten. Das Ausmass war also enorm. Häufig waren es die Eisenbahner, die Strassenbahner, die Metall- und Maschinenindustriearbeiter wie auch die Uhrmacher, die den Grossteil der Streikenden ausmachten. Aber auch Arbeiter fast aller andern Wirtschaftszweige haben sich angeschlossen. Am stärksten war die Bewegung in den Städten und Industriegebieten, und im allgemeinen war die Beteiligung in der Deutschschweiz stärker. In der Romandie war die Mobilisierung in der Industrieregion im Jurabogen am stärksten. In den Kantonen Waadt und Genf waren die Leute schwieriger zum Mitmachen zu bewegen als in den grossen Deutschschweizer Städten: August Huggler, Sekretär des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes und Mitglied des Oltner Aktionskomitees, musste persönlich nach Lausanne fahren, um die Eisenbahner vom Streik zu überzeugen – mit Erfolg. In den mehrheitlich ländlich, katholisch und konservativ geprägten Kantonen Wallis und Freiburg fand der Streik praktisch nicht statt.
In welcher Form hat sich der Streik abgespielt?
Die Arbeitsniederlegung war in den Industriezentren und bei der Eisenbahn praktisch total. Die bürgerlichen Zeitungen erschienen nicht… Die Auswirkungen waren somit überall zu spüren. Die Streikenden verhielten sich sehr diszipliniert. In den grossen Städten versuchten die Organisatoren, ein Alkoholverbot in den Beizen durchzusetzen, um so Provokationen und Strassenkämpfe zu verhindern. Die Streikenden hatten strikte Order, sich nicht provozieren zu lassen — es gab dann auch wirklich nur wenig Auseinandersetzungen mit den Soldaten. Die Versammlungen der Arbeiter fanden mehrheitlich in Sälen statt. Das ist auch die Erklärung dafür, warum man eher Fotos der Armee und von bürgerlichen Gegenveranstaltungen findet als solche der Streikenden.
Nach dem Streik wurden die Mitglieder des Oltner Komitees und andere Gewerkschaftsführer und Sozialisten vor ein Militärgericht gestellt. Schlussendlich wurden aber nur vier Anführer verurteilt. Der Freispruch für die andern zeigt, dass die Behörden zu vermeiden versuchten, dass zusätzlich Öl ins Feuer geschüttet wurde.
Wie lässt sich die starke Beteiligung, die Stärke der Bewegung erklären?
Auf der einen Seite durch die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs. Seit Kriegsbeginn waren die Preise für die wichtigsten Güter des täglichen Bedarfs explodiert – die Schweiz war stark abhängig von Lebensmittel- und Kohleimporten. Die Situation spitzte sich in den beiden letzten Kriegsjahren bedeutend zu.
Die Schweiz war schon eines der reichsten Länder der Erde. Aber in den grossen Städten konnte ein Viertel der Bevölkerung nicht vom Arbeitseinkommen überleben und musste um Unterstützung nachsuchen. Die epidemische spanische Grippe wütete ab Juli 1918 gerade unter dieser schlecht ernährten Bevölkerungsschicht.
Teile des Bürgertums hatten sich während des Krieges schamlos bereichert: die Waffenproduktion boomte, ebenso wie der Finanzplatz und die Banken. Andere spekulierten mit lebenswichtigen Gütern. Die Wut gegen diese «Kriegsgewinnler» war gross.
Dann gibt es auch politische Gründe. Anfang 1918 organisierte das Oltner Komitee, das sich aus Vertretern der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei zusammensetzte, den Kampf für die Forderungen der Arbeiterschaft und gegen das Projekt eines obligatorischen Zivildienstes, der die gesamte Bevölkerung, auch die Frauen, für die Arbeit auf den Feldern mobilisieren sollte. Dem Oltner Komitee gelang es, vom Bundesrat wichtige Konzessionen zu erhalten, indem es mit dem Generalstreik drohte.
Durch eine militärische Provokation wurde danach das Pulver gezündet: Am 7. November beauftragte der Bundesrat die Armee mit der Besetzung der Städte Zürich und Bern und streute Gerüchte über einen möglichen Putsch der «Bolschewisten» am ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Das Oltner Komitee reagierte mit einem Proteststreik am 9. November. Die militärische Besetzung wurde aber beibehalten. Deshalb rief das Oltner Komitee zu einem unbefristeten Generalstreik ab dem 12. November auf.
Was war die Reaktion der Behörden?
Der Streik war schon eine Reaktion auf eine brutale Aktion der Behörden. Diese wurde in den Arbeiterkreisen als Provokation erlebt. Um die Unterdrückung zu organisieren, rief der Bundesrat den Bauernstand unter die Waffen, der während des Krieges gute Geschäfte gemacht hatte und den Streikenden feindlich gesonnen war. Er sandte Soldaten aus andern Kantonen nach Bern und Zürich, um Verbrüderungen zwischen Truppen und Arbeitern zu verhindern.
Am zweiten Streiktag besetzte die Armee die Sekretariate und Druckereien der Arbeiterbewegung. Sie knebelte die Presse, kappte die Telefonverbindungen und erschwerte so die Aktion und Koordination der Streikenden. Die Eisenbahner wurden dem Kriegsrecht unterstellt, unter dem Schutz der Armee verkehrten einige Züge, geführt von Streikbrechern. Das Bürgertum organisierte paramilitärische Gruppen. Diese sogenannten «Bürgerwehren» wurden von den Behörden geduldet und sogar von Armee oder Polizei ausgerüstet. Einige Jahre später bildeten sie den fruchtbaren Boden für die Bildung der ersten faschistischen Gruppen in der Schweiz. Die Bürgerwehren verfügten auch über einen Nachrichtendienst und einen «technischen Hilfsdienst», um Streiks in bestimmten Branchen brechen zu können.
Diese Militarisierung hatte teilweise dramatische Folgen. In Grenchen verbrüderten sich am dritten Streiktag die örtlichen Truppen mit den Streikenden. Die Regierung entsandte daraufhin Waadtländer Truppen, deren Kommandant das Feuer auf die Streikenden eröffnen liess – nur weil die Menge das Militär beschimpfte. Drei Arbeiter starben.
Dieses Schema – Soldaten, die auf eine unbewaffnete Menge schiessen – wiederholte sich in der Schweiz noch mehrmals. Im August 1919 forderte der Armeeeinsatz gegen einen Generalstreik in Basel und Zürich sechs Tote; 1932 gab es in Genf bei der Unterdrückung einer antifaschistischen Kundgebung 13 Tote und 45 Verletzte. Jedes Mal wurde bewusst entschieden, einen Arbeiteraufstand zu unterdrücken.
Warum hat das Oltner Komitee nach drei Tagen den Streik abgebrochen?
Laut dem von Robert Grimm im Frühjahr 1918 erarbeiteten Generalstreikszenario konnte ein unbefristeter Generalstreik zum Bürgerkrieg werden. In einer solchen Situation war die Haltung der Truppen entscheidend. Nach den ersten Streiktagen wurde klar, dass die Mehrheit der Soldaten den Streikenden feindlich gesonnen waren. Das Oltner Komitee war grossmehrheitlich der Meinung, ein Sieg sei nicht möglich, und wollte keine Konfrontation zwischen unbewaffneten Arbeitern und Truppen mit Maschinengewehren und Granaten, die bereit waren zu schiessen. Nach dem Ultimatum des Bundesrats vom 13. November rieft das Oltner Komitee die Arbeiter dazu auf, am 15. November wieder zur Arbeit zurückzukehren. Dies wurde von vielen Streikenden, die die Bewegung weiterführen wollten, als «Kapitulation» empfunden, besonders in Kantonen wie Zürich, wo die Bewegung stark war.
Das Oltner Komitee verwies oft auch auf das internationale Umfeld: Der Erste Weltkrieg endete in Österreich-Ungarn und Deutschland mit Revolutionen, doch die Bewegung griff nicht auf die Siegermächte über.
Was wurde aus den Forderungen des Oltner Komitees?
Das Oltner Komitee richtete neun Forderungen an den Bundesrat: Neuwahl des Nationalrats nach dem Proporzverfahren, aktives und passives Stimm- und Wahlrecht für die Frauen, Arbeitspflicht für alle – eine Massnahme, die auf Spekulanten und Kapitalisten zielte –, 48-Stunden-Woche, Aufstellung eines Volksheers, Sicherstellung der Lebensmittelversorgung, Alters- und Invalidenversicherung, Staatsmonopole für Import und Export sowie Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden. Der Generalstreik beschleunigte die Umsetzung verschiedener dieser Forderungen: die erste Wahl des Nationalrats nach dem Proporzwahlrecht fand im Herbst 1919 statt. Die 48-Stunden-Woche wurde 1919 im Rahmen des Fabrikgesetzes eingeführt, und 1920 auch im öffentlichen Verkehr. Das war eine spektakuläre Arbeitszeitverkürzung, denn zuvor hatte die Wochenarbeitszeit bis 59 Stunden betragen! Die AHV wurde 1948 eingeführt, und 1971 endlich auch das Stimm- und Wahlrecht für die Frauen auf Bundesebene.
Was können wir heute aus diesem Ereignis lernen?
Der Generalstreik war die Folge des Leidens eines grossen Teils der Bevölkerung, aber auch des Organisationsgrads der Arbeiterklasse. Er spielte sich in einer aussergewöhnlichen historischen Situation ab: In Europa herrschte Krieg, in der Schweiz waren die üblichen demokratischen Spielregeln von den bundesrätlichen Vollmachten abgelöst worden. Während grosse Teile der Bevölkerung darbten, produzierte die Wirtschaft wie wild; zugleich provozierte die Regierung die Arbeiterbewegung laufend. Diese stellte damals eine reale Macht dar. Neben den Fabriken waren eigentliche Arbeiterquartiere entstanden. Die sogenannten Vorfeldorganisationen (Gewerkschaften, Arbeiter-Sport- und -Kulturorganisationen) waren dort überall vertreten. Die Arbeiterbewegung war geeint – die Trennung der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei fand erst im Dezember 1920 statt. Eine Bewegung dieser Grössenordnung gab es in der Schweizer Geschichte seither nie mehr. Es gab 1919 einen Generalstreik in Basel und Zürich, aber nicht von dieser Intensität. Die grossen Nachkriegskrisen von 1920 bis 1923 und jene der dreissiger Jahre mit der explosionsartig steigenden Arbeitslosigkeit begünstigen die reaktionäre Stimmung und machten die Mobilisierung schwieriger.
Der Generalstreik war trotz seiner Kürze eine beeindruckende Demonstration der Stärke der Arbeiterschaft und entfaltete eine Langzeitwirkung: Die Drohung eines neuen Generalstreiks hing fortan wie ein Damoklesschwert über dem Bürgertum, weshalb es mit der Arbeiterbewegung Kompromisse suchte, vor allem auch im Zweiten Weltkrieg. Seit den 1920er-Jahren wurden die Gewerkschaften stärker in ausserparlamentarische Kommissionen eingebunden, vor dem Zweiten Weltkrieg entstand allmählich ein stabiles System von GAV und 1943 kam die SPS in den Bundesrat.
Übersetzung des französischen Originals von Guy Zurkinden, erschienen im «Services publics» (VPOD), 13.10.2017
100 Jahre Landesstreik: Ursachen, Konfliktfelder, Folgen. Eine historische Tagung für Interessierte. Mittwoch, 15. November 2017, 9.15–17 Uhr, Hotel National, Bern. Anmeldung: www.generalstreik.ch