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1.-Mai-Feier in Brig (VS)

Rede von Giorgio Tuti

Liebe Genossinnen und Genossen
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen

Gemäss dem letzten Verteilungsbericht des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes hat sich die Lohnschere in den letzten Jahren weiter geöffnet. Oben sind die Löhne viel stärker angestiegen als unten. In den letzten 20 Jahren, seit 1994 also, sind die Löhne im obersten Drittel um weit über 30% gestiegen, im mittleren und unteren Drittel um weniger als 10%.

Besonders stossend dabei ist, dass die Arbeit der Frauen immer noch weniger wert ist als diejenige der Männer. Der Lohnunterschied zwischen Mann und Frau für gleiche und gleichwertige Arbeit beträgt immer noch 18%, d.h. wenn ein Mann 50 Franken verdient, verdient eine Frau nur 41 Franken.

In dieser Zeit sind also die Manager-Saläre munter weitergestiegen, ja geradezu explodiert, während die Löhne der Normalverdiener stagnieren oder gar an Kaufkraft einbüssen. Die Lohnschere öffnet sich weiter.

Seit der Publikation der Lohnstruktur-Erhebung 2012 vom letzten Montag wissen wir es noch genauer. Was wir angenommen und befürchtet haben, ist eingetreten. Die Reallöhne der obersten 10%, also die Topverdiener, sind von 2010 bis 2012 erneut um 7,1% gestiegen, genau genommen um 9901 Franken/Jahr. Die Reallöhne der untersten 10%, nämlich der Arbeitnehmenden, die weniger als 3886 Franken pro Monat verdienen, sind in diesen drei Jahren sogar um 286 Franken/Jahr gesunken. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist zu verurteilen und beim Namen zu nennen: Es ist eine grosse Schweinerei.

Bei dieser Entwicklung ist es nicht erstaunlich, dass Reiche immer reicher und Normalsterbliche immer ärmer werden. Rein statistisch sieht die Vermögensverteilung sehr harmlos aus. Jede Schweizerin und jeder Schweizer besitzt 500'000 Dollar – im Durchschnitt. Das wiederspiegelt aber natürlich nicht die Realität. Fakt ist, dass nur gerade 2,6% der Bevölkerung (also weniger als 3 von 100 Menschen) die Hälfte des Gesamtvermögens in der Schweiz besitzen. Auch hier haben wir, ähnlich wie bei den Löhnen, ein massives Verteilungsproblem. Auch hier müssen wir handeln und einen Riegel schieben. Und das Gute daran: Wir haben die Gelegenheit dazu: bei den Löhnen, bei den Renten und bei der Ausweitung und Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträge.

Bei den Löhnen …

Am 18. Mai wird über die Mindestlohninitiative abgestimmt, über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes von 4000 Franken/Monat für einen 100%-Job. Davon würden 330'000 Arbeitnehmende in der Schweiz profitieren, 9% aller Arbeitnehmenden. Diese haben eine volle Stelle, aber kommen mit dem Lohn, den sie dafür erhalten, nicht über die Runden. 70% davon sind Frauen, 77% sind über 25 Jahre alt und gut ein Drittel dieser 330'000 Arbeitnehmenden haben eine Berufslehre abgeschlossen.

In den vergangenen Wochen hatte ich im Rahmen der Abstimmungskampagne mehrmals die Gelegenheit, die Gegner der Mindestlohn-Initiative und deren Argumente anzuhören. Allerdings: Argumente haben sie eigentlich keine. Was sie machen, ist Angst und Panik und Weltuntergangsstimmung zu verbreiten. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die Schweiz in den Abgrund führen, behaupten sie.

Eben erst haben wir erlebt, dass solche Angstkampagnen Erfolg haben können. Mit dem Ja zur so genannten Masseneinwanderungsinitiative der SVP hat die Schweiz einen schwarzen Tag erlebt. Nicht nur, weil sie entschieden hat, Leute einzig und allein wegen ihrer Herkunft zu diskriminieren, sondern auch, weil sie damit auf dem besten Weg ist, Lohndumping zu fördern. Ich erinnere mich sehr gut an die Zeit der Saisonniers. Auch diese waren aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt, aber sie wurden von den Arbeitgebern auch ausgenützt, um Tiefstlöhne zahlen zu können: Saisonniers haben deutlich weniger verdient als ihre Kollegen, die in Festanstellungen die gleiche Arbeit gemacht haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einführung des Mindestlohnes würde eine Erhöhung der gesamten schweizerischen Lohnsumme um 0,4% bedeuten. Das hat direkte positive Auswirkungen in erster Linie für die 9% Arbeitnehmenden, die heute auf die Sozialhilfe angewiesen sind, um über die Runden zu kommen. Positive Auswirkungen hätte es aber auch auf die Sozialwerke, sei es auf die AHV durch Mehreinnahmen, aber auch auf die Sozialkosten durch weniger Ausgaben. Aber eigentlich geht es um etwas anderes, übergeordnetes: Es geht um Anstand; denn keine Arbeit kann weniger wert sein als 4000.–.

Ich bin hier in Brig und möchte euch ein aktuelles Beispiel geben, das mit Brig zu tun hat, aber vor allem mit unanständigen Arbeitgebern. In diesem Beispiel geht es nicht um Verkäufer, Serviceangestellte, Coiffeusen oder Leute, die putzen. In diesem Beispiel geht es um Lokführer. Es geht um eine Eisenbahnverkehrsunternehmung, die im Güterverkehr tätig ist. Die Güterverkehrsunternehmung heisst Crossrail; sie hat ihren Sitz in Muttenz und eine Tochterunternehmung in Italien. Die Crossrail hat vor einigen Wochen den italienischen Kollegen bei der Crossrail Italy ein wahnsinniges Angebot gemacht. Sie will nämlich ein Depot in Brig eröffnen; deswegen hat Crossrail Schweiz den italienischen Lokführern das Angebot gemacht, sich für die Schweiz auszubilden und unter einem schweizerischen Einzelarbeitsvertrag zu arbeiten. Sie sollen also auf den Schutz des italienischen Gesamtarbeitsvertrags verzichten, v.a. auf den darin verankerten absoluten Kündigungsschutz, den articolo 18. Im Gegenzug hat ihnen Crossrail einen Lohn nach erfolgter Ausbildung in Aussicht gestellt, schriftlich und vertraglich, von 3350 Franken. Also 3350 Franken im Monat für einen ausgebildeten Lokführer. Unglaublich aber wahr, oder einfach nur unanständig!

Wir haben uns mit den italienischen Kollegen und Gewerkschaften zusammengeschlossen und einen Riegel geschoben. Und vorsorglich haben wir die Crossrail beim Bundesamt für Verkehr schon eingeklagt und das Begehren gestellt, sollte die Crossrail tatsächlich Lokführer zu diesen Bedingungen anstellen, müsse ihr der Bund die Netzzugangsbewilligung entziehen. Gleichzeitig haben wir die Crossrail aufgefordert, mit uns GAV-Verhandlungen aufzunehmen. Seither hat die Crossrail schon 2-mal das Anfangsangebot von 3350 Franken nachgebessert, aber sie ist noch weit davon entfernt, den in der Schweiz branchenüblichen Mindestlohn von deutlich mehr als 5000 Franken zu erreichen. Kein italienischer Kollege hat bis heute den vorgelegten Einzelarbeitsvertrag unterzeichnet und keiner wird es auch tun. Zusammen wehren wir uns gegen solche Spielchen, zusammen sind wir stark!

bei den Renten …

In den letzten Jahren waren wir mehrfach mit Abwehrschlachten gegen Verschlechterungen bei der AHV beschäftigt. Mit Referenden haben wir Rentenaltererhöhungen und Leistungsverschlechterungen bekämpft. Erfolgreich!

Nun steht ein weiteres solches Abbau-Projekt vor der Tür – die «Altersvorsorge 2020».

Dieses Projekt will die Leistungen der AHV gar noch verschlechtern: mit einem höheren Rentenalter für die Frauen und indem der Teuerungsausgleich in Frage gestellt wird. Da machen wir nicht mit!

Vielmehr ist es an der Zeit, die Renten zu verbessern. Aus diesem Grund haben wir im SGB AHVplus lanciert, eine Initiative, um die Renten mit einem Zuschlag von 10% zu erhöhen. Das entspricht einer Rentenverbesserung von rund 200 Franken für Alleinstehende und bis 350 Franken für Ehepaare. Diese Erhöhung ist bitter nötig.

In der Bundesverfassung steht, dass die Renteneinkommen aus AHV und Pensionskasse die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung ermöglichen sollen. Davon können leider viele Rentnerinnen und Rentner nur träumen.

Die AHV-Renten sind seit den 70-er Jahren nicht mehr real erhöht, sondern lediglich in Anwendung des Mischindexes einigermassen der Teuerung angepasst worden. Gleichzeitig sind die Pensionskassen in sehr unsicheren Situationen geraten. Zusammen bedeutet dies, dass das Ziel der Bundesverfassung in weite Ferne gerückt ist.

Aus diesem Grund ist AHVplus die einzige Lösung, die wirklich etwas bringt für die Menschen, die schon jetzt im Alter nur noch sehr bescheiden leben können und für jene, die heute ihrer Pensionierung mit grosser Sorge entgegenblicken. Wir haben die nötigen Unterschriften für die Initiative innert kürzester Zeit zusammengebracht, was zeigt, wie dringend das Anliegen ist und wie klar die Schweizer Bevölkerung weiss, dass hier etwas getan werden muss. Wir sind zu Recht stolz auf unsere AHV, und das wollen wir auch weiterhin sein können, weil die AHV ein Alter in Würde ermöglicht.

und mit Gesamtarbeitsverträgen …

Es ist bewiesen, dass die Löhne in Branchen und Betrieben mit hohem Organisationsgrad und mit Gesamtarbeitsverträgen höher sind als in Branchen und Betrieben, wo es das nicht gibt. Wir, die Gewerkschaften, müssen also in die Branchen und Betriebe vordringen, das Personal gewerkschaftlich organisieren und Gesamtarbeitsverträge abschliessen. So verbessern wir die Lohn- und Arbeitsbedingungen und können dadurch auch der Lohndiskriminierung zwischen Mann und Frau entgegentreten. Das ist ein Auftrag, der uns alle betrifft, denn der Mechanismus ist klar: Wenn wir mehr Mitglieder werben, verstärken wir unsere Position gegenüber den Arbeitgebern, damit erreichen wir Gesamtarbeitsverträge und deren laufende Verbesserung, und mit diesen Erfolgen können wir wiederum neue Mitglieder anwerben.

Es gibt immer noch Firmen, Direktoren und Verwaltungsräte, die Gesamtarbeitsverträge für Teufelszeug halten. Sie wehren sich mit Händen und Füssen dagegen, mit den Gewerkschaften zusammenzusitzen und gemeinsam die Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Häufig heisst es von ihnen: «Wir sind hier im Betrieb wie eine grosse Familie», aber wir alle wissen, wie es in einer grossen Familie zu und hergeht, wenn es Streit ums Geld gibt.

Erfreulicherweise gibt es aber auch Verantwortliche in Firmen und Branchen, die realisiert haben, dass von einem Gesamtarbeitsvertrag beide Seiten profitieren, weil klare Regelungen die Zusammenarbeit vereinfachen und bei einem Konflikt auch die Wege zur Lösung vorzeigen. Gerade unter dem Druck der Mindestlohninitiative ist es zu bemerkenswerten Fortschritten gekommen. Es hat nicht nur Lohnvereinbarungen gegeben, die sich an den 4000 Franken pro Monat orientieren, sondern auch neue Gesamtarbeitsverträge in Branchen, die bisher sehr skeptisch waren. Ich bin stolz, dass auch in meiner eigenen Branche, beim Verkehrspersonal, ein neuer, wegweisender Gesamtarbeitsvertrag zustande gekommen ist: Mit den Berner Bergbahnen haben wir einen GAV abgeschlossen, der dem Personal den Mindestlohn von 4000 Franken bringt. Insgesamt haben wir mit Bahn-, Bus- und Schifffahrtsunternehmen schon über 60 Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen.

Der Weg ist vorgezeichnet: Unser Einsatz für Löhne, Renten und Gesamtarbeitsverträge geht weiter. Anständige Löhne, sichere Renten, soziale Anstellungsbedingungen: Das ist und bleibt unsere Aufgabe und unser Ziel. Auch dafür treffen wir uns am 1. Mai!