Fragen an die neue Gewerkschaftssekretärin für die Jugend und die Frauen im SEV
Lucie Wasers Rezepte für die Gleichstellung
Seit dem 1. März bzw. seit dem 1. Juli ist Lucie Waser im SEV für die Förderung der Gleichstellung und für die Jugend zuständig. Die 41-Jährige ist ein sehr politischer Mensch und schöpft ihre Energie aus der Verteidigung der Menschenrechte, nach dem Vorbild von Nelson Mandela. Die Herausforderungen, die auf sie warten, nennt sie klar beim Namen, etwa die Verjüngung der Frauenkommission, die besser bekannt werden will, oder die Überwindung von Rollenmustern, die ihrer Meinung nach Geduld braucht.
kontakt.sev: Lucie Waser, du bist am 1. März im SEV «gelandet», von dem böse Zungen behaupten, dass er ein Machorevier sei. Wird im SEV die Gleichstellung von Frau und Mann mit Füssen getreten?
Lucie Waser: Zuerst möchte ich festhalten, dass ich mich glücklich schätze, auf meinen beiden Lieblingsgebieten, der Gleichstellung und der Jugendarbeit, beruflich tätig sein zu können. Was die Frage zur Gleichstellung betrifft, dünkt es mich wichtig, diese Thematik in ihrem ganzen Kontext zu sehen. Sie ist nicht sehr «sexy», weshalb sich nur wenige Leute dafür einsetzen wollen. Zudem erlebt unsere Gesellschaft zurzeit gerade eine Rückkehr konservativer Werte und klischeehafter Rollenmuster, sogar bei den Jungen.
Bevor du zum SEV kamst, hast du dich beruflich mehrmals neu ausgerichtet ...
Ursprünglich wollte ich künstlerisch arbeiten, nach dem Vorbild meines Vaters, der malt. Aber gerade er war dagegen. Ich bin dann Primarlehrerin geworden, auch wenn dies nicht wirklich das war, was ich machen wollte. Ich war von diesem Beruf dann aber angenehm überrascht und fand das ganz toll. Ich habe mehrere Jahre mit Jugendlichen gearbeitet, mit hyperaktiven Schulkindern. Diese sind sehr kreativ und begabt in Fächern, die als nicht vorrangig beurteilt werden. Nach einigen Jahren, in die ich viel Energie steckte, bin ich dann an die Universität Freiburg studieren gegangen. Einerseits, um Distanz zu meinen Eltern zu gewinnen, andererseits wegen der Zweisprachigkeit dieser Hochschule. Ich studierte Ethnologie Europas, Religionswissenschaften und Ägyptologie …
Fächer, die mit der Frauenfrage nicht auf den ersten Blick zusammenhängen …
In der Tat, doch bekam ich dank diesem Studium einen Überblick über die verschiedenen Konflikte auf diesem Planeten und lernte diese besser verstehen. Während dem Studium begann ich mich auch politisch zu engagieren, insbesondere in der Gleichstellungskommission der Universität und im Verband der Schweizer Studierendenschaften, den ich später präsidierte. Dank dieser Erfahrungen wurde ich dann angefragt, ob ich im Vorstand der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) mitwirken wolle, den ich später ebenfalls präsidierte. Parallel dazu wurde ich in die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen gewählt und gehörte dieser bis 2011 an, als jüngstes Mitglied einer eidgenössischen Kommission. Heute hält Pierre Maudet diesen Rekord.
2011 habe ich mein Engagement in dieser Kommission beendet, weil ich meine beruflichen und politischen Tätigkeiten nicht mehr unter einen Hut brachte. So verzichtete ich auf die Stelle bei der eidgenössischen Kommission. Der Grund dafür war, dass ich wegen meiner politischen Tätigkeit oft tagsüber an Sitzungen teilnehmen musste, was gewisse Vorgesetzte nicht so gern sahen. Daher werde ich wütend, wenn ich höre oder in der Zeitung lese, dass sich die Frauen nicht genügend engagieren. Denn ich habe selbst erlebt, auf welche Hindernisse man bei der Suche nach einer bezahlten Anstellung stösst, wenn man im Bewerbungsdossier klar Farbe bekennt: Plötzlich interessierte mein Profil die potenziellen Arbeitgeber nicht mehr …
Welche Ziele willst du im SEV vor allem erreichen, und mit welchen Mitteln?
Eine meiner Ideen ist, dass bei Stellenbesetzungen Frauen bevorzugt werden sollen, wenn sie gleiche Voraussetzungen mitbringen wie die kandidierenden Männer. Und die Frauenkommission muss die Frauen in den Unterverbänden fördern. Es geht aber nicht, den Frauen zu sagen, dass sie sich «alle engagieren müssen», sondern man muss versuchen, sie zu motivieren, ohne sie zu stark unter Druck zu setzen. Wir dürfen ihr Engagement nicht für selbstverständlich halten, nur weil sie Frauen sind.
Du hast die Frauenkommission angesprochen: Braucht sie neue Dynamik?
Wir sind in einer Übergangsphase mit fünf neuen, jüngeren Mitgliedern und sind gerade daran, die Schwerpunkte für das Jahr 2015 festzulegen. Die Frauenkommission darf nicht mit einer Gleichstellungskommission verwechselt werden. Sie markiert und verteidigt den Standpunkt der Frauen, um sich zu positionieren. Beispielsweise auf dem Gebiet der Sozialversicherungen kämpft sie gegen die Erhöhung des AHV-Alters für die Frauen. Die Frauenkommission soll die soziale Realität der Frauen aufzeigen. Weiter hat sie sich zum Ziel gesetzt, von den Spezialisten, die im SEV aktiv sind, künftig besser zu profitieren. Und sie will sich innerhalb und ausserhalb des SEV besser bekannt machen.
Ist es deiner Meinung nach nötig, die Männer in die Förderung der Gleichstellung einzubeziehen?
Der Standpunkt der Männer ist sehr wichtig. Daher müssen wir mit jenen, die die Interessen der Männer vertreten, zusammenarbeiten. Aber weil das Engagement für die Männerrechte in unseren Gesellschaften erst in den 90er-Jahren begonnen hat, jenes für die Frauenrechte aber schon zur Zeit der Französischen Revolution, ist es nötig, die beiden zeitlich sehr verschieden tickenden Bewegungen aufeinander abzustimmen, was nicht so leicht ist.
Du hast zu Beginn die Rollenmuster angesprochen. Die Eckwerte des GAV SBB und SBB Cargo sehen einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub vor: Ist dies nicht zu wenig, um die Rollenteilung zwischen Männern und Frauen wirklich grundlegend zu verändern?
Es ist eine Woche mehr als heute. Es ist ein kleiner Schritt. So muss man ständige Fortschritte machen. Das haben wir beim Mutterschaftsurlaub gesehen, wo wir jahrzehntelang für ein einigermassen korrektes Resultat kämpfen mussten. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) setzt sich für einen zweimonatigen Vaterschaftsurlaub ein. Beim SEV sind wir da selber
im Rückstand, da wir erst eine Woche Vaterschaftsurlaub haben.
Mentalitäten verändern sich nur langsam. Bei diesem Tempo bleibt die Gleichstellung ein schöner Traum …
Es gibt enorm viel zu tun. Formell gibt es die Gleichstellung schon im Gesetz. Doch ihre Umsetzung bleibt schwierig. Vor allem ist es für die Männer schwierig, Teilzeit zu arbeiten. Es ist an jedem Paar, zu entscheiden, wer von den beiden wie viel arbeitet. Mein Vater blieb zu Hause und kümmerte sich um uns Kinder, in einem Dorf in Appenzell Ausserrhoden. Es hat doch schon eine Entwicklung stattgefunden, doch braucht sie noch Zeit.
Das Gleichstellungsgesetz von 1996 wird nicht immer eingehalten. Ja, der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen beträgt fast 20% und nimmt wieder zu. Die SGB-Frauen fordern zwingende Massnahmen. Was erwartest du vom Bundesrat?
Die Lohngerechtigkeit steht im Zentrum des gewerkschaftlichen Kampfes. Am 7. Mai 2015 findet dafür eine grosse Kundgebung statt. Freiwillige Massnahmen sind schön, genügen aber nicht mehr. Diesen Herbst wird sich auch der SGB-Kongress noch mit den Lohnungleichheiten befassen.
Der Ständerat hat vor Kurzem ein Postulat einer bürgerlichen Politikerin angenommen, das verlangt, dass der Ton eben gerade nicht verschärft werden soll …
Gegen die sozialen Fortschritte wird viel Energie aufgewendet. Umso frustrierender ist es, wenn solches von einer Frau kommt. Das zeigt auch einmal mehr die Allmacht unseres Wirtschaftssystems, dem es eindeutig an Menschlichkeit fehlt. Unter den neoliberalen Projekten leiden aber nicht nur die Frauen.
Seit dem 1. Juli bist du im SEV auch für die Jugendkommission zuständig. Mit deinem Werdegang bist du dafür sicher die richtige Person …
Ich bin nicht die politische Verantwortliche der Jugendkommission, sondern ihr Coach. Ich gebe nicht die Richtung vor, die eingeschlagen werden muss, denn diese festzulegen, ist Aufgabe der Kommissionsmitglieder, und ich unterstütze sie. Ich habe festgestellt, dass die Mitglieder sehr motiviert und engagiert sind. Sie suchen spezifische Themen für die Mobilisierung wie den Einstiegslohn bei der SBB.
Also läuft alles rund?
Leider nicht. Wir suchen Romands und Tessiner. Die Frauenkommission steht diesbezüglich sogar etwas besser da als die Jugendkommission, da ihr nur eine italienischsprachige Vertreterin fehlt. Ich möchte wirklich erreichen, dass ab 2015 die Mitgliedschaft in beiden Kommissionen repräsentativ vertreten ist. Idealerweise sollten in den Kommissionen Persönlichkeiten heranwachsen, die später in den Unterverbänden aktiv werden können, um den SEV von morgen aufzubauen.
Vivian Bologna / Fi