Interview Regierungsrat Philippe Perrenoud
«Gegen die Armut muss man etwas tun»
Vor gut fünf Jahren, Ende 2008, veröffentlichte der Berner Regierungsrat Philippe Perrenoud den ersten «Berner Sozialbericht», der die wirtschaftliche Situation der Berner Bevölkerung (auf der Grundlage der Sozialhilfestatistik und der Steuerdaten des Jahres 2006) analysierte und aufzeigte, wieviel Geld den Kantonseinwohner/innen für Verpflegung, Miete, Krankenkassenprämien usw. zur Verfügung steht. Was ist seither passiert, wo stehen wir heute?
kontakt.sev: Philippe Perrenoud, als Sie den «Berner Sozialbericht 2008» präsentierten, sagten Sie, Ihr Ziel sei es, die Armut im Kanton Bern innert zehn Jahren zu halbieren. Die Hälfte dieser zehn Jahre ist um. Wie steht es heute um die Armut im Kanton Bern, wurden Fortschritte gemacht?
Philippe Perrenoud: Es war natürlich eine Utopie, die Armut in zehn Jahren halbieren zu wollen, es war aber das Ziel, dieses Thema auf der politischen Agenda ganz nach oben zu bringen. Wir haben diese Thematik mutig aufgegriffen – was nicht allen gefallen hat. Ohne den Kanton Bern hätte der Bund das Thema wohl kaum aufgenommen. Das hat dann auch vielen NGOs, beispielsweise Caritas, die Arbeit erleichtert. Und wir haben am 17. Oktober letzten Jahres den «3. Berner Sozialgipfel» durchgeführt. Ich wollte, dass dieses Thema weiterhin Aufmerksamkeit bekommt, auch wenn man damit keine Wählerstimmen gewinnt.
Wir mussten leider feststellen, dass in den letzten zehn Jahren die Armen immer ärmer geworden sind, und dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet hat. Das Thema hat eine gewisse Brisanz.
Was heisst das im Klartext: Gibt es heute im Kanton Bern mehr oder weniger von Armut betroffene Leute als vor fünf Jahren?
Die Armut ist in unserem Kanton zwischen 2008 und 2011 kontinuierlich gestiegen und hat sich seither auf hohem Niveau stabilisiert. Zum Zeitpunkt des ersten Berichts begann die weltweite Finanzkrise, und das hat auch nicht geholfen, dass die Leute eine Stelle gefunden haben. Durch die Beschäftigung mit dem Thema haben wir aber auch Möglichkeiten, politische Handlungsspielräume erkannt. Der bernische Grosse Rat hat auch zugesagt, dass wir da dranbleiben können. Das mag vielleicht nicht nach viel tönen, aber es ist auch nicht nichts.
Die bernische Steuer- und Finanzpolitik wurde in den letzten Jahren zunehmend von Anspruchsgruppen zu ihren eigenen Gunsten beeinflusst. Dadurch sind die öffentlichen Finanzen im Kanton Bern in den letzten Jahren unter Druck gekommen. Keine gute Situation für die Armutsbekämpfung!
Nein, sicher nicht. Im September, als der Armutsbericht 2012 im Grossen Rat beraten wurde, war die Mehrheit einverstanden, 10 Millionen für die Armutsbekämpfung zur Verfügung zu stellen. Nicht einmal eine Stunde später wurde eine Motion angenommen, die verlangte, dass die Sozialhilfe um zehn Prozent gekürzt werden muss. Das ist für mich ein Widerspruch und nicht zukunftsgerichtet gedacht. Gleichzeitig gibt einem die Diskussion immer die Möglichkeit, neue Lösungen zu erarbeiten. Und diese Diskussion, die heute in verschiedenen Kantonen läuft, wurde durch den Kanton Bern lanciert.
Aber Massnahmen wie die Reduktion der Krankenkassenprämienverbilligung können wirklich dazu führen, dass von Armut bedrohte Leute endgültig in die Armut abrutschen.
Auch im Altersbereich müssen wir sehr gut aufpassen, denn es entstehen neue Armutsfallen. Es ist wichtig, die Entwicklung auf diesem Gebiet zu beobachten, aber für die Betroffenen, von denen ich weiss, dass sie ein hartes Leben führen, ist das kein Trost: Es genügt nicht, die Armen zu zählen, man muss etwas dagegen tun. So haben wir etwa in Biel eine Sozialfirma eröffnet, in der Langzeitarbeitslose eine Stelle finden. Arbeit ist nicht alles, aber wenn man jeden Morgen erwartet wird, einen Rhythmus hat, ist das sehr wichtig – Isolation ist ein Gift für Arme.
Gegenwärtig liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, die die Finanzsituation einer Mehrheit der Bevölkerung zu verbessern versprechen: die Mindestlohn- Initiative, die im Mai zur Abstimmung kommt, die Initiative AHVplus, das bedingungslose Grundeinkommen. Wie stehen Sie zu diesen Vorschlägen? Sind es taugliche Mittel zur Bekämpfung der Armut?
Beim bedingungslosen Grundeinkommen bin ich skeptisch und befürchte, dass wir das Leistungsniveau nach unten nivellieren. Aber ich bin offen für eine Grundsatzdebatte.
Bei der Mindestlohn-Initiative haben wir nach der Volksabstimmung vom 9. Februar eine neue Ausgangslage. Das macht mir Sorgen, wenn sich die Schweiz gegenüber Europa und ihren Nachbarn verschliesst.
Was bedeutet das?
Wenn ich es vom Standpunkt der Wirtschaft aus betrachte, habe ich Sorgen, dass mehr Firmen abwandern, da der Druck steigen wird. Deshalb bräuchte es Begleitmassnahmen für die Wirtschaft, wenn die Mindestlohn- Initiative angenommen würde. Wenn ich es aber vom Standpunkt der Armutsbekämpfung aus sehe, ist es für mich unerträglich, dass eine von sechs Personen, die Sozialhilfe bezieht, arbeitet. Ein weiterer Sechstel der Sozialhilfebeziehenden ist ebenfalls erwerbstätig, wenn auch nicht voll. Sozialhilfebezüger/innen sind nicht einfach alles Faule! Deshalb hoffe ich, dass die Initiative viele Ja-Stimmen erhält, auch wenn ich nicht wirklich damit rechne, dass sie durchkommt. Für viele ist es sehr schlimm, Sozialhilfe zu beanspruchen, sie schämen sich. Letzte Woche habe ich einen Arzt im Berner Jura getroffen, der manchmal Patient/innen zum Sozialdienst begleitet, weil sie sonst nicht hingehen würden. Das stört mich, dass die Leute zur Sozialhilfe müssen, obschon sie arbeiten – aber sie werden nicht anständig entlöhnt. Man weiss von Hotels im Berner Oberland, wo ausländische Arbeitnehmer/innen unterbezahlt werden. Sie gehen dann zur Sozialhilfe und sofort heisst es: «Schon wieder ein Ausländer, der Sozialhilfe bezieht!» Man denkt nicht daran, dass es eine Arbeitskraft ist, die zu wenig verdient, um ihre Familie zu unterhalten.
Auf der andern Seite kosten solche Massnahmen ja auch Geld. Müssten dazu die Steuern angehoben werden – etwas, das in Bern in letzter Zeit chancenlos war?
Ich würde nicht sagen, dass wir im Kanton Bern grundsätzlich ein Finanzproblem haben. Wir haben Probleme wegen der Wirtschaftskrise und durch die Steuersenkung, die der Grosse Rat im schlechtesten Zeitpunkt beschlossen hat. So kriegten wir ein strukturelles Problem, das wir vorher nicht hatten.
Mit dem Abstimmungsergebnis zur Masseneinwanderungs-Initiative ist nun ein Problem dazu gekommen. Kommt es zu einer Wirtschaftskrise? Ich weiss nicht, wie der Bundesrat die Folgen mit der EU verhandeln will. Es gibt immer noch Leute, die denken, die Schweiz könne gegenüber der EU stark auftreten. Bis jetzt waren wir mit der EU befreundet, aber das politische Signal, das jetzt gesendet wurde, kommt nicht gut an.
Wie geht es in der Frage der Armutsbekämpfung im Kanton Bern in den nächsten Jahren weiter? Welche konkreten Massnahmen sind geplant?
Im Rahmen des Sozialberichtes hat der Grosse Rat verschiedene Massnahmen angenommen, die in erster Linie präventiv wirken, namentlich in der Frühförderung oder bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Zudem soll das Integrationsgesetz helfen, dass die Ausländer/ innen, die hierher kommen – ob jetzt mit Kontingent oder nicht –, sich gut integrieren können. Dies sind ja auch Leute, die zum Wirtschaftswachstum in der Schweiz beitragen.
Interview: Peter Anliker
Armutsbekämpfung und -prävention ist wirtschaftspolitisch sinnvoll
Für Regierungsrat Philippe Perrenoud sind das Gesundheits- und das Sozialwesen «zentrale Teile des ‹Service public› jedes modernen Staates». Er stellt fest: «Unser Kanton setzt in diesem Bereich erhebliche Finanzmittel ein. Wir sorgen für ein allgemein zugängliches, qualitativ hochstehendes Gesundheits- und Sozialwesen und für einen effizienten Mitteleinsatz.»
Laut dem «Berner Sozialbericht 2008», den Perrenoud nach seiner Wahl erstellen liess, waren 2006 50 000 Haushalte im Kanton Bern (rund 7 Prozent) mit 90 000 Personen arm oder armutsgefährdet.
Der für das Sozialwesen zuständige Regierungsrat erklärte die Bekämpfung der Armut, die Senkung der Zahl der betroffenen Personen und die Armutsprävention zum vordringlichen politischen Ziel.
Durch die Zunahme der Zahl der Arbeitslosen in der Wirtschaftskrise drohte eine Verschlechterung der Lage. Durch die sinkende Kaufkraft der Bevölkerung und den Druck auf die Finanzen der öffentlichen Hand spitzt sich die Lage zu. Doch «trägt eine stark dotierte Armutsbekämpfung dazu bei, die schlechte Konjunktur zu beleben», stellte Perrenoud vor fünf Jahren fest.
Bio
Der 1955 in Biel geborene Philippe Perrenoud studierte Medizin und spezialisierte sich in Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist Vater zweier Kinder und wohnt in Tramelan. Perrenoud ist Mitglied der SP des Berner Juras.
Von 2001 bis 2006 Mitglied der interjurassischen Versammlung (interkantonales Gremium zur Lösung der Jurafrage). Im Frühling 2006 Wahl in den bernischen Regierungsrat, wo er die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) übernimmt. Regierungspräsident 2010/2011. Seit 2012 Vizepräsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz.