Caroline Beglinger zur Schweizer Verkehrspolitik und zum Wandel des VCS
«Die 2. Röhre ist eine Irreführung des Volkes»
SEV und VCS treten in der Verkehrspolitik häufig gemeinsam auf. Nach Fabi folgt voraussichtlich im Herbst das Referendum zur zweiten Strassenröhre am Gotthard. Die Co-Geschäftsleiterin des VCS, Caroline Beglinger, im Gespräch.
kontakt.sev: Diesen Herbst kommt die zweite Gotthardröhre in den Nationalrat, danach wird wohl eine Unterschriftensammlung nötig sein. Weshalb engagiert sich der VCS so stark in diesem Thema, für das ja in erster Linie die Alpen-Initiative zuständig ist?
Caroline Beglinger: Dieses Thema kann eine einzige Organisation nicht bewältigen. Wir haben das bei Fabi gesehen, wo der VCS den Lead hatte, aber viele Partner brauchte, allen voran den SEV. So ist es auch beim Gotthard: Die Alpen-Initiative hat den Lead, aber ohne Verbündete geht es nicht.
Das ist organisatorisch, wie sieht es politisch aus?
Wir haben uns schon vor zehn Jahren mit Anti Avanti gegen eine zweite Gotthard-Strassenröhre gestemmt. An der Sachlage hat sich nichts geändert, es ist immer noch Unsinn.
Der Bund sagt, dass die zweite Röhre nicht zu einem Ausbau führt, da nie mehr als zwei Spuren betrieben werden sollen. Weshalb trotzdem diese Opposition?
Das ist wirklich eine Irreführung des Volkes. Wir können gleich wetten, wann die erste Ostern ist, wo dann doch zwei Spuren in beide Richtungen geöffnet werden. Die Situation hat sich noch verschärft, weil 2016 der Eisenbahntunnel eröffnet wird, zwei topausgerüstete Röhren, durch die auch Autos und Lastwagen verladen werden können. Zudem wird mit dem Sicherheitsargument Schindluder getrieben: Wenn man 4 Milliarden Franken in Sicherheit investieren will, sollte man dies nicht am Gotthard tun – wo der Tunnel heute dank dem Tropfensystem schon sehr sicher ist – sondern an Orten, wo es wirklich gefährlich ist, gerade auch, weil es dort mehr Verkehr hat.
Nehmen wir an, dass der Eisenbahn-Basistunnel voll ausgelastet ist und es vor dem Strassentunnel immer noch Stau hat!
Dieser Stau findet in den Ferien und an Ostern statt und ist deshalb gut sichtbar, aber durchschnittlich ist das Verkehrsvolumen am Gotthard etwa wie im Ortszentrum einer normalen Schweizer Agglomerationsgemeinde, sagen wir Köniz, etwa 17 000 Fahrzeuge täglich. Wir befürchten, dass man Geld in eine Infrastruktur steckt, die man nicht braucht.
Sie haben gesagt, man solle das Geld an Orten einsetzen, wo es besser wirke. Sie stellen sich also nicht gegen jeglichen Strassenbau?
Beim VCS sind die lokalen Sektionen sehr aktiv. So findet beispielsweise die Sektion Waadt, man könnte sich in Morges intelligentere Lösungen vorstellen als die heutige Strasse, die die Stadt zweiteilt. Wenn neue Strassen, dann nur punktuell und begleitet von flankierenden Massnahmen, die diesen Namen verdienen. Also Strassenraum in städtischen Raum zurückführen, indem z. B. Strassenflächen rückgebaut werden. Als Fachfrau weiss ich, dass man Stau- und Verkehrsprobleme nicht mit zusätzlichen Strassen löst. Seit über 60 Jahren bauen wir massiv Strassen, den Stau sind wir nicht losgeworden, ganz im Gegenteil. Wenn wir heute Verkehrsinfrastrukturen bauen, dann müssen das Schienenin-frastrukturen und Verladeplattformen für die Güter sein.
Beim Güterverkehr scheint die politische Situation noch bedenklicher?
Wie der SEV sind wir sehr besorgt über das neue Gütertransportgesetz. Dieses enthält zwar gute Mechanismen, etwa die bessere Planung der Verladeplattformen, auch die neue Trassenregelung zwischen Personen- und Güterverkehr. Aber in dieses Gesetz gehört eine klare Zielvorgabe, wie der Verkehr ökologisch und sozial nachhaltig erbracht wird. Auch im Güterverkehr muss der Staat eine Grundversorgung sicherstellen.
Der VCS etabliert sich also als wichtigste Stimme in der Verkehrspolitik auf der öV-Seite. Wer ist eigentlich der Gegenspieler?
Das ist die Strassenlobby, angeführt von Strasse Schweiz, die immer noch dem alten Grundsatz nachhängt «Freie Fahrt dem freien Bürger», zusammen mit der Baulobby. Spätestens im Stau ist die freie Fahrt vorbei. Verkehr wird in der Schweiz nach wie vor subventioniert, auch der Autoverkehr. Und daher muss Mobilität für alle zugänglich sein, also auch für Kinder und Erwachsene ohne Führerausweis.
Was folgern Sie daraus?
Der grösste Gegner neben den politischen Organisationen ist der Irrglaube, dass Mobilität ein Gut ist, das man unendlich konsumieren kann. Wir müssen uns alle fragen: «Wenn ich 2000 Kilometer zusätzlich zurücklege pro Jahr zu den durchschnittlich 20 500 Kilometern von Herrn und Frau Schweizer, bin ich dann so viel glücklicher oder zufriedener?» Irgendwann ist die zusätzliche Investition an Zeit, Geld, Lärm, Luftbelastung grösser als der Nutzen. Wir alle zusammen müssen einen vernünftigen Umgang mit dem Verkehr finden.
Sprechen wir über den VCS: Eben erst hat er Fabi durch die Volksabstimmung gebracht, nun folgt der Gotthard. Sind die Mittel des VCS unbegrenzt?
Nein! Ich bin ja auch für die Finanzen zuständig und kann bestätigen, dass sie begrenzt sind. Gerade deshalb kann der VCS nicht alles allein machen. Wir stellen aber fest, dass wir treue Mitglieder und Partner haben, die bereit sind, unsere Arbeit zu unterstützen. Dank und mit ihnen können wir gegen unsinnige Vorhaben antreten.
Lange Zeit war der VCS bekannt, wenn nicht berüchtigt für seine Einsprache-Politik bei grossen Projekten wie Einkaufszentren und Sportstadien. Nun meldet er sich vermehrt politisch – ein Strategiewechsel?
Teils, teils. Wir machen nach wie vor Einsprachen bei Einkaufszentren oder andern Nutzungen, die nicht dem Gesetz entsprechen. Wir gehen aber heute oft anders vor: Wir haben z. B. einen grossen Erfolg erzielt bei Nespresso, indem wir sie auf ihre ökologischen Werte verpflichten und einen Vertrag vereinbaren konnten. Dieser regelt, dass ein wichtiger Teil der zu- und abtransportierten Güter auf der Schiene verfrachtet wird, nebst einem Mobilitätsplan für ihre gesamte Belegschaft. Aber das Verbandsbeschwerderecht ist zentral. Ich wage zu behaupten, dass Nespresso uns ohne die Möglichkeit einer Einsprache als Verhandlungspartner nicht ernst genommen hätte.
Aber mir scheint doch, der VCS hat sich verändert, auch mit dem Umzug von Herzogenbuchsee nach Bern: Aktentaschen anstatt Wollsocken?
Es hat sicher eine Veränderung gegeben. Der VCS hat aber schon früh Verkehrsgeschichte geschrieben: Die LSVA ist eine Erfindung des VCS (noch aus Birkenstock-Zeiten …) oder z. B. die Begegnungszone. Die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen ist einer breiten Bevölkerung bewusst, dass man vernünftiger und fürsorglicher mit der Umwelt umgehen muss. Wir sind also nicht mehr der einsame Rufer in der Wüste wie in den 80er-Jahren. Damit müssen wir auch anders mit dem Thema umgehen: hart in der Sache und korrekt im Umgang.
Was unterscheidet den VCS vom TCS?
Ganz bestimmt der Glaube, dass es eine intelligente Mobilität braucht, die aus der kombinierten Nutzung der Verkehrsmittel besteht. Dass also das Auto nicht die Lösung für alles ist, sondern punktuell zur Lösung beiträgt. Wir sind stark der Umwelt und den schwächeren sozialen Schichten verpflichtet. Bei den Dienstleistungen bieten wir gleiche Qualität wie der TCS, z. B. mit dem Schutzbrief, einer ökologischen Motorfahrzeugversicherung, unserer Pannenhilfe, usw. Wer mobil sein will, sollte VCS-Mitglied sein und damit wichtige Kampagnen für eine umwelt- und menschengerechte Mobilität unterstützen.
Die Angebote für bewusste, intelligente Mobilität in der Schweiz nehmen laufend zu; welche Rolle spielt der VCS in dieser Entwicklung?
Wir waren ganz früh bei Autoteilet dabei. Danach wurden die verschiedenen Organisationen zu Mobility zusammengeführt, heute eine erfolgreiche Firma, die Profit macht, und das ist auch gut so. Wir müssen als Verband nicht dort mitmachen, wo der Markt – der vielgerühmte – Privaten die Möglichkeit gibt, etwas anzubieten. Wir sehen uns gerne als Organisation, die einer Idee zum Durchbruch verhilft.
Und wie steht es mit der Gewichtung zwischen Dienstleistungen an die Mitglieder und verkehrspolitischem Engagement?
Das verkehrspolitische Engagement steht im Vordergrund. Aber es ist uns völlig bewusst, dass die Leute, die uns für dieses Engagement unterstützen, auch das Recht haben, etwas vom Verband zurückzubekommen. Da kommen die Dienstleistungen ins Spiel. Und diese in einer tadellosen Qualität zu erbringen, ist für uns zentral. Es soll mehr als ein Sponsoring sein, wenn man bei uns Mitglied ist, ein Geben und Nehmen. Wir freuen uns über jedes neue Mitglied, als Kunde, als Partnerin und als Mitstreiter für zukunftsgerechte Mobilität.
Interview: Peter Moor