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Jahresinterview mit Giorgio Tuti

«GAV sind das Filetstück der Gewerkschaftsarbeit»

Der Jahresbeginn bietet die Gelegenheit, zusammen mit SEV-Präsident Giorgio Tuti das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen und auf die nächsten Wochen und Monate zu blicken.

100 Jahre SEV: Giorgio Tuti freut sich auf die Jubiläumsfeierlichkeiten mit den SEV-Mitgliedern.

2018 war ein vollbepacktes Jahr mit GAV-Verhandlungen, Lohngleichheitsdiskussionen, Unstimmigkeiten auf EU-Ebene und vielem mehr. Welche Bilanz ziehst du?

Ich habe noch nie ein Jahr erlebt, das gewerkschaftlich gesehen absolut ruhig verlief. Das vergangene Jahr war aber doch eine kleine Ausnahme. In diesem enorm intensiven Jahr sind wir auch an gewisse Grenzen gestossen. Hier vorneweg deshalb schon mein grosser Dank an die Mitarbeitenden, Unterverbände und Sektionen für den aussergewöhnlichen Effort, den ihr geleistet habt. Insbesondere der GAV-Prozess bei den SBB hat unsere Organisation ziemlich strapaziert – wir haben neun Monate lang verhandelt. Ganz viele Leute haben hier riesige Arbeit geleistet, auch diejenigen, die im Hintergrund mitgewirkt haben. Wir hatten daneben auch andere Gesamtarbeitsverträge, die 2018 erneuert werden mussten. Das gehört zu unserem Kerngeschäft. Ende Jahr waren wir wirklich alle ziemlich müde. Wenn wir zurückblicken, können wir aber auch sagen: Wir waren erfolgreich!

Was ist dein persönliches Highlight 2018?

Für mich sind die Ausarbeitung und Erneuerung von Gesamtarbeitsverträgen das «Filetstück» der Gewerkschaftsarbeit. Der SEV hat eine GAV-Situation, die ich als sehr gut beurteile: In unserem Inventar haben wir etwas über 70 GAV und sind damit ziemlich flächendeckend präsent, auch bei den KTU. Der Abschluss des GAV SBB war deshalb schon ein Höhepunkt im letzten Jahr. Der GAV SBB war der erste GAV im öffentlichen Verkehr. Was wir darin als Messlatte setzen, wird auch in anderen GAV übernommen. Wir wollten ein qualitativ hochstehendes Resultat erzielen, zu dem wir stehen können. Nach neun Monaten intensivster Arbeit mit zahlreichen Mobilisierungen und Aktionen ist uns das gelungen.

Viele Themen und Projekte gehen auch 2019 weiter. Wie wählt der SEV seine Schwerpunkte?

Wir müssen uns immer wieder bewusstmachen, was für unsere Kolleginnen und Kollegen, die im SEV organisiert sind, wirklich zählt. Wesentlich ist für sie sicher, geregelte Arbeits- und Anstellungsbedingungen – über einen kollektiven Gesamtarbeitsvertrag – zu haben. Dazu gehört der Kündigungsschutz, ein klares Lohnsystem, Arbeitszeit- und Ferienbestimmungen. Die Ausarbeitung und Erneuerung von GAV ist für den SEV also sicher zentral. Aber natürlich geht unsere Arbeit noch viel weiter. Die verschiedenen Reorganisationen und Sparprojekte, wie Railfit 20/30 bei der SBB oder Best Way bei der BLS, bringen grosse Veränderungen für die Mitarbeitenden. Diese gilt es entweder zu bekämpfen oder professionell zu begleiten. Ein grosses Thema ist auch die Diskussion rund um Wettbewerb im öV, auch durch die EU angetrieben. Ich spüre hier viel Verunsicherung. Der öffentliche Verkehr in der Schweiz hat einen derart guten Stand, dass wir mit Experimenten aus purer Lust am Liberalisieren eine klare Verschlechterung riskieren. Unser einmaliges und erfolgreiches öV-System basiert auf Zusammenarbeit, nicht auf Konkurrenz. Wir wehren uns dagegen, konkret auch gegen Fernbusse und gegen das Auseinanderreissen von Fernverkehrskonzessionen.

Und was sind denn nun die konkreten Schwerpunkte im 2019?

Ein permanentes Thema und damit auch 2019 sehr wichtig ist die Erneuerung von bestehenden und der Abschluss neuer Gesamtarbeitsverträge. Dieses Jahr kommt noch ein Sozialplan wegen der Reorganisation Best Way der BLS hinzu. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Frauenstreik vom 14. Juni. Er muss gelingen, weil er sowas von überfällig ist. Ich kann nicht glauben, dass wir im 2019 punkto Lohngleichstellung überhaupt nicht dort sind, wo wir sein müssten. Wir werden uns für diesen Streik stark einsetzen und hier mitarbeiten.

Dann haben wir im letzten Jahr damit begonnen, den SEV zu modernisieren, mit neuem Logo und neuer Zeitung. Das wird auch in diesem Jahr noch weitergehen und gehört zur Ausrichtung des SEV auf die nächsten Jahre.

Und dann feiern wir in diesem Jahr ein Jubiläum und blicken zurück auf 100 Jahre SEV. Das soll ein Moment sein, um die Arbeit und Errungenschaften des SEV in diesen 100 Jahren zu reflektieren. Es ist auch die Gelegenheit zu überlegen, wohin die Reise in den nächsten Jahren gehen soll. Und nicht zuletzt werden wir natürlich auch feiern.

Dann blicken wir doch zurück: Wie hat sich der SEV in den letzten Jahren verändert?

In den zehn Jahren, in denen ich nun Präsident bin, haben wir im SEV die Strukturen der heutigen Zeit angepasst. Wir haben heute eine klare Trennung zwischen operativer und strategischer Arbeit: Die Geschäftsleitung ist zuständig für die Umsetzung dessen, was der Vorstand, den es vor meiner Zeit in dieser Form noch nicht gegeben hat, strategisch beschlossen hat. Wir hatten ausserdem im Personal einen Generationenwandel in den letzten zehn Jahren. In zwei Phasen gingen Kolleginnen und Kollegen in Pension. Es war eine grosse Herausforderung, neue gut ausgebildete Leute zu finden und den Know-how-Transfer sicherzustellen.

Auch die Art und Weise der Arbeit hat sich verändert. Verhandlungen über Verträge gehören heute zum Tagesgeschäft, was vor zwanzig Jahren noch eher exotisch war. Natürlich hat sich auch die Gesellschaft verändert. Da musste und muss sich der SEV anpassen. Generell ist heute alles viel schneller und komplexer, das ist zuweilen eine Herausforderung. Der Handlungsbedarf hat sich vervielfacht, wir können aber nicht überall dabei sein. Müssen wir auch nicht, wenn wir uns vor Augen führen, was unsere Mitglieder vom SEV erwarten: individuell hochstehende Leistungen wie den Rechtsschutz und kollektive Leistungen wie Gesamtarbeitsverträge. Die Qualität wollen wir beibehalten!

Und wohin geht die Reise? Ist Gewerkschaftsarbeit überhaupt noch zeitgemäss?

Gewerkschaften gibt es solange sich Leute zusammenfinden, um gemeinsam für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen. Man muss das möglicherweise etwas neu formulieren und moderner verkaufen. Am Ziel und Zweck einer Gewerkschaft wird sich aber auch mit dem gesellschaftlichen Wandel nichts ändern. Wir müssen Beispiele von Erfolgsgeschichten erzählen, um zu zeigen, dass wir gemeinsam wirklich mehr erreichen als alleine. Und wichtiger denn je ist unsere Aufgabe, den Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, sich zu äussern. Sie müssen Sorgen, Ängste und Ideen formulieren können, und wir müssen uns entsprechend für ihre Bedürfnisse einsetzen. Es braucht einen permanenten Austausch.

Nichtsdestotrotz kämpft der SEV mit rückläufigen Zahlen. Wie reagiert er darauf?

Wir haben im letzten Jahr festgestellt, dass es einfacher ist, erfolgreich Mitglieder zu werben, wenn wir uns sicht- und hörbar machen im Rahmen von Kampagnen, Mobilisierungen und Aktionen. Aber die Mitgliederwerbung ist und bleibt ein Riesenthema, auch vor dem Hintergrund der geburtenstarken Jahrgänge, die nun ins Pensionsalter kommen und die wir bei den Aktiven verlieren werden. Mitgliederwerbung ist natürlich auch einer der Schwerpunkte im neuen Jahr. Es geht dabei auch um Repräsentativität, um Durchschlagskraft – in Verhandlungen ist ein hoher Organisationsgrad in der jeweiligen Unternehmung ein zentraler Erfolgsfaktor.

Gewerkschaften wollen auch die politischen Rahmenbedingungen mitgestalten. Was macht der SEV diesbezüglich?

Der SEV konzentriert sich auf verkehrspolitische und Service-public-Themen und in Zusammenarbeit mit dem SGB natürlich auch auf sozialpolitische Themen. Unser diesjähriger politischer Schwerpunkt liegt bei den Pensionierten, deren finanzielle Situation verbessert werden muss. Der SEV unterstützt deshalb die Erarbeitung einer Initiative für eine 13. AHV-Rente, wie sie am SGB-Kongress Ende 2018 beschlossen wurde. Er wird sich aber auch zusammen mit Kolleginnen und Kollegen vom PV dafür einsetzen, Unterschriften zu sammeln und die Vorlage vors Volk zu bringen.

Als Präsident der Eisenbahnsektion der Europäischen Transportarbeiterföderation (ETF) und des Sozialen Dialogs im Sektor Eisenbahn hast du auch auf EU-Ebene mit politischen Rahmenbedingungen zu kämpfen …

Ich bin dem Vorstand dankbar dafür, dass ich in Europa versuchen kann, gewisse Akzente zu setzen. Es ist nicht einfach, in Europa etwas zu verändern, das ist klar. Aber ich glaube, man sollte das durchaus versuchen. Und das mache ich im Rahmen der Eisenbahnsektion der ETF, unserer Dachorganisation, die 83 Gewerkschaften im Eisenbahnbereich aus 37 Ländern organisiert und damit rund 900000 Arbeitnehmende in der Branche vertritt. Ich finde es richtig, dass man sich europäisch für anständige Rahmenbedingungen einsetzt, die man schlussendlich auch im eigenen Herkunftsland wieder vorfindet. Durch die Liberalisierungswelle, losgetreten von der EU, nimmt der Wettbewerb zu, der schliesslich auf dem Buckel der Arbeitnehmenden ausgetragen wird, wenn wir gewerkschaftlich kein Gegensteuer geben. Das ist auch der Grund für eine ETF-Kampagne gegen Dumping im Eisenbahnbereich, die wir 2018 lanciert haben.

In der Schweiz wird mit Flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping gekämpft. Diese stehen mit dem EU-Rahmenabkommen nun zur Diskussion.

Wir Gewerkschaften haben ein hohes Interesse an geregelten Verhältnissen mit der EU. Dafür braucht es Abmachungen. Wenn der Preis für geregelte Verhältnisse aber der ist, dass wir den Lohnschutz preisgeben, können wir das nicht akzeptieren. Der Preis ist viel zu hoch und wir werden nie bereit sein, diesen zu bezahlen! Nicht nur die Löhne, auch die Anstellungsbedingungen werden verschlechtert und Arbeitsplätze gefährdet. Deshalb ist für uns klar: Am Lohnschutz wird nicht gerüttelt.

SEV, ETF, SGB – du tanzt auf vielen Hochzeiten. Hast du noch Zeit für Privates?

Ich kann Arbeit und Privates nur schwer trennen, denn ich mache meinen Job aus Überzeugung. Es ist eine sehr intensive Zeit, auch im SGB, den ich die nächsten Monate – bis der neue Präsident Pierre-Yves Maillard sein Amt antritt – zusammen mit Vania Alleva noch leiten werde. Aber ja, ich hatte auch schon mehr Freizeit als in den letzten Monaten. Aber es ist erträglich, und es ist vor allem nötig; und da bin ich auch bereit, gewisse Abstriche zu machen.

Was wünschst du dir vom neuen Jahr?

Ich wünsche mir einen schönen Kongress im Juni, schöne Jubiläumsfeierlichkeiten und einen sehr gelungenen Frauenstreik. Und dass wir weiterhin solide Gewerkschaftsarbeit leisten und auf viele zufriedene Mitglieder und Neumitglieder zählen können. Ich wünsche mir ausserdem motivierte Mitarbeitende und gute Teamarbeit. Schliesslich habe ich auch einen persönlichen Wunsch: Gesundheit. Denn das ist wohl das Wichtigste!

Chantal Fischer
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