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Motion Ettlin

Ein Angriff auf die Mindestlöhne

Von einem Schutzinstrument zu einem Mittel zur Förderung des Lohndumpings: Mit der im Dezember vom Parlament verabschiedeten Motion Ettlin können Gesamtarbeitsverträge von Arbeitgebern zur Umgehung kantonaler Mindestlöhne genutzt werden. Der Ball liegt nun beim Bundesrat, der sich gegen die Motion ausgesprochen hatte.

Die Motion Ettlin führt die kantonalen Mindestlöhne aufs Glatteis. © Parlamentsdienste/Béatrice Devènes

Mitte Dezember nahm der Nationalrat mit 95 zu 93 Stimmen bei vier Enthaltungen die vom Ständerat bereits im Juni gutgeheissene Motion Ettlin knapp an. Eingereicht wurde diese von Ständerat Erich Ettlin (Die Mitte, OW). Sie sieht vor, dass für Berufe mit einem allgemeinverbindlichen landesweiten Gesamtarbeitsvertrag (GAV) keine kantonalen Mindestlöhne gelten sollen.

Der Bundesrat lehnte die Motion ab, da er der Meinung war, man dürfe einem demokratisch legitimierten kantonalen Gesetz nicht zuwiderhandeln. Nun muss der Bundesrat einen Gesetzesentwurf formulieren.

Was bedeutet das konkret?

Folgende Kantone haben derzeit einen Mindestlohn: Basel-Stadt, Genf, Jura, Neuenburg und Tessin. Im Tessin gilt das kantonale Gesetz über den Mindestlohn bereits heute nur für diejenigen Branchen, für die kein allgemeinverbindlicher nationaler GAV in Kraft ist. Besonders heikel ist die Situation hingegen in Genf und Neuenburg, wo die kantonalen Mindestlöhne heute teilweise höher sind als in den jeweiligen nationalen Gesamtarbeitsverträgen. Dies gilt z. B. für die Coiffeurbranche, Gastgewerbe und Hotellerie, Reinigungsdienste oder Tankstellen: Die Arbeitnehmenden in diesen Sektoren laufen Gefahr, dass ihre Löhne gesenkt werden.

Beschäftigten droht Armut als Working Poor

Das grosse Risiko für diese Berufe besteht darin, dass die dort Beschäftigten nicht mehr genügend Lohn erhalten, um über die Runden zu kommen, und so in die Armut abrutschen, also zu Working Poor werden. Dabei handelt es sich um Berufe, die durch niedrige Löhne gekennzeichnet sind und bei denen die Einführung des kantonalen Mindestlohns die Situation ein wenig verbessert hat, sodass die Beschäftigten ein würdiges Leben führen können.

Mit der Motion werden die kantonalen Mindestlöhne wirkungslos, die ja ein Existenzminimum für alle garantieren sollen. Gemäss Luca Cirigliano, der beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund für das Dossier zuständig ist, gibt der Bund den Kantonen die Kompetenz, sozialpolitische Gesetze zu erlassen und damit auch die Möglichkeit, Löhne zu beschliessen, die das Existenzminimum abdecken: «Die Abschaffung der kantonalen Souveränität durch die Definition der Mindestlöhne in der Motion Ettlin würde die verfassungsmässige Ordnung verletzen und die Sozialpartnerschaft sabotieren», so Cirigliano. Auch ist der SGB der Ansicht, dass GAV, welche Löhne unterhalb der kantonalen Mindestlöhne vorsehen, gar nicht existieren dürften.

Sollte der Bundesrat nun die Motion in der vorliegenden Form in ein Gesetz giessen, könnten die GAV zugunsten der Arbeitgeber missbraucht werden. Anstatt den Beschäftigten also bessere Arbeitsbedingungen als die gesetzlichen Mindestvorschriften zu garantieren, könnten die GAV dazu benutzt werden, diese noch zu unterschreiten. Das wäre eine gefährliche, skandalöse Nivellierung nach unten mit erheblichen Folgen für die Sozialpartnerschaft.

Die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass für Kantone in Grenzregionen wie Genf und Neuenburg die Gefahr des Lohndumpings grösser ist als anderswo: Eine solche Massnahme würde dort die Situation noch verschlimmern. Ausserdem komme dieser Angriff auf die Löhne zu einem Zeitpunkt, an dem Diskussionen über den Lohnschutz und unsere Beziehungen zur EU im Gange sind, gibt Cirigliano zu bedenken.

Würden die Arbeitgeber so weit gehen, die Gehälter ihrer Mitarbeitenden zu senken? Es wäre nicht das erste Mal: Mehr als einmal haben Vertragslücken zu rapiden Lohnsenkungen geführt. In Genf haben die Besitzer von Coiffeursalons bereits angekündigt, dass sie keine Skrupel hätten, dies zu tun.

Eines ist nicht klar: Die Berufe, die von einem derartigen Gesetz am stärksten betroffen wären, leiden bereits unter Arbeitskräftemangel. Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Situation durch eine weitere Senkung der ohnehin schon niedrigen Löhne noch verschlimmert? Wenn man zum Beispiel an das Gastgewerbe denkt, wo der Druck aufgrund des Personalmangels eher für Lohnerhöhungen spricht, ist schwer verständlich, dass die Arbeitgeber die Motion unterstützen.

Der SGB hat bereits erklärt, dass er sich mit allen Mitteln gegen dieses Gesetz wehren und die kantonalen Mindestlöhne verteidigen wird.

Veronica Galster / Übersetzung: Jörg Matter
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