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Gewalt in der Öffentlichkeit

«Die Gesellschaft wird nicht brutaler»

Nach dem Vorfall in Frankfurt, als ein Mann eine Mutter und ihr Kind vor einen einfahrenden Zug stiess, wurde das Thema Sicherheit an Bahnhöfen gross diskutiert. Nicht weniger medial aufgenommen wird auch Gewalt in Zügen, sei diese gegen Zugpersonal oder Reisende gerichtet. Gibt es heute mehr Delikte in der Öffentlichkeit? Der SEV hat nachgefragt bei Dr. Patrik Manzoni, Soziologe/Kriminologe am Kriminologischen Institut der Universität Zürich.

SEV: Wie entwickelt sich Gewalt im öffentlichen Raum der Schweiz?

Dr. Manzoni: Entgegen der weitverbreiteten Meinung in der Bevölkerung ist die Gewalt im öffentlichen Raum zurückgegangen, wenn man die gemeldeten Fälle in der Kriminalstatistik anschaut. Auch die Meinung, dass die Gewalt immer brutalere Formen annimmt, lässt sich nicht erhärten: Im Wesentlichen ist seit 2010 eine relativ konstante Zahl schwerer Gewalt festzustellen, die nur etwa drei Prozent aller erfassten Gewaltdelikte ausmacht. Es ist also nicht so, dass die Gesellschaft immer mehr verroht und brutaler wird. Auch Gewalt durch Jugendliche ist übrigens deutlich zurückgegangen, wobei man allerdings in den letzten zwei Jahren wieder eine leichte Zunahme beobachten kann. Dennoch ereignen sich immer wieder schwere Gewalttaten, die zu Recht die Sorge der Bevölkerung erregen.

Wie äussert sich Gewalt?

Gewalt kann sich in verschiedensten Formen zeigen, von verbalen Beschimpfungen, Drohungen, Mobbing bis hin zu roher Gewalt zwischen Einzelpersonen oder Gruppen. Als auffälligen Punkt würde ich die Gewalt von und zwischen Fangruppen erwähnen. In den letzten zehn Jahren kann man beobachten, dass es relativ viele Ereignisse gibt, bei denen grössere Gruppen von Fans aufeinander losgehen und auch mit Gewalt gegen die Polizei vorgehen. Dies hat teils auch für das Transportwesen negative Auswirkungen.

Welche Gründe gibt es für Übergriffe?

Es spielen immer eine Vielzahl an Gründen mit, wenn jemand zu Gewalt greift. Zunächst gibt es Faktoren der Persönlichkeit: Personen, die sich beispielsweise schlecht kontrollieren können, wenig Frustrationstoleranz aufweisen und leicht provozierbar sind, verhalten sich eher gewalttätig in bestimmten Situationen. Wichtig ist auch, wie eine Person aufgewachsen ist. Weiter spielen die schulischen oder beruflichen Erfahrungen eine Rolle. Wer hier Mühe und wenig Erfolgserlebnisse hatte und keine Anerkennung erfuhr, kann vielleicht gelernt haben, dass Gewalt Anerkennung und Respekt verschafft. Zudem spielt vor allem bei Jugendlichen die Gruppe der Gleichaltrigen eine zentrale Rolle. Wenn auch Freunde Verbotenes tun, steigt das Risiko, ebenfalls Gewalt auszuüben, um Zugehörigkeit, Anerkennung in der Gruppe zu erfahren.

Welche Massnahmen verhelfen zu mehr Sicherheit und weniger Gewalt?

Aus kriminologischer Sicht gibt es ein breites Bündel an möglichen Gegenmassnahmen. Zunächst wäre sicher sinnvoll durch Prävention in Familie und Schule möglichem Problemverhalten zuvorzukommen. Hierbei gilt: Je früher die Prävention ansetzt, desto wirksamer ist sie. Weiter ist die Schule ein wichtiger Ort für Gewaltprävention; gerade auch um frühe Anzeichen von Aggressivität und Gewalt zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, z.B. durch die Vermittlung von Kompetenzen zur friedlichen Konfliktlösung und eines respektvollen Umgangs miteinander. Auch die Förderung von strukturierten Freizeitmöglichkeiten, bei denen Jugendliche aktiv mitwirken und Verantwortung zu übernehmen lernen, kann präventiv wirken.

Im öffentlichen Raum selbst ist es schwierig und komplex. Es kann versucht werden, durch die Präsenz von Polizei an neuralgischen Orten präventiv zu wirken. Ein Zuviel davon kann allerdings auch kontraproduktiv sein und bestimmte Gruppen provozieren.

Die präventive Wirkung von Videoüberwachung ist gemäss Literatur widersprüchlich und zeigt sich eher in Parkhäusern als im öffentlichen Raum oder in Verkehrsmitteln. Zudem gibt es Hinweise, dass die Kriminalität sich in andere Gebiete verschiebt. Eine Studie der Zürcher Verkehrsbetriebe zeigte jedoch, dass es deutlich weniger Vandalismus sowie Bedrohungen und Gewaltvorfälle gab in Bussen mit Videosystem im Vergleich zu Bussen ohne.* Auch kann dadurch das Sicherheitsgefühl von Personen erhöht werden. Ferner sind aber wir alle als Mitglieder der Gesellschaft aufgerufen, der Gewalt entgegenzuwirken und nicht wegzuschauen bzw. im Rahmen des Möglichen zu intervenieren. In diesem Sinne wäre auch die Zivilcourage zu fördern, um Übergriffe zu vermeiden.

 

*Laux, Michael: Der präventive Einsatz von Videokameras im öffentlichen Verkehr. In Schwarzenegger & Nägeli (Hrsg.): 3. Zürcher Präventionsforum–Videoüberwachung als Prävention, Zürich: Schulthess, 2010, S. 1–9.

Chantal Fischer

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Beispiel BLS

Aufgrund zahlreicher Rückmeldungen unserer Mitglieder lässt sich darauf schliessen, dass dem Zugpersonal immer weniger Respekt und Anstand gezollt wird. Zugbegleiter/innen sind hohem Druck ausgesetzt und erleben auch immer wieder Übergriffe. Zu den konkreten Zahlen lässt sich indes wenig aussagen, denn die Bahnunternehmen halten sich diesbezüglich weitgehend bedeckt.

Gemäss BLS sind die schweren Fälle von Gewalt gegenüber dem Zugpersonal seit 2015 zurückgegangen, nicht zuletzt auch dank ihrer Kampagne «Ein Schritt zurück». Dabei gilt es zu vermerken, dass die BLS drei Kategorien unterscheidet: schwerer Vorfall (Vorfall mit Körperverletzung), mittelschwerer Vorfall (Tätlichkeiten wie Stossen oder leichter Schlag) und leichter Vorfall (ohne Körperkontakt, z.B. Beschimpfung).

Mit der BLS-Kampagne soll die Sicherheit des Personals erhöht werden. So setzt das Unternehmen darauf, dass ihre Zugbegleiter in einer schwierigen Situation zuerst «einen Schritt zurück» gehen, was Raum gibt, um im Gespräch eine Situation zu klären und zu deeskalieren, anstatt die Konfrontation zu suchen. Dadurch kommt es eher zu einem leichten oder mittelschweren Vorfall; diese beiden Kategorien haben seit 2015 konsequenterweise zugenommen.

Ab 22 Uhr seien Reisebegleiter/innen zudem immer zu zweit auf den Zügen unterwegs (Umsetzung öV-Charta des SEV), so die BLS weiter. Und sie biete auf die Bedürfnisse der Reisebegleitung abgestimmte Weiterbildungen an. Diese werden dank dem SEV weiter ausgebaut. Jeder Vorfall wird laut BLS bei der Polizei angezeigt, man arbeite eng mit den Polizeiorganisationen der Kantone zusammen.

Diese Ansätze gilt es unbedingt weiterzuverfolgen und dabei die Mitarbeitenden eng einzubeziehen. Denn diverse Rückmeldungen zeigen, dass einige Vorfälle nicht mehr gemeldet werden. Offenbar herrscht beim Personal die Wahrnehmung, dass von Unternehmensseite zu wenig unternommen wird.

So oder so ist für den SEV jeder einzelne Übergriff – egal welchen Ausmasses – einer zu viel, und muss unbedingt verhindert werden. Der SEV begleitet hier die BLS deshalb eng. So prüft das Unternehmen auf Anstoss des SEV seit Anfang Jahr diverse Massnahmen, die Ende 2019 eingeführt werden sollen. Zuvor befragte sie ihre Mitarbeitenden, um zu erfahren, wie sie die Reisebegleiter/innen zusätzlich unterstützen kann. Eine Massnahme könnte sein, Erfahrungsgruppen zu bilden, in denen sich Betroffene über erlebte Situationen austauschen können.

Auch wäre mehr Präsenz im Sinne einer konsequenten Doppelbegleitung in den Morgen- und Abendstunden auf heiklen Linien zu begrüssen. Doch aufgrund des Kostendrucks im Regionalverkehr fehlt es an Personal. Diese Massnahme ist deshalb offenbar nicht generell umsetzbar.

Der SEV wird dranbleiben, denn Sicherheit steht für uns an oberster Stelle; und es darf nicht sein, dass das Personal die Zeche bezahlen muss für Sparübungen im Service public.