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200. Geburtstag von Karl Marx

Kapitaler Denker für das 21. Jahrhundert

Vor 200 Jahren, nämlich am 5. Mai 1818, wurde Karl Marx geboren, der das philosophische und soziale Denken seiner Zeit auf den Kopf stellte, insbesondere mit seinem Hauptwerk «Das Kapital». Was bleibt von seinem Gedankengut heute übrig? Soziologe Bernard Friot sieht darin viel Aktualität.

Für Soziologe Bernard Friot haben die Werke von Marx nichts an Aktualität eingebüsst.

«Wieso Karl Marx heute so relevant ist wie nie zuvor.» Aus dem Munde eines Marxisten würde uns diese Behauptung wohl zum Schmunzeln bringen. In diesem Fall stammt sie jedoch von Historiker Adam Tooze. Sie stand als Titel über seinem Artikel in der «Financial Times» vom 4. Mai, einen Tag vor dem 200. Geburtstag von Marx.

Die Finanzkrise im 2007, die nur knapp nicht in einem US-Staatsbankrott endete, erklärt zweifellos das Zurückkommen auf Marx als Denker der Krisen und der Ungleichheit. Die britische Wirtschaftszeitung verlieh 2014 ihren Preis für das Wirtschaftsbuch des Jahres dem Beststeller «Das Kapital im 21. Jahrhundert». Der französische Ökonom Thomas Piketty dokumentiert darin die Geschichte der Ungleichheit zwischen den Superreichen und dem Rest der Bevölkerung. Der Titel spielt natürlich auf das bekannteste Werk von Marx an: «Das Kapital».

Nach Marx wie Marx denken?

Der 200. Geburtstag von Karl Marx bietet Gelegenheit, an diesen radikalen Denker zu erinnern und über die Aktualität und Relevanz seines Werks nachzudenken. Vielleicht trägt dies zu einem besseren Verständnis des Zeitgeistes unserer heutigen Welt bei, in der die Globalisierung allgegenwärtig ist. Marx’ Schriften sind natürlich stark vom 19. Jahrhundert geprägt, als das Proletariat aufkam und sich als soziale Klasse zu organisieren begann, und als der Sozialstaat noch in den Anfängen stand.

Erlaubt uns Marx’ wirtschaftliches, soziales und revolutionäres Denken, den weltweiten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts zu verstehen und Wege zu einer besseren Wirtschaftsordnung zu finden? Kann man nach Marx noch wie Marx denken?

Genau das war das Thema der dreitägigen Veranstaltung «Marx 2018», die Anfang Mai von der «Waadtländer Philo- sophiegruppe» im «Maison de Quartier sous-gare» in Lausanne organisiert wurde.

Der Anlass begann mit einer anregenden Auslegung von Marx’ Werk durch Bernard Friot, Arbeitsökonom, emeritierter Soziologieprofessor der Universität Paris Nanterre und Autor von «Emanciper le travail». Basierend auf Marx’ Denken hinterfragte Friot die Vorstellung, dass der Kapitalismus unüberwindbar sei. Das Bürgertum sei nicht die einzige organisierte soziale Klasse. Kritisches Denken dürfe sich nicht nur darauf beschränken, sich mit den Opfern des weltweiten Kapitalismus zu solidarisieren und diesen zwar zu kritisieren, aber nicht infrage zu stellen. Im Namen von Marx lehnt Friot diese Haltung der kritischen Sozialwissenschaften ab, denn diese verunmöglichten damit ein Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus.

Friot forderte dazu, die Gegenwart mit andern Augen zu betrachten: Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus laufe bereits. Er erinnerte an die Definition des Kommunismus von Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Werk «Die deutsche Ideologie»: «Der Kommunismus ist die wirkliche Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt.» Für Friot ist «die Bewegung, die den Kapitalismus durch den Kommunismus ersetzen will, in unseren Gesellschaften schon vorhanden».

Denker des Klassenkampfes

Heute, wo man meint, dass der Neoliberalismus alles auf diesem Planeten wegfegt, erstaunt die Behauptung von Friot. Sie macht aber auch Hoffnung. «Mehr noch als ein Denker der Herrschaft war Marx ein Denker des Gegensatzes», betont Friot. «Was erlaubt, dass wir über den Wandel nachdenken, über eine Alternative zum Kapitalismus. Es bedeutet auch, dass wir von zwei Klassen ausgehen, die sich ihrer Interessen bewusst sind und diese auch durchsetzen können, und nicht von einer einzigen dominierenden Klasse. Mit Marx denken bedeutet auch, an der Schule der Sieger zu sein, den Kommunismus in seiner Entstehung zu beobachten und den sozialen Aspekt einer Alternative zum Kapitalismus zu erkennen. Das ist es, was die Lektüre von Marx ungemein spannend macht. Er hält uns ständig vor Augen, dass die Revolution möglich ist.»

Kampf um die Herrschaftüber die Arbeit

Gemäss Marx liege der fundamentale (Klassen-)Gegensatz im Kapitalismus darin, wie die Arbeit als Produzentin von wirtschaftlichem Wert definiert wird, erklärte Friot weiter. Der Kapitalismus habe die Machtposition zu definieren, was Arbeit ist und was nicht – und folglich auch, welche Art von Aktivität wertvoll ist und welche nicht. «Um die Definition der Arbeit und deren Kontrolle streiten sich zwei Klassen.»

Friot präzisiert, «dass nicht das Geld im Zentrum des Klassenkampfes steht, sondern die Arbeit. Das Bürgertum ist nicht die vorherrschende Klasse, weil es das Geld dominiert, sondern weil es bestimmt, was Arbeit ist und was nicht. Es zieht seine Macht aus der Beherrschung der Arbeit und aus seiner Fähigkeit, diese zu nutzen. Seine Macht über das Geld ergibt sich daraus. Das Bürgertum als erfolgreiche revolutionäre Klasse hat dem Adel gesagt: ‹Ich arbeite nicht mehr für dich, ich ändere die Definition und Praxis der Arbeit.› Das ist Revolution!»

Das politische Regime zu stürzen ist also noch keine Revolution. Dazu gehört auch eine Änderung der Produktionsverhältnisse. Die Produktionsmittel wechseln den Besitzer, und die Produzenten erhalten einen neuen Status. Das ist es, was das Bürgertum zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert gemacht hat.»

Für Friot kann eine Revolution mehrere Jahrhunderte dauern. In diesem Sinne sei die Französische Revolution nur die Kirsche auf dem Kuchen eines langen Transformationsprozesses der Wirtschaft über fünf Jahrhunderte. Und die UdSSR habe den Umsturz teuer bezahlt.

Der Lohn – eine kommunistische Errungenschaft

Friot schlägt denn auch nicht einen Sturm auf den Zarenpalast vor, sondern die Förderung und Weiterentwicklung jener Institutionen, die nicht im Dienst der Kapitalerwirtschaftung stehen, beginnend beim öffentlichen Dienst und der Altersvorsorge. Denn das Kapital beraube die Arbeitenden ihrer Entscheidungsfreiheit über ihre eigene Produktion: Wer was, wo und wie produziert, werde allein vom Kapital bestimmt.«Je mehr wir von der Gewinnmaximierung wegkommen, desto mehr wird die Bevölkerung über ihre Produktion bestimmen können und die Hoheit über die Arbeit gewinnen.»

Dieser Fortschritt habe bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, als die ersten Gewerkschaftskämpfe den Arbeitern erlaubten, sich aus der Unterakkordanz zu befreien und Arbeitsverträge zu erhalten. Letztere institutionalisierten den Lohn, «eine wahrhafte Errungenschaft des Kommunismus», betont Friot.

So sei der Kommunismus kein Hirngespinst, sondern existiere schon lange ansatzweise in den Gegensätzen im Kapitalismus, erklärt Friot. Die kommunistische Revolution der Arbeit müsse nicht neu erfunden werden, sondern habe schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem am Ende des 2.Weltkriegs einiges erreicht, auf dem man aufbauen könne.

So sei damals in der Schweiz die AHV eingeführt worden, die dank ihrer klaren sozialen Ausrichtung der Rechten und den Versicherern ein Dorn im Auge sei. Während vieler Jahre seien auch die PTT und die SBB als Service-public-Betriebe im Dienste der Bevölkerung gestanden, ohne eine Rendite abwerfen zu müssen.

Diese verloren gegangene Dynamik gelte es wieder zu aktivieren, fordert Friot. Um die Arbeit aus den Fängen des Kapitals zu befreien, müsse fortgesetzt werden, was die Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert erreicht hat. Friot denkt an ein bedingungsloses Grundeinkommen, an die Teilhabe der Arbeitenden an den Unternehmen und an die Subventionierung von Investitionen.

Raus aus dem erpresserischen Arbeitsmarkt

In Frankreich waren die kommunistische Partei und die kommunistische Gewerkschaft CGT nach dem Krieg in einer Phase des sozialen Fortschritts in der Lage, das Beamtenrecht zu schaffen (Loi Thorez vom Oktober 1946). Auch zu jener Zeit wurde auf Anstoss des aus der CGT hervorgegangenen und von General de Gaulle ernannten Ministers Ambroise Croizat ein System der sozialen Sicherheit für alle eingeführt. Dazu gehörten neben der Krankenversicherung das Recht auf Lohn bei Elternschaft (Familienzulagen) und nach der Pensionierung (Renten). So wurde erkämpft, dass Arbeit als solche anerkannt wurde und nicht nur im kapitalistischen Bereich des Arbeitsmarktes.

Die Angestellten des öffentlichen Dienstes wurden von den Risiken des Arbeitsmarkts befreit, indem ihnen der Arbeitgeber nicht mehr kündigen konnte und indem ihre Löhne aus dem Arbeitsmarkt ausgeklammert wurden. «Das ist Kommunismus», sagt Friot, «der Arbeiter wird Inhaber seines Lohnes. Er ist nicht mehr ein Individuum auf dem Markt, das ist vorbei. Von da kommt der Hass des Bürgertums auf den öffentlichen Dienst. Die führende Klasse ist besessen davon, die Macht über Arbeit und Lohn zu haben – nicht über das Geld an sich.» Diese Macht wolle das Bürgertum in Frankreich im aktuellen Streit um das Eisenbahnerstatut zurückgewinnen.

Die Lausanner Veranstaltung zeigte, dass Marx’ Analyse des Kapitalismus und der Klassengegensätze noch immer aktuell ist und helfen könnte, Wege aus dem Kapitalismus zu finden. Sie zeigte auch, wie wichtig es ist, die öffentlichen Dienste aus der Logik des Profits herauszunehmen und den Status der Service-public-Angestellten zu verbessern – statt Kündigungen zu erleichtern, wie dies die SBB aktuell vorsieht.

Yves Sancey/chf/Fi

Bio

Karl Marx wird am 5. Mai 1818 in Trier (Preussen) geboren. Er studiert in Bonn und Berlin und doktoriert 1841 an der Universität von Jena in Philosophie. Als engagierter Journalist bei der «Rheinischen Zeitung» flieht er 1843 vor der preussischen Zensur, als diese die Publikation verbietet. Im gleichen Jahr heiratet er Jenny von Westphalen nach fünf Jahren Briefbe- ziehung. Er bereist ganz Europa, mit längeren Aufenthalten in Paris, Brüssel und Köln und zahlreichen Ausweisungen. 1848 publiziert er mit Friedrich Engels das «Manifest der kommunistischen Partei» mit dem berühmten Satz: «Die Geschichte aller Gesellschaften bis heute ist die Geschichte von Klassenkämpfen».1849 lässt sich Marx in London nieder. Von seiner Heirat bis zum Tod reichen seine Einkünfte nur selten, um seine fünfköpfige, zeitweilig sechsköpfige Familie zu ernähren. Die Jahre in Brüssel und London sind besonders hart. Sein Hauptwerk ist «Das Kapital», wofür er 20 Jahre seines Lebens aufwendete. Marx ist bekannt für seine materialistische Geschichtsauffassung, in der die Ökonomie eine zentrale Rolle spielt. Ebenso für seine Analyse des Kapitalismus, nach der den Arbeitern aus ihrer Arbeitskraft ein Mehrwert abgepresst und für die Kapitalanhäufung missbraucht wird. Marx ist bekannt für seine revolutionäre Tätigkeit in der Arbeiterbewegung, insbesondere in der Internationalen Ar- beiter-Assoziation (IAA). Er stirbt 1883 in London.

ysa/chf

Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren – Das zeitlose Rüstzeug von Marx

«Ich bin überzeugt, dass Marx als Denker hier und heute lebt, und dass sich dies im aktuellen Jahrtausend erneut bestätigen wird», schreibt Franco Cavalli in «Area», der Tessiner Zeitung der Unia. Kurz gesagt: Marx hatte recht und er wird recht behalten.

Karl Marx.

«Der Weltmarkt bildet selbst die Basis dieser [kapitalistischen] Produktionsweise», lautet eine der Leitideen im dritten Band von Marx’ Werk «Das Kapital». Er hatte recht; eine starke Intuition – ausgenutzt von Theoretikern und Praktikern des ökonomischen Imperialismus. Die Freiheit der Waren und des Kapitals sind wesentliche Merkmale des globalisierten Marktes, der einst von den Amerikanern angetrieben und heute von ebendiesen gebremst und beschädigt wird. Der Präsident der schweizerisch-schwedischen Gruppe ABB (Asea Brown Boveri) beschreibt die Globalisierung geradeheraus als die unternehmerische Freiheit, in das zu investieren, was man will, das zu produzieren, was man will, zu kaufen und verkaufen, wo man will und sich dabei so wenig wie möglich vom Arbeitsrecht und der Sozialgesetzgebung einschränken zu lassen (aus «Le Devoir», 5. Mai 2001). Was Marx vorausgesagt hat, ist eingetreten. In der Konsequenz wurde alles in Waren umgewandelt, auch das, was keine Ware ist und es auch nicht sein sollte, wie zum Beispiel öffentliche Dienstleistungen, soziale Sicherheit und – vor allem – die Arbeit. Die Sozialabzüge auf dem Lohn wurden minimiert und die Versicherung für den Fall von Invalidität, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft oder Krankheit auf die öffentliche Hand abgewälzt, um dieser dann Verschwendung vorzuwerfen. Die Ersparnisse der Arbeitenden, ihre Renten und ihre Krankenversicherung wurden dem Markt bzw. Privatversicherern anvertraut.

Am Ende des «Kapitals» zeigt Marx die Perspektive auf, dass die Arbeit dank dem Fortschritt und der dadurch gesteigerten Produktivität nicht länger als Ware zu gelten habe und dass die sozialen Bedürfnisse der Menschen vom Profit losgelöst sein müssen. Doch dies ist bis heute nicht eingetreten.

Ungerecht und instabil

Marx hat aufgezeigt, dass der Kapitalismus ein ungerechtes und instabiles System ist, was anhand der Ausbeutung der Arbeiter/innen sowie der ständigen Krisen sichtbar wird. Ab einem gewissen Punkt wird das System irrational – gerade wegen des Erfolgs, den ihm seine eigene Effizienz bringt. In wenigen Worten zusammengefasst, macht Marx’ Werk folgende Aussage: Die Krise ist uns gewiss, doch die Katastrophe nicht. Die Tricks, die sich die Kapitalisten ausgedacht haben oder die das System vorschreibt, vermögen seine Widersprüchlichkeit und Unausgewogenheit nicht dauerhaft aus der Welt zu schaffen. Dies beweist die aktuelle Krise, die bisher ungelöst ist, während wir schon auf die nächste zusteuern. Eine Krise löst die andere ab, doch niemals lässt uns dies das Ende des Kapitalismus erahnen, auch wenn es sich ankündigt. Vielleicht erfährt der Kapitalismus eine Wiedergeburt in einer antidemokratischen, gewalttätigen Form wie dem Krieg oder Faschismus, oder er präsentiert sich wie in den letzten Jahrzehnten in einem regressiveren Gewand, zum Beispiel in dem des Neoliberalismus, der rasanten Marktprivatisierung oder der Zerschlagung sozialer Errungenschaften.

Kritik der politischen Ökonomie

Mit den Werkzeugen von Marx ist man stets gut ausgerüstet. Das Besondere an seiner Analyse ist die «Kritik der politischen Ökonomie» (so lautet der Untertitel von «Das Kapital»). Marx schlägt eine alternative wirtschaftliche Berechnung vor: Die Menschheit sollte danach streben, ihr kollektives Wohlbefinden zu steigern, anstatt sich auf die private Profitmaximierung zu konzentrieren. Ist das nicht das eigentliche Problem? Der Kapitalismus ist ein kompaktes, nicht reformierbares System. Heute versucht man sogar, die Bedingungen für sein reibungsloses Funktionieren wiederherzustellen, und dies im Namen der totalen Freiheit – ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse von Mensch und Umwelt. Was tun? Halten wir uns an Marx, das könnte uns auch heute noch weiterhelfen.

Silvano Toppi, Ökonom/kt

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung von «Area» übernommen.