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Zwiegespräch mit Yves Rossier, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV)

«Die Arbeit schafft den Reichtum für unser Sozialsystem»

Yves Rossier, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), steht kontakt.sev Rede und Antwort zur AHV, zur IV und zur 2. Säule der Altersvorsorge inklusive Ascoop und Pensionskasse SBB. Er äussert sich auch grundsätzlich zur Arbeit und zur Solidarität als Grundlagen des Sozialstaats.

Yves Rossier

Am Eingang zum Büro des BSV-Direktors hängt eine Karikatur von ihm als Lokomotive mit der Aufschrift «Rossier Express ». Yves Rossier ist ein «Zugfan». Seine Denkgeschwindigkeit gleicht eher einem TGV als dem Train des Vignes (Vevey– Chexbres–Puidoux). Gleis 1, Achtung, der Zug fährt ab!

kontakt.sev: Glauben Sie, dass eines Tages alle Pensionskassen einen optimalen Deckungsgrad haben werden?

Yves Rossier: Alle Pensionskassen stehen vor demselben grossen Problem: Die Rentabilität der Kapitalien genügt nicht mehr, um die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen zu bezahlen. Die Situation der Pensionskasse SBB ist noch schwieriger, weil sie einen Rückstand aufholen muss (siehe Kasten).

Auslöffeln müssen diese Suppe letztlich die aktiven Versicherten, indem sie Sanierungsbeiträge bezahlen, und die Rentner/ innen durch den Verzicht auf den Teuerungsausgleich…

Das Bundesamt für Sozialversicherungen

Das BSV ist nicht für alle Sozialversicherungen verantwortlich. Es wacht über das gute Funktionieren der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV), der Ergänzungsleistungen (EL), der Invalidenversicherung (IV), der beruflichen Vorsorge, des Erwerbsersatzes für Dienstleistende und bei Mutterschaft (EO) und der Familienzulagen. Die Arbeitslosenversicherung untersteht dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im Volkswirtschaftsdepartement. Für die Kranken- und Unfallversicherung ist das Bundesamt für Gesundheit zuständig. Es untersteht wie das BSV dem Eidg. Departement des Innern, das von Bundesrat Didier Burkhalter geleitet wird. Das BSV ist das Kompetenzzentrum des Bundes für allgemeine sozialpolitische Fragen und für die Themenfelder Familie, Kinder, Jugend, Alter und Generationenbeziehungen. Yves Rossier leitet das BSV seit 2004. Sein Amtsvorgänger war Otto Piller. Das BSV hat rund 300 Mitarbeitende. Sein Jahresbudget beträgt 13 bis 14 Milliarden Franken (ein Viertel des Bundesbudgets). Davon ist der Grossteil für Zahlungen an die Versicherten (AHV, EL, IV und EO) und für Subventionen an Dritte (Familienzulagen, Kindertagesstätten, Jugendorganisationen) bestimmt.

Eine Pensionskasse ist eine Summe von Solidaritäten. Solidarität funktioniert nur, wenn alle bereit sind, ihren Beitrag zu leisten, inklusive Unternehmungen. Dass dies unangenehm ist, verstehe ich gut. Doch wenn man es nicht tut, macht man das Solidaritätssystem kaputt.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass die 2. Säule der beruflichen Vorsorge eher einem Spielkasino gleicht als einem Solidaritätssystem? Gewisse Finanzleute machen auf dem Kapitalmarkt satte Gewinne, während die Versicherten Beiträge leisten und das Nachsehen haben?

Die zweite Säule als Spielkasino abzutun, ist populistisch. Die aktuellen Schwierigkeiten beschränken sich auf die Probleme zur Finanzierung der Leistungen. Der Bundesrat und das Parlament hatten vorgeschlagen, den Umwandlungssatz zu senken, doch diese Lösung wurde in der Volksabstimmung vom 7. März 2010 abgelehnt. Also müssen andere Lösungen her. Falls Ihr Spielkasinovergleich auf die Verwaltungskosten der Kassen anspielt, dann müssen Sie wissen, dass diese sehr gering sind im Verhältnis zum Geldbedarf. Im BSV erarbeiten wir für den Bundesrat gerade einen Bericht mit Vorschlägen, wie die Situation der beruflichen Vorsorge verbessert werden kann. Eine Massnahme betrifft auch die Verwaltungskosten der Pensionskassen.

Wie ist die Lage bei der AHV?

Das Finanzierungsproblem ist ein anderes als bei den Pensionskassen. Mittelfristig ist die Finanzierung der AHV gesichert. Problematisch wird sie zwischen 2021 und 2030. Dann werden wir auf jeden Fall eine Zusatzfinanzierung benötigen. Nachdem das Parlament im Herbst die 11. AHV-Revision versenkt hat, will Bundesrat Didier Burkhalter zuerst einmal jene technischen Anpassungen in einer Vorlage vereinigen, die nicht umstritten waren. Danach wird das Eidgenössische Departement des Innern eine Revisionsvorlage ausarbeiten und dem Parlament in der nächsten Legislaturperiode vorlegen.

Warum braucht die AHV nach 2021 zusätzliche Geldmittel ?

Weil sich zwei Probleme kumulieren werden: Die Menschen leben immer länger, und die Babyboom-Generation wird dann pensioniert sein. Länger zu leben ist an sich schön, ein Absinken der durchschnittlichen Lebenserwartung wie in Russland oder Südafrika wäre ein Desaster für die Schweiz. Der Babyboom – also die hohe Geburtenzahl zwischen 1945 und 1965 in den vom 2. Weltkrieg betroffenen Staaten – war die stärkste Bevölkerungsexplosion der ganzen Menschheitsgeschichte. Wir leben also immer länger, und die Zahl jener, die pensioniert werden, nimmt laufend zu.

Welche Lösungen schlagen Sie vor, um die Finanzierung der AHV zu sichern, die durch die Alterung der Bevölkerung infrage gestellt wird?

Selbst wenn die Schweizerinnen und Schweizer ab diesem Jahr sehr viele Kinder machen würden, brächte dies zumindest in den nächsten 25 Jahren noch nicht die Lösung des Problems. Die AHV wird durch die Arbeit der Leute finanziert. Es ist die Arbeit, die den Reichtum für unser Sozialsystem schafft. Die eingewanderten Arbeitskräfte, insbesondere jene, die seit dem Abschluss des Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU in die Schweiz gekommen sind, helfen bei der Alimentierung der AHV-Kassen mit. Die Sozialversicherungsbeiträge dieser Immigrant/ innen belaufen sich auf Milliarden von Franken. Die Frauen, die in immer grösserer Zahl am Arbeitsmarkt teilhaben, tragen ebenfalls zur Finanzierung unseres Sozialsystems bei. Und es gibt immer mehr junge Pensionierte, die zwischen 65 und 70 Jahren weiterarbeiten. Je mehr Leute in unserem Land arbeiten, desto besser geht es unserem Sozialsystem.

Sie reden da dem Pensionsalter 67 das Wort, das alt Bundesrat Pascal Couchepin so lieb war …

Schon heute gehen zwei Drittel der Männer nicht mit 65 in Pension: Ein Drittel lässt sich früh pensionieren, ein Drittel arbeitet zwischen 65 und 70 weiter und nur gerade ein Drittel gibt genau mit 65 Jahren jede Erwerbstätigkeit auf.

Woher wissen Sie, dass ein Drittel der Männer zwischen 65 und 70 Jahren weiterarbeitet? .

Wir haben die finanzielle Situation von 1,2 Millionen Personen untersucht. Es ist die grösste Studie dieser Art, die in der Schweiz je durchgeführt wurde. Es war keine Telefonumfrage, sondern es wurden die Steuererklärungen und Sozialversicherungsdaten ausgewertet. Dabei haben wir zu unserer grossen Überraschung festgestellt, dass 32,1 % der Männer im Alter zwischen 65 und 70 Jahren einer bezahlten Arbeit nachgehen. Und wir können davon ausgehen, dass es nicht weniger sind, weil die Leute bekanntlich nicht weniger verdienen, als sie auf der Steuererklärung angeben …

Gibt es viele Leute, die nur von der AHV-Rente leben ?

Nein, nur 2,5 % der Rentnerinnen und Rentner leben ausschliesslich von der AHV. Ich weiss, dass auch höhere Zahlen im Umlauf sind, basierend auf den individuellen Einkommen. Nehmen Sie ein Rentnerehepaar, bei dem die Frau nie erwerbstätig gewesen ist: Da leben beide von der AHV- und Pensionskassenrente des Mannes. Da ist das Haushaltseinkommen und nicht das individuelle Einkommen massgebend. Bei den alten Leuten gibt es keine strukturelle Armut mehr, diese hat sich zu den Familien mit nur einem Elternteil und zu den Working Poors verschoben.

Wie erklären Sie es sich dann, dass so viele Rentner/innen Ergänzungsleistungen beziehen?

Eine Mehrheit der Rentner/ innen beantragt Ergänzungsleistungen, wenn sie ins Seniorenheim eintreten. Der Heimaufenthalt kostet 6000 bis 8000 Franken pro Monat. Konkret dienen die Ergänzungsleistungen zur Finanzierung der Pflege.

Anfang Jahr ist die Mehrwertsteuer erhöht worden, um die Invalidenversicherung zu sanieren. Wie sieht die Lage und Zukunft dieser Versicherung aus?

Man muss klar sagen: Die IV ist technisch bankrott! Sie hat eine Schuld von 15 Milliarden und macht jedes Jahr eine Milliarde Defizit. Allein ihre Schuldzinsen belaufen sich jährlich auf rund 300 Millionen Franken. Die Erhöhung der MwSt. ist auf sieben Jahre beschränkt. Diese Zusatzfinanzierung dient allein dazu, das jährliche Defizit der IV auszugleichen. Um die IV nachhaltig zu sanieren, muss gespart werden. Das ist das Ziel der 6. Revision. Im Auftrag des Parlamentes haben wir eine bestimmte Zahl von Massnahmen vorgeschlagen, um die Ausgaben um eine Milliarde zu senken. Wenn das Parlament sagt: «Nein, ihr geht mit den Einsparungen zu weit», dann muss eine Zusatzfinanzierung ins Auge gefasst werden, um die Zukunft der IV zu sichern. .

Wie war es möglich, dass die IV in diese Schieflage geriet?

Es wäre vielleicht von historischem Interesse, diese Frage zu beantworten, doch meine Aufgabe ist es nun, Lösungen vorzuschlagen, um die IV im Rahmen ihrer 6. Revision zu sanieren. Die Entscheide trifft der Bundesrat, dann das Parlament und allenfalls zuletzt das Stimmvolk.

Die 5. IV-Revision hat die Leistungen schon stark beschnitten. Wie viele Renten sind damit gestrichen worden?

Mit der 5. Revision wollten wir aus der IV das machen, was sie von Anfang an hätte sein sollen, nämliche eine Integrationsversicherung. Daher haben wir uns darauf konzentriert, dafür zu sorgen, dass Betroffene weiterarbeiten konnten, und nicht darauf, bisherige Renten zu streichen. Wir haben ziemlich erfolgreich in Massnahmen zur beruflichen Reintegration investiert. Aber wenn Sie eine derart grosse Schuld mitschleppen müssen, genügt das nicht. Zudem sind wir gesetzlich verpflichtet, die IV zu sanieren.

Sie haben gesagt, dass die Arbeit den Reichtum für unser Sozialsystem schafft. Was tut das BSV, um zu verhindern, dass ganze soziale Gruppen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden: die Jungen, weil sie noch keine Erfahrung vorweisen können; die Frauen, weil sie sich um ihre Kinder kümmern müssen; und die über 55-Jährigen, weil sie nicht mehr genügend rentabel sind?

Die Situation ist nicht so dramatisch. Unter den OECDLändern hat die Schweiz eine der höchsten Erwerbstätigenraten. Es stimmt, dass Frauen, die Kinder haben, nur beschränkt erwerbstätig sein können. Doch um das zu ändern, haben wir ein Programm zur Schaffung von Betreuungsplätzen lanciert. In den acht Jahren, seit dieses Programm läuft, sind 250 000 Plätze in Kindertagesstätten geschaffen worden.

Christiane Brunner schlägt vor, Krippen in Bahnhöfen zu schaffen. Was halten Sie davon?

Uns ist nie ein solches Projekt vorgelegt worden. Es sind vor allem Gemeinden, die bei uns Projekte einreichen. Im Prinzip scheint es mir aber eine gute Idee, in den Bahnhöfen Krippen einzurichten.

Was tun Sie für die Jungen?

Im Unterschied zu älteren Arbeitnehmenden haben Junge besonders grosse Mühe, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen, vor allem wenn sie ihre Ausbildung nicht abschliessen konnten. Die Mehrzahl jugendlicher Arbeitsloser findet innerhalb von sechs Monaten wieder eine Stelle. Für die, die langzeitarbeitslos werden, ist die Lage sehr ernst. Das Problem lässt sich zweifellos mit Ausbildung lösen.

Und wie kann man den über 55-Jährigen helfen?

Auch sie müssen sich weiterbilden. Für die über 50-Jährigen sollten vermehrt Massnahmen zur beruflichen Weiterbildung und Neuorientierung ins Auge gefasst werden. Man tendiert dazu zu sagen, dass sich Investitionen in die Ausbildung ab einem bestimmten Alter nicht mehr lohnen würden. Nach meiner Meinung ist dies falsch. Wir brauchen diese Kompetenzen immer mehr.

Die Angestellten des öffentlichen Verkehrs werden zunehmend Opfer von Unflätigkeiten und Gewalt. Hat sich das BSVProgramm «Jugend und Gewalt» mit dieser Problematik auseinandergesetzt?

Ziel dieses Programms ist, die Grundlage zu legen für eine nachhaltige Praxis der Prävention. Unter diesem Gesichtspunkt ermuntern wir die Kantone und Gemeinden, sich über ihre Erfahrungen mit der Jugendgewalt auszutauschen. In unserem föderalistischen politischen System neigen wir allzu oft dazu, zu ignorieren, was der Nachbarkanton tut.

Der Rechts-Links-Gegensatz in unserem Land wird immer ausgeprägter. Erschwert er Reformen unserer Sozialversicherungen?

Das BSV steht im Dienst der Politik. Unsere Aufgabe ist es, Probleme transparent aufzuzeigen, Lösungen vorzuschlagen und stets an das Gebot der Solidarität zu erinnern. Und wenn es dem politischen Willen entspricht, können wir Reformen vorschlagen im Wissen darum, dass das Volk das letzte Wort hat.

Was ist für Sie «Solidarität»?

Wenn Sie Mitgliederbeiträge an eine Gewerkschaft bezahlen, werden Sie sich nicht jedes Jahr fragen, ob die Dienstleistungen, die die Gewerkschaft unter dem Jahr für Sie erbracht hat, wertmässig Ihrem Mitgliederbeitrag entsprochen haben. Gleich verhält es sich mit dem Sozialstaat. Eine Solidarität, zu der ich nichts beitragen will, ist keine Solidarität, sondern Selbstbedienung. Solidarität heisst nicht, andere darum zu bitten, uns Almosen zu geben. Solidarität ist weder Selbstlosigkeit noch Selbstbedienung: Es ist die Überzeugung, dass wir mit vereinten Kräften Probleme besser lösen können als jede/r auf eigene Faust.

2013 feiert Ihr Bundesamt seinen 100. Geburtstag. Was wünschen Sie sich als Geschenk?

Ich wünsche mir, dass eine Lösung gefunden wird, um die Stabilität unseres Pensionskassensystems zu sichern. Dieses Problem ist für mich dringender als die Finanzierung der AHV. Für die berufliche Vorsorge müssen wir bis 2013 Lösungen finden.

Fragen: Alberto Cherubini / Fi

Pensionskasse SBB und ASCOOP

Beide Pensionskassen haben in den letzten Jahren auch das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV beschäftigt. Direktor Yves Rossier zu kontakt.sev : «Die Rolle des BSV war in den beiden Fällen nicht dieselbe. Der Pensionskasse SBB mussten wir sagen: ‹Achtung, ihr habt nicht genügend Geld.› Unsere Rolle war aber marginal. Es ist am Bundesrat und am Parlament zu entscheiden, ob sich der Bund an der Ausfinanzierung beteiligen soll. Alle politischen Kräfte im Parlament haben festgestellt, dass die Sanierungsanstrengungen real sind, sowohl seitens der SBB-Angestellten wie auch seitens der Unternehmung. Der Beschluss des Ständerats und der Finanzkommission des Nationalrats, für die Sanierung der PK SBB 1,148 Mrd. zu bewilligen, ist ein erster Schritt, der aber nicht genügt. Bei der Ascoop war die Lage von Anfang an anders: Bei ihr waren in der Geschäftsführung schwere Probleme aufgetreten. Ziel des BSV war, alles zu unternehmen, um die aktiven Versicherten und die Rentner/ innen korrekt zu behandeln. Die Gründung der neuen Kasse Symova und die Ascoop-Teilliquidation tangierten nur die Interessen von drei Versicherten. Doch es war eine lange, schwierige Arbeit. Die aktiven Versicherten müssen nach wie vor Sanierungsbeiträge bezahlen. Vor allem aber konnten die Arbeitgeber überzeugt werden, die nötigen Mittel für gute Lösungen bereitzustellen.»

AC / Fi