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Ein persönlicher Rückblick von SEV-Präsident Giorgio Tuti

Meine Erinnerungen an «Aschi»

Kennengelernt habe ich Ernst Leuenberger, als ich mich um eine offene Stelle im Sekretariat des Solothurner Gewerkschaftsbunds bewarb. Roberto Zanetti war soeben zum vollamtlichen Gemeindepräsidenten von Gerlafingen gewählt worden, und die Stelle an Aschis Seite war frei geworden. Er hat mich angestellt und wurde in der Folge mein Lehrmeister, was gewerkschaftliches und politisches Handeln angeht. Darüber hinaus entstand auch eine persönliche Freundschaft, die in den vergangenen 20 Jahren gewachsen ist.

1993 wechselte Aschi zum SEV in Bern, wo er Vizepräsident wurde. Ich ging zur selben Zeit als Sekretär zur GBI ins Tessin. Vier Jahre später, Aschi war inzwischen zum SEV-Präsidenten gewählt worden, fragte er mich an, ob ich zum SEV kommen wolle. Denn der Umbau der SBB vom Bundesbetrieb zu einer Aktiengesellschaft stand an und es galt, einen ersten Gesamtarbeitsvertrag mit der SBB zu verhandeln. Gemeinsam mit den SEV-Kolleginnen und -Kollegen haben wir für diesen GAV gestritten und gekämpft.

Der GAV SBB wurde zu einem Vorbild für die Verträge im öffentlichen Verkehr. Es war uns gelungen, die Anstellungsbedingungen aus dem Bundesbetrieb in die liberalisierte SBB zu übertragen, ohne dass das Personal schmerzhafte Abstriche erleiden musste. Insbesondere konnten wir der SBB die Zusicherung abringen, dass keine Entlassungen aus wirtschaftlichen Gründen erfolgen dürfen; ein Grundsatz, der auch heute unverändert gilt. Die Verdienste von Ernst Leuenberger um die Arbeiterbewegung – im Rahmen der Gewerkschaften ebenso wie bei der Sozialdemokratischen Partei – sind immens. Zeit seines Lebens hat er sich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt, hat für sichere Arbeitsplätze, gerechte Löhne und korrekte Anstellungsbedingungen gekämpft. Er sprach die Sprache des Volkes und scheute sich auch dann nie, deutlich zu werden, wenn der Zeitgeist eher auf Seite der „politischen Korrektheit“ war.

Die Leute an der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Basis spürten, dass Aschi einer von ihnen war. Im Gegensatz zu vielen Politikern, die gerne mehr sein würden, als sie sind, setzte Aschi seine Bildung und sein umfassendes Wissen nicht ein, um persönlich zu brillieren, sondern gezielt dort, wo es der Sache diente: Im Umgang mit den kleinen und grossen Chefs der Unternehmen, mit Wirtschaftskapitänen und Politgiganten. Hätte ich damals in Solothurn, in der bescheidenen Zentrale des Gewerkschaftsbundes am Rossmarktplatz, Ernst Leuenberger nicht kennengelernt, würde ich heute nicht auf dem Stuhl des SEV-Präsidenten sitzen, seinem früheren Stuhl, der mir immer noch etwas zu gross ist...

Ich erinnere mich an Aschi als berufliches Vorbild und als Kollegen. Ich erinnere mich aber auch an ihn als Freund, der die Geselligkeit schätzte, wenn der Rahmen überblickbar blieb. Ganz besonders werde ich mich an die Neujahrsnachmittage erinnern, die zur Tradition geworden sind. Im kleinen, linken Kreis hat Aschi mit uns aufs neue Jahr angestossen. Am nächsten Neujahr wird er mir ganz besonders fehlen.