Ohne uns!

Geschichte der Immigration in die Schweiz

Migration ist nichts Neues. Und auch die Gründe für die Migration haben sich nicht grundlegend verändert: Erschwerte Lebensbedingungen wegen Krieg, Hunger und Vertreibungen, aus wirtschaftlichen Gründen oder einfach nur aus Wanderlust oder Neugierde. Das war auch für all die Schweizer Auswanderer nicht anders, die in Kanada, Amerika oder Russland ihr Glück suchten. Meistens besteht im Zielland auch ein Bedarf nach Arbeitskräften aus dem Ausland, wie die Entwicklung der Schweiz zu dem, was sie heute ist, deutlich macht.

Wir haben fast alle einen Migrationshintergrund!

Streng genommen haben wohl fast alle von uns einen Migrationshintergrund: Bis 1848 gab es in der Schweiz nur kantonale Bürgerrechte. Ein Glarner, der nach Zürich zog war damals ein «Ausländer». Den Schweizer Pass gibt es erst seit 1915. Dies macht die Schwierigkeit deutlich, «Ausländer» zu definieren. Die Definition ist stark von den jeweiligen politischen und sozialen Verhältnissen geprägt. Und von der Einbürgerungspraxis: Die Schweiz hat nicht zuletzt deswegen eine der höchsten Ausländerquoten Europas, weil sie eben auch eine der restriktivsten Einbürgerungspolitiken betreibt.

Ein Fünftel aller Ausländer (20,7%) ist in der Schweiz geboren und gehört somit zur zweiten oder sogar dritten Ausländergeneration. Zwei Fünftel (39,3%) aller im Ausland Geborenen hält sich seit mindestens 15 Jahren in der Schweiz auf; 14,6% davon seit mindestens 30 Jahren. Fast alle Personen mit einem italienischen oder spanischen Pass (87,5% bzw. 86,3%) besitzen eine zeitlich unbeschränkte Niederlassungsbewilligung. In den meisten anderen europäischen Ländern wären diese Menschen wohl schon lange eingebürgert.

Migration im 17. Jahrhundert

Eine Eigenheit, die die Schweiz sich traditionell selbst zuschreibt, ist ihre Offenheit gegenüber Flüchtlingen. Ende des 17. Jahrhunderts gewährten die Schweizer Kantone Ausländern das erste Mal in grösserem Umfang Asyl: den reformierten Hugenotten. Sie gaben der Schweizer Wirtschaft neue Impulse, auch wenn sie von den damaligen Behörden nicht mit so offenen Armen empfangen wurden, wie es der Mythos will. Etliche der Kantonsregierungen setzten alles daran, die Hugenotten zur Weiterreise nach Deutschland zu bewegen.

19. Jahrhundert: Die Ausländer bringen die Schweiz voran

Im 19. Jahrhundert zeichnete sich die Einwanderungspolitik der Schweiz durch grosse Freizügigkeit aus. Man brauchte keine Papiere, um in die Schweiz einzureisen. Viele MigrantInnen waren Akademiker und sie brachten Bewegung in die schweizerischen Universitäten. Im Jahr ihrer Gründung 1833 hatte die Universität Zürich auf allen elf Lehrstühlen ausländische Professoren. 1915 hatten noch 27% aller Professoren an Schweizer Universitäten keinen Schweizer Pass. Und auch heute besetzen Hochschulen ihre Lehrstühle oft mit ausländischen Professoren.

Bauzug beim Gotthardtunnelbau (Wikipedia)
Im 19. Jahrhundert kamen aber auch viele Handwerker aus Deutschland in die Schweiz. Diese wurden wegen ihres technologischen Wissens, das die einheimische Landbevölkerung nicht besass, von den aufstrebenden Wirtschaftszweigen gesucht. Zur gleichen Zeit wanderten viele Bauern aus der Schweiz aus. Es wurde gesagt, dass die Fremden den Einheimischen die Arbeit wegnehmen würden. Doch: Viele Bauern wanderten deswegen aus, weil sie sich nicht an die neue industrielle Ausrichtung der Schweizer Wirtschaft anpassen konnten. Ohne Immigration wäre die Schweizer Wirtschaft nicht geworden, was sie ist.

Ein anderer Typ Einwanderer war der visionäre Unternehmer. Viele heute weltbekannte Schweizer Firmen wurden von Immigranten gegründet: Nestlé (Deutschland), Maggi (Italien), Wander (Deutschland) oder die Ciba (Frankreich).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Eisenbahnnetz gebaut, welches einen wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung der Schweiz hatte. Die notwendigen Tunnelbauten (Gotthardtunnel {1872}, Simplon {1898} und Lötschberg {1907}) wurden im Wesentlichen von ausländischen Arbeitskräften gebaut. Die eidgenössische Volkszählung von 1910 ergab zum Beispiel, dass von 1000 Arbeitskräften im Eisenbahnbau 899 aus dem Ausland kamen. Auch in anderen Branchen war der Ausländeranteil hoch, etwa im Kulturbereich (770 von 1000 Arbeitskräften) oder im Baugewerbe (Maurer: 582; Stein- und Marmorbrüche: 547; Hochbau: 519).

Restriktive Ausländerpolitik

1914 erreicht der Ausländerbestand mit rund 600 '000 Personen rsp. 15% der Gesamtbevölkerung einen Höchststand. In den Grenzstädten war er sogar deutlich höher: 30,8% in Lugano, 37,6% in Basel, 40,4% in Genf. Ungefähr in dieser Zeit avancierte die Schweiz zu einem der reichsten Länder der Welt. In der Politik diskutierte man gar über Zwangseinbürgerungen. Man erhoffte sich so, die Ausländer als Arbeitskräfte in der Schweiz behalten zu können.

In der Schweiz kam aber gleichzeitig ein Überfremdungsdiskurs auf. Im ersten Weltkrieg wurden die fremdenpolizeilichen Bestimmungen verschärft, eine Visumspflicht eingeführt und die eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei geschaffen. In der Geschichtsschreibung spricht man von der restriktivsten Phase der schweizerischen Ausländerpolitik. 

Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in der Zwischenkriegszeit kamen auch mehr Flüchtlinge. Während des 2. Weltkrieges wurden viele Flüchtlinge in die Schweiz aufgenommen, viele wurden aber auch abgewiesen. Dazu schreibt der Bergier-Bericht: «Eine am Gebot der Menschlichkeit orientierte Politik hätte viele Tausend Flüchtlinge vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten und ihre Gehilfen bewahrt».

Aufschwung für die Schweizer Wirtschaft dank Saisonniers

Saisonniers bei der Rückreise in die Heimat (Quelle: Geschichte BL)
Im Gegensatz zu den Nachbarländern, konnte die Schweizer Industrie ihre Produktion nach dem Krieg rasch wieder starten. Deshalb brauchte die Schweiz dringend Arbeitskräfte aus dem Ausland. Diese erhielten eine sogenannte Sasionier-Bewilligung. Mit dem Saisonierstatut konnte man die Ausländer je nach Bedarf holen. Jene durften dann für höchstens 9 Monate bleiben rsp. mussten das Land für mindestens drei Monate wieder verlassen. Dies bot ein unerschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften, welche man wieder loswerden konnte, sobald man sie nicht mehr brauchte. Ihre Familien mussten die Arbeiter zu Hause lassen.

Zwischen 1950 und 1970 stieg die Zahl der ständig Niedergelassenen in der Schweiz von 140 000 auf 584 000. Wieder machte die Angst der «Überfremdung» die Runde (knapp verworfene Schwarzenbach-Initiative). Man argumentierte, dass sie den Schweizern die Arbeitsplätze wegnehmen würden – dabei verrichteten sie die Arbeiten, die kein Schweizer mehr machen wollte. Max Frisch sagte dazu: «Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen.»

Als Mitte der siebziger Jahre eine neue Wirtschaftskrise begann, kehrten bis in die achtziger Jahre mehr als 300 000 Italiener in ihre Heimat zurück.

Eine neue Migrationspolitik

Nach 1950 kamen in mehreren Wellen Gruppen von Flüchtlingen in die Schweiz, die der Situation in ihren Herkunftsländern entgehen wollten: Tibeter, Ungarn, Tschechen und Slowaken und Tamilen. Ihre Ankunft löste in der Schweizer Bevölkerung eine Reihe von Solidaritätsbewegungen aus.
Bis in die siebziger Jahre äusserte die Wirtschaft immer wieder Vorbehalte gegen das Saisonnierstatut: Es war für die Wirtschaft nicht produktiv, eingearbeitete Arbeitskräfte wieder nach Hause zu schicken, um dann neue zu holen.

Die Basis einer neuen Integrationspolitik, die einer bessere Rechtstellung der Ausländer ermöglichte, wurde in den siebziger Jahren gelegt. Gewährt wurden ein erleichterter Familiennachzug und eine Verbesserung des Aufenthaltsrechts. Der Begriff der Überfremdung verschwand allmählich.

In den achtziger Jahren erlebte die Schweiz einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es gab daher wieder Bedarf an Arbeitskräften, diesmal kamen sie auch aus entfernteren Ländern. Aus dieser Zeit stammt das so genannte Drei-Kreise-Modell: Aus dem ersten Kreis (EU- und EFTA-Staaten) sollen die Arbeitskräfte frei in die Schweiz einwandern dürfen; aus dem zweiten Kreis (USA, Kanada, Australien, Neuseeland) soll die Einwanderung eingeschränkt werden; aus dem dritten Kreis (Asien, Afrika, Lateinamerika) soll die Einwanderung grundsätzlich ausbleiben.

Die Zahl der Migranten und Migrantinnen in der Schweiz stieg ab den 80er-Jahren konstant an, bis heute auf etwa 22,5%. Die drei grössten Migrantengruppen sind die Italiener (16,7%), gefolgt von dem Deutschen (15,5 %) und der Portugiesen (12,5%). Noch immer arbeiten AusländerInnen in traditionell eher schlecht bezahlten Bereichen (Reinigung, Industrie, Hauswirtschaft, Pflege, Bau). Aber es kommen auch immer mehr gut ausgebildete Arbeitskräfte in die Schweiz (Ärzte, Forscher, Hochschuldozenten). Dies vor allem deshalb, weil die Schweiz nicht genügend Nachwuchs ausbildet.

Prof. George Sheldon (Uni Basel) kommt zum Schluss, «dass zwischen 1995 und 2000 fast die gesamte Zunahme der Arbeitsproduktivität von jährlich 0.5% auf die Zuwanderung zurückzuführen war» (Comtesse, 2009) .

Heuchlerisch: Illegal aber trotzdem gefragt

SEV Transparente an der Sans-Papiers-Demo 2011 in Bern
Mit dem Schengener Abkommen hat die Schweiz das Drei-Kreise-Modell zementiert. Trotz Abschottung leben in der Schweiz rund 100 000 so genannte Sans-Papiers, Menschen ohne offizielle Dokumente. Sie leben und arbeiten, ohne dass sie über die entsprechenden Bewilligungen verfügen. Nur: Offenbar gibt es einen Markt für ihre Arbeitskraft, denn die Sans-Papiers arbeiten als Hausangestellte, bei Baufirmen, etc. Die Situation ist absurd: Offiziell will man MigrantInnen aus dem dritten Kreis nicht in der Schweiz haben. Ihre Arbeitskraft wird von der Wirtschaft aber dennoch gerne angenommen, oft nützen die Arbeitgeber die prekäre Situation der Sans-Papiers aus und lassen diese zu Hungerlöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen schuften.

(Quelle: BfS, unia)

Links

Sans Papiers Schweiz

Literatur

Zum Thema ist zudem der Film «Home, sweet Home» von Charles Heller zu empfehlen (Bestellbar bei