Das Interview zum Jahresanfang

Giorgio Tuti: «Gemeinsam werden wir viel erreichen»

Kampf der Liberalisierung, der Stellenstreichung und dem Rentenabbau – 2017 wird ein geladenes Jahr. Für SEV-Präsident Giorgio Tuti stehen ausserdem Wahlen an, und zwar gleich zwei.

kontakt.sev: Giorgio Tuti, 2016 war ein geladenes Jahr. Geht es 2017 genauso weiter?

Ja, es geht im gleichen Rhythmus weiter. Einige Bearbeitungsschwerpunkte von 2016 konnten wir abschliessen, bei anderen war uns von Anfang an klar, dass sie uns auch im Jahr 2017 weiter beschäftigen würden – zum Beispiel Railfit20/30.

Dort hat man noch im alten Jahr eine Vereinbarung getroffen. Was nun?

Die Vereinbarung betrifft die Massnahmen bei der Pensionskasse und aus meiner Sicht ist sie ein Erfolg. Wir können zwar nicht sagen, wir hätten auf der ganzen Linie gewonnen, aber das Verhandlungsresultat ist durchaus vertretbar. Die Leute haben sich keine Illusionen gemacht, und das Resultat wurde auch verstanden. Aber ohne die Mobilisierung, die wir gemacht haben, wäre dieses Resultat nicht möglich gewesen. Auf die Unterstützung unserer Mitglieder sind wir weiterhin angewiesen, denn nun geht es um die Aufhebung von 1400 Stellen. Es geht um einen Arbeitsplatzabbau! Doch dieser wird nicht über Kündigungen laufen, weil der GAV SBB/SBB Cargo Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen ausschliesst.

Doch genau dieser GAV muss 2018 neu ausgehandelt werden …

Das stimmt. Es ist unser grösster GAV, deshalb werden wir uns dieses Jahr schon damit befassen müssen. Und im Zusammenhang mit dem Stellenabbau wird es nicht gehen ohne Mobilisierung. Wir werden ausrücken müssen, um blockierte Verhandlungssituationen zu deblockieren. Insofern lautet der Aufruf, wach und aktiv zu bleiben. Wir sind der Meinung, dass ein gutes öffentliches Verkehrssystem nicht betrieben werden kann, indem man ihm immer mehr Menschen entzieht. Wir haben immer von einem humanisierten System gesprochen, das von Leuten für Leute produziert wird. Wir werden nicht akzeptieren, dass das ausgehöhlt wird. Dagegen haben wir uns gewehrt und werden es auch weiterhin tun.

2017 ist auch für dich selbst ein grosses Jahr: Es sind wieder vier Jahre deiner Amtszeit als SEV-Präsident um. Stellst du dich am Kongress zur Wiederwahl?

Am Ende einer Amtsperiode stellt man sich diese Frage immer. Ich möchte mich gerne noch einmal zur Verfügung stellen, weil ich weiss, dass sich der SEV in den nächsten vier Jahren mit vielen sehr wichtigen Dossiers befassen wird. Das ist für mich Ansporn und Motivation genug, den SEV weitere vier Jahre zu navigieren.

Dieses Jahr kandidierst du zum ersten Mal auch für das Präsidium der ETF-Bahnsektion. Wie schätzt du deine Chancen ein?

Wenn man sich zu einer Wahl stellt, dann sind die Chancen immer 50 zu 50. Entweder man wird gewählt oder nicht. Ich mache da auch keine grossen Prognosen, aber ich weiss, dass die Leute, die über mich entscheiden werden, wissen, wer ich bin und was ich geleistet habe. Schlussendlich liegt es in ihrem Ermessen, ob sie mich wählen wollen oder nicht.

Warum kandidierst du für dieses Amt?

Der soziale Dialog ist ein Instrument, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einen Tisch sitzen können, um Dinge auszuhandeln, die danach unterzeichnet und beidseitig eingehalten werden müssen. In den letzten Jahren hat der soziale Dialog in Europa kein einziges Resultat mehr hervorgebracht. Das spornt mich an, Präsident dieser Eisenbahnsektion zu werden, denn ich möchte den sozialen Dialog unbedingt reaktivieren. Das ist eines der Hauptziele, die ich mit dieser Kandidatur verbinde. Die ETF-Eisenbahnsektion besteht aus 83 Eisenbahnergewerkschaften in 37 EU-Ländern mit 850000 Mitgliedern. Das ist eine ziemlich grosse Sache. Aus Schweizer Sicht wäre der Reiz an diesem Präsidium, dass man im Rahmen der Marktöffnungs- und Liberalisierungsgelüste der Europäischen Union flankierende Massnahmen treffen und gewerkschaftlich dagegen vorgehen könnte.

SEV-Präsident Giorgio Tuti an der SGB-Demo vom 21. September 2013 in Bern.

Hast du überhaupt Zeit für all das?

Selbstverständlich muss man sich auch immer überlegen: Kann ich das überhaupt meistern? Doch vieles hängt von der Organisation ab. Im Hinblick auf die Kandidatur beim ETF bin ich zum Schluss gekommen, dass ich bereit wäre, gewisse Mandate, die ich jetzt in meiner Funktion als SEV-Präsident habe, niederzulegen und somit wieder Zeit freizuschaufeln. Aber dieses ETF-Präsidium ist ja nicht irgendetwas völlig Losgelöstes, sondern ich bin jetzt schon aktiv europäisch. Aus meiner Sicht hätte das SEV-Präsidium in Verbindung mit dem Präsidium der ETF-Eisenbahnsektion eine gewisse Logik; es ergänzt sich und wäre deshalb sicher auch eine Bereicherung für den SEV. Ich habe es mir gut überlegt und ich glaube, ich kann es stemmen.

Bleiben wir gleich bei Europa: Kürzlich hat das EU-Parlament das 4. Eisenbahnpaket definitiv durchgewinkt. Was heisst das für die Schweiz?

Solche europäischen Entscheide betreffen auch die Schweiz, obwohl sie nicht EU-Mitgliedsland ist. Denn die Schweiz ist über die verschiedenen bilateralen Abkommen und über die Abkommen im öffentlichen Verkehr, wie zum Beispiel das Landesverkehrsabkommen, stark mit der EU verbunden. Der öffentliche Schienenverkehr hört ja nicht an der Landesgrenze auf, sondern er rollt grenzüberschreitend weiter. Deshalb ist es tatsächlich so, dass die Schweiz verkehrspolitische Entscheidungen in Europa übernimmt – ob sie uns gefallen oder nicht. Das heisst, die Schweiz übernimmt auch den Megatrend zu Marktöffnung, Wettbewerb und Liberalisierung, für den das 4. Eisenbahnpaket den Weg geebnet hat.

Das lässt sich jetzt schon beobachten: Das BAV zieht ernsthaft in Erwägung, Fernverkehrskonzessionen an Busunternehmen wie Domo Reisen zu vergeben …

Ich frage mich wirklich, was das soll. Die Bevölkerung hat sich bisher fast immer für die Schiene ausgesprochen, zuletzt mit FABI. Warum das BAV jetzt plötzlich den Wettbewerb eröffnen und damit die Bahn konkurrenzieren will, versteht kein Mensch. Immer sprechen alle von Verlagerung auf die Schiene und von verstopften Strassen. Und jetzt überlegt man ernsthaft, solche Konzessionen zu erteilen, um die Strassen noch mehr zu verstopfen. Und wenn man erst einmal die Arbeitsbedingungen bei solchen Busunternehmen anschaut… Da wird mir als Gewerkschafter schlecht. So etwas darf auf keinen Fall gefördert werden.

Wie kann der SEV darauf reagieren?

So wie bisher: mit gewerkschaftlichen Stellungnahmen und Aktionen wie bei Flixbus, aber auch über Gesamtarbeitsverträge, an die sich alle halten müssen. Mit solchen kann man branchenübliche Bedingungen definieren.

Wenn das BAV den Wettbewerb unbedingt will, dann müssen wir dafür sorgen, dass am Ende nicht das Personal den Preis dafür bezahlt. Diese Kernaufgabe müssen wir wahrnehmen, auch wenn es – wie im Fall Crossrail – schwierig ist und wir die Gerichte mehrmals anrufen müssen.

Auch die Altersvorsorge ist ein wichtiges Thema für die Gewerkschaften, doch die AHVplus-Initiative wurde letztes Jahr abgelehnt. Ist die Altersvorsorge jetzt noch zu retten?

Wir wussten bereits, unabhängig von der Initiative, dass 2017 in den eidgenössischen Räten über die Reform der Altersvorsorge 2020 entschieden wird. Wir werden sehen, wie diese Entscheidung ausfällt und dann mit unseren Kolleginnen und Kollegen im SGB erwägen, ob wir dieses Resultat annehmen können oder ob wir das Referendum ergreifen. Wenn es am Ende bei dieser Rentenreform darum geht, länger zu arbeiten für weniger Rente, dann werden wir sie bekämpfen. Schon heute ist es für Leute über 50 schwierig, eine neue Stelle zu finden. Und jetzt soll man auch noch länger arbeiten – wie soll das gehen? Die Rentenfrage ist für uns Gewerkschaften zentral. Sie ist quasi das Pendant zu den GAV für die Aktiven, und dementsprechend werden wir uns ins Zeug legen.

Auch innerhalb des SEV ist einiges los in diesem Jahr. Die Mitgliederwerbung ist wieder einer der Hauptschwerpunkte. Worauf liegt der Fokus in diesem Bereich?

In die Mitgliederwerbung werden wir noch mehr investieren müssen. Die geburtsstarken Jahrgänge gehen langsam in Pension und wir müssen alles daransetzen, dass wir die jüngere Generation in den öV-Betrieben für den SEV gewinnen können. Das ist wichtig, um unsere überdurchschnittlich hohen Organisationsgrade halten zu können. Wir haben in den letzten Jahren investiert in ein Sektionscoaching, zur Unterstützung unserer Milizorganisation. Das trägt Früchte, vor allem bei der Mitgliederbindung. Doch jetzt müssen wir einen Schritt weitergehen und die Neumitgliederwerbung noch stärker intensivieren. Unser Ziel ist es, in den nächsten Jahren keine Mitglieder mehr zu verlieren und sogar wieder moderat zu wachsen.

Wir müssen also Junge gewinnen. Wird deshalb das Kommunikationskonzept modernisiert?

Ja, auch. Wenn wir junge Leute ansprechen wollen, dann müssen wir auch unseren Auftritt überdenken. Das heisst: Wie kommunizieren wir mit unseren jüngeren Mitgliedern und mit potenziellen Mitgliedern? 2019 feiert der SEV sein hundertjähriges Bestehen und ich würde mir wünschen, dass wir auch mit unserem kommunikativen Auftritt zeigen können: Diese Organisation gibt es schon seit hundert Jahren, aber sie kommt modern und aktuell daher, und nicht wie ein museales Stück.

Und worauf freust du dich im 2017?

Ich freue mich, weiterhin mit einer Truppe von sehr guten und motivierten Leuten arbeiten zu können und zu schauen, dass wir für unsere Mitglieder das Bestmögliche herausholen können. Die Motivation und Qualität der Arbeit unserer Leute stimmt mich zuversichtlich, dass wir gemeinsam viel erreichen werden. Eigentlich dankt man ja immer am Schluss des Jahres. Doch ich danke schon am Anfang dafür, dass wir alle so motiviert und einsatzbereit sind.

Fragen: Karin Taglang

Giorgio Tuti ist seit 2009 Präsident des SEV und stellt sich dieses Jahr am Kongress zur Wiederwahl für die nächsten vier Jahre. Als Präsident legt er viel Wert darauf, nahe bei den Leuten zu sein. Er ist häufig an Versammlungen anzutreffen oder zu Besuch bei den Sektionen. Schliesslich muss er wissen, was die Mitglieder wollen, und das erfährt er am liebsten direkt von ihnen.