Die Abstimmung war nicht das Ende der Diskussion über den Service public

«Wir wollen eine menschliche Bahn»

Am Schluss war das Resultat deutlicher als weit herum erwartet. Die Initiative «Pro Service public» wurde klar abgelehnt, besonders auch aus den Kreisen des betroffenen Personals. Dafür hat sich der SEV eingesetzt, und deshalb bleibt er nun auch am Thema dran, wie Giorgio Tuti im Interview bestätigt.

kontakt.sev: Giorgio Tuti, was war deine Reaktion, als du am Abstimmungssonntag die ersten Resultate hörtest?

Giorgio Tuti: Zuerst war ich erleichtert, dass unsere Kampagne erfolgreich war, später war ich dann erstaunt über den Nein-Anteil, der aufgrund der Umfragen nicht so hoch zu erwarten war.

Der SEV hat sich stark in der Abstimmungskampagne engagiert, unter anderem mit einem offenen Brief in mehreren Zeitungen, den du mitunterzeichnet hast. Das haben nicht alle Mitglieder verstanden, weil sie durchaus Sympathien für die Anliegen der Initianten hatten.

Diese Sympathien waren das ganz grosse Missverständnis bei dieser Abstimmung! Was die Initianten sagten und was in ihrem Initiativtext stand, war bei weitem nicht dasselbe. Deshalb mussten wir unsern Mitgliedern, aber auch den Kundinnen und Kunden des öffentlichen Verkehrs und der andern öffentlichen Dienste klar sagen: Man präsentiert euch hier eine Mogelpackung. Wäre es wirklich möglich gewesen, mit einem Ja die Schliessung von Poststellen und Bahnschaltern zu verhindern, dann hätten wir diese Initiative unterstützt – aber das tat sie eben nicht.

Mit andern Worten: Die Initiative ist abgelehnt, die Sorgen bleiben bestehen?

So kann man das wirklich sagen. Wir kritisieren ja seit langer Zeit die «Entmenschlichung» des öffentlichen Verkehrs, wobei hier die SBB klar im Zentrum der Kritik steht. Wir setzen uns dafür ein, dass auf Bahnhöfen und in den Zügen Menschen in Uniform anzutreffen sind, die für die Kundschaft zur Verfügung stehen – als Auskunftspersonen, die die Dienstleistungen der Bahn kennen und kompetent anbieten. Dafür hatte die SBB taube Ohren. Die Initiative hat stark auf diesen Missstand abgezielt, und hier setzen wir alles daran, dass der Druck aufrechterhalten bleibt. Wir wollen eine menschliche Bahn.

Das Personal des Service public erfolgreich vereint gegen die Initiative: Aktion des SGB vor dem Bundeshaus.

Und dann ist da noch Meyers «Lohn» …

Auch hier: Wir haben vom ersten Tag an keinen Zweifel daran gelassen, dass wir es nicht angebracht finden, dass Meyer mehrere hunderttausend Franken mehr erhält als sein Vorgänger. Wir haben uns auch für die 1:12-Initiative eingesetzt. Aber dennoch ist das ein Nebenschauplatz: Unsere Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass jeder und jede Einzelne, die bei der Bahn arbeiten, anständige Löhne erhalten. Das ist ein gewerkschaftliches Kernanliegen. Das ist uns bisher recht gut gelungen, aber wir sehen, dass der Liberalisierungsdruck weiter zunimmt. Jetzt ist es gerade die BLS, die in den Verhandlungen zum Gesamtarbeitsvertrag völlige Freiheit statt Regeln im Lohnsystem verlangt, und dieses Lied werden wir auch in den kommenden Jahren überall vorgesungen bekommen.

Gibt es denn Anzeichen dafür, dass der Wind da wieder einmal dreht?

Nicht wirklich! Wenn wir sehen, dass die Europäische Union daran ist, ihr viertes Eisenbahnpaket zu verabschieden, das unter anderem die völlige Liberalisierung des Personenfernverkehrs enthält, müssen wir uns klar sein, dass der Druck noch steigen wird.

Zurück in die Schweiz: Es sind politische Vorstösse schon eingereicht oder angekündigt, die sich auf die Diskussion um den Service public beziehen. Da zeigt sich, dass die Gegner der Initiative aus zwei ganz verschiedenen Lagern kamen: Den einen – so auch dem SEV – schien die Gefahr der Liberalisierung und Privatisierung bei einem Ja zu gross, andern ging die Initiative in dieser Richtung zu wenig weit. Was erwartest du von der Politik?

Seit den letzten Wahlen haben sich die Mehrheitsverhältnisse verschoben, sowohl im National- als auch im Bundesrat. Entsprechend sah es in den ersten Monaten danach aus, als würden die Liberalisierer und Sozialabbauer freie Fahrt erhalten. In der Zwischenzeit gibt es doch ein paar kleine Lichtblicke, dass der Ständerat seine korrigierende Haltung weiterführt; sowohl beim Ladenöffnungsgesetz als auch bei der Unternehmenssteuerreform war dies sichtbar.

Eine Spur Hoffnung?

Nein, eher die Vermutung auf eine Spur Vernunft. Wenn sogar die grossen bürgerlichen Zeitungen die Parlamentarier davor warnen, übers Ziel hinauszuschiessen, dann ist doch deutlich sichtbar, dass die Referendumsdemokratie in der Schweiz ihre Funktion weiterhin beibehält.

Wird das Parlament die Cheflöhne beschränken?

Wir schauen mal, was die Vorstösse bewirken – schön wäre es! Und wenn es auf politischem Weg nicht gelingt, bleibt es eine gewerkschaftliche Aufgabe.

In der Verkehrspolitik ist es eher etwas ruhig geworden. Haben wir nun stabile Verhältnisse?

Nein, auch in der Schweizer Verkehrspolitik ist die Liberalisierung als Gespenst schon sichtbar: Seit der berüchtigten Strategie 2030 des Bundesamts für Verkehr erkennen wir deutlich, dass dieser Weg gegangen wird. Demnächst wird der Bundesrat einen grundsätzlichen Bericht zum Regionalverkehr beschliessen, und da müssen wir mit der nächsten Welle hin zu Privatisierungen und Kostenkürzungen rechnen. Wir sind dafür gewappnet und werden uns zusammen mit unsern politischen Verbündeten weiterhin für den Service public einsetzen. Das dürfen wir getrost als Aufgabe aus der heissen Phase vor der Abstimmung mitnehmen!

Fragen: Peter Moor

«Gemeinwohl muss zuvorderst stehen»

Zusammen mit dem SEV hat der SGB mit den weiteren betroffenen Gewerkschaften die Service-public-Initiative bekämpft. Für die Dossierverantwortliche, Dore Heim, ist klar, dass die Diskussion jetzt erst recht beginnt.

kontakt.sev: Was bleibt von der Diskussion, die durch die Service-public-Initiative ausgelöst wurde?

Dore Heim: Erstmal sicher die Erkenntnis, dass wegen SBB, Post und Swisscom die Emotionen hochgehen. Es gibt offensichtlich schon jetzt einen Graben in unserer Bevölkerung: die einen fühlen sich abgehängt von den bundesnahen Unternehmen, die anderen sind zufrieden mit den Dienstleistungen. Und dann gibt es auch einen Teil in der Bevölkerung – zum Glück ist das eine Minderheit – dem nicht mehr klar ist, dass öffentliche Dienstleistungen eine Grundlage für das Funktionieren unserer Gesellschaft sind. Allerdings haben wir das schon vor einem Jahr bei der Abstimmung ums Radio- und Fernsehgesetz erstmals sehen können.

Was bedeutet das für die bevorstehenden Diskussionen?

Die Initiative hat ja phasenweise fast so was wie einen «Shitstorm» gegen die bundesnahen Unternehmen ausgelöst. Das müssen wir unbedingt ernstnehmen, denn es trifft unsere Mitglieder, die dort arbeiten. Es gibt im Parlament Vorstösse für eine komplette Privatisierung der Swisscom, und im Umfeld der jetzigen Abstimmung haben sich viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier in Stellung gebracht, die unsere Vorstellung von öffentlichen Dienstleistungen gar nicht teilen.

Was macht die gewerkschaftliche Haltung zum Service public überhaupt aus?

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Was sich deutlich gezeigt hat im Vorfeld dieser Abstimmung: Nicht nur von uns Gewerkschaften, sondern von einer breiten Bevölkerung werden starke staatsnahe Unternehmen gewünscht mit guten, preiswerten Dienstleistungen sowie einem vernünftigen Verhältnis zwischen den obersten und untersten Löhnen. Das Gemeinwohl muss an erster Stelle stehen und die Unternehmen müssen für gute Arbeitsbedingungen sorgen. Es braucht genügend Personal und Angestellte ohne Zeitdruck, denn nur das garantiert auch gute Dienstleistungen.

Wo findet der nächste Kampf um den Service public statt?

Es zeichnet sich ab, dass nun eine länger andauernde und sehr intensive Diskussion um den Service public der Medien folgt. Die No-Billag-Initiative ist dieses Jahr eingereicht worden, und nächste Woche erwarten wir den Bericht des Bundesrats zum Service public in den elektronischen Medien, also insbesondere der SRG.

Der Bundesrat wird aber kaum einen massiven Richtungswechsel ankündigen, zumal seine Medienkommission in einem Bericht den heutigen Zustand eher positiv beurteilt hat.

Der Bundesrat wird das bewährte Konzept der SRG sicher nicht über den Haufen schmeissen. Aber es gibt im Parlament recht starke Strömungen, die der Meinung sind, dass die SRG zu mächtig sei. Vor allem aber geht es hier um die digitale Zukunft. Diese steht bei den elektronischen Medien im Vordergrund, aber eben nicht nur dort: Die digitale Entwicklung wird alle Lebensbereiche treffen, die Gesundheitsversorgung, die Bildung. Auch SBB und Post richten sich danach aus, die Swisscom sowieso.

Das Volk hat bisher Liberalisierung und Privatisierung abgelehnt, wenn es dazu Stellung nehmen konnte. Wird sich dies ändern?

Das glaube ich nicht. Die Bevölkerung will nicht, dass über die Dienstleistungen private Gewinne finanziert werden, sondern sie will gute Angebote zu fairen Preisen – was auch gute Anstellungsbedingungen des Personals beinhaltet. Es ist unsere Aufgabe, das der Politik und den Unternehmen stets bewusst zu machen.