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Start zur nationalen Suizid-Präventionskampagne «Sprich über Suizidgedanken: Reden kann retten»

SEV und SBB gemeinsam gegen Suizide

Während die Zahl der Selbsttötungen in der Schweiz insgesamt eher zurückgeht, nehmen diese auf dem Schienennetz zu. Die SBB lanciert eine Kampagne, an der sich der SEV beteiligt.

Eine Lücke, die nicht sein soll: Illustration der Kampagne.

Lange Zeit war es tabu, über Suizide auf dem Schienennetz zu sprechen; zu gross waren die Bedenken wegen des «Werther-Effekts», benannt nach dem Werk von J. W. Goethe, das nach seinem Erscheinen die erste bekannte Suizid-Welle ausgelöst hatte.

«Papageno» statt «Werther»

Doch inzwischen hat sich die Fachmeinung geändert, wie der Arzt Matthias Jäger von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vor den Medien betonte. Inzwischen spricht man auch vom gegenteiligen Effekt, der ebenfalls nach einem literarischen Vorbild benannt wurde: der Papageno-Effekt (in der «Zauberflöte» wird Papageno durch gutes Zureden vom Suizid abgehalten).

Genau diesen Effekt will die Kampagne erzielen, die die SBB und der Kanton Zürich zusammen mit weiteren Partnern lanciert hat: Wer Suizid-Gedanken hat, soll diese aussprechen, denn es gibt Menschen, die zuhören und Hilfe leisten können. Und wer feststellt, dass jemand in seinem Umfeld ein Verhalten zeigt, das vermuten lässt, die Person könnte sich töten wollen, soll es auch ansprechen. «Reden kann retten» heisst die Kampagne, an der sich auch der SEV beteiligt.

Sprechen, nicht zuschauen

Kommunikationschefin Kathrin Amacker erläuterte, dass die SBB seit längerer Zeit einen stetig leicht steigenden Trend feststellt. Letztes Jahr kam es auf dem SBB-Netz zu rund 120 Fällen, also jeden dritten Tag einer. Seit 2012 ist die SBB in der Prävention aktiv; so hat sie unter anderem begonnen, weite Teile des Personals zu sensibiliseren. Wer sieht, dass sich jemand auf einem Perron oder in Gleisnähe auffällig benimmt, soll diese Person ansprechen.

Auch technische Massnahmen sind geplant, etwa Zäune in Bereichen, wo vermehrt Suizide vorkommen, so etwa bei psychiatrischen Kliniken. Amacker kündigte weiter an, die SBB wolle Lok-Kameras testen, die Bewegungen beim oder im Gleisbereich wahrnehmen. Um den Nachahme-Effekt zu vermindern, spricht die SBB auch nicht mehr von «Personenunfall» als Störungsgrund.

Die Kampagne ist vorerst auf die Online-Medien ausgerichtet: Seit dem letzten Wochenende sind auf gut besuchten News-Portalen wie 20 Minuten oder NZZ Banner geschaltet, die auf die Webseite www.reden-kann-retten.ch verweisen. Diese Seite unterscheidet zwei Bereiche: «Ich bin in der Krise» und «Ich bin besorgt um jemanden». Auf den ersten Blick finden sich auch die beiden Notfallnummern 143 für Erwachsene und 147 für Jugendliche.

Das Bundesamt für Gesundheit unterstützt und begleitet die Kampagne. Diese soll bis 2018 fortgesetzt werden. Die Zielgruppe ist klar jener grosse Teil von Personen, die aus einer vorübergehenden Notlage heraus Suizid-Gedanken haben. Es sei jedoch unbestritten, dass es auch Menschen gebe, die wohlüberlegt entscheiden, ihrem Leben ein Ende zu setzen, betonte der Zürcher Regierungsrat Thomas Heiniger.

SEV mit eigenen Anliegen

Im SEV war das Mitmachen an der Kampagne unbestritten. Im Vorstand äusserten sich die Zentralpräsidenten verschiedener Unterverbände zum Thema. Selbstverständlich Hans-Ruedi Schürch vom Lokpersonal, das zweifellos am direktesten betroffen ist: Bei keiner andern Art von Suizid gibt es eine Person, die sinngemäss als «Täter» gilt – eine Belastung, die schwer auf jedem Betroffenen liegt. Zwar wird das Lokpersonal heute meist gut betreut, aber jeder vermiedene Fall ist auch hier vermiedenes Leiden.

Anliegen kommen jedoch auch von andern Berufsgruppen: Das Zugpersonal, das ebenfalls vor Ort direkt involviert ist, fordert eine Gleichbehandlung mit dem Lokpersonal, um die psychischen Folgen bewältigen zu können.

Zu den direkt Betroffenen gehören aber auch Mitglieder der Unterverbände Bau und TS; die einen, die den Unfallort räumen müssen, die andern, die die betroffenen Fahrzeuge zur Reinigung erhalten. Für den SEV ist deshalb wichtig, dass diese Kampagne auch eine Wirkung nach innen hat, denn jeder Schienensuizid hinterlässt auch Opfer im Betrieb.

 

Ohne dich ist auch unser Leben leer!

Der SEV engagiert sich aktiv in der nationalen Kampagne gegen Suizid. Der Grund dafür ist einfach: Im öffentlichen Verkehr leiden fast alle Berufsgruppen darunter, wenn verzweifelte Menschen ihr Leben unter einem Zug (oder auch unter einem Tram, einem Bus) hergeben. Es ist bekannt, dass Lokführerinnen und Lokführer damit rechnen müssen, dass sie mindestens einmal in ihrer Karriere einen Menschen überfahren. Darauf werden sie in der Ausbildung vorbereitet. Aber seien wir ehrlich: Kann man sich darauf vorbereiten?

Im Gegensatz zum Lokpersonal, dessen Mit-Leiden in den letzten Jahren doch zum Thema geworden ist, spricht jedoch kaum jemand über alle die andern, die konfrontiert werden mit Bahnsuiziden: Der Zugbegleiter, die Zugbegleiterin ist die erste Person vor Ort. Es folgen viele andere Kolleginnen und Kollegen, die beigezogen werden, und zuletzt sind die Leute in den Unterhaltsstätten betroffen. Es sind scheussliche Erlebnisse, die sie uns erzählen, weil sie Fahrzeuge reinigen mussten, die einen Menschen überfahren haben.

Das Leid trifft am stärksten die Nächsten der Menschen, die sich das Leben nehmen. Das Leid trifft aber auch all jene, die an sich unbeteiligt einbezogen werden. Es sind traumatische Erlebnisse für alle Betroffenen – Erlebnisse, die vielen den Schlaf rauben, die krank machen.

Deshalb hat der SEV entschieden, sich an dieser Kampagne zu beteiligen, zu der die SBB den Anstoss gegeben hat; neben dem Verhindern von Leiden und Trauer hat sie auch ein (legitimes!) betriebliches Interesse daran, dass auf den Schienen weniger Suizide geschehen. Wir haben es in diesem Sinn einfacher: Uns geht es einzig und allein um die Menschen. Wenn Suizide mit dieser Kampagne verhindert werden können, nützt es allen. Rund 80 Prozent der Menschen, die vom Suizid abgehalten werden konnten, unternehmen keinen neuen Versuch und führen danach ihr Leben weiter, wie wir alle.

Reden kann retten: Das ist auch ein Auftrag – ein Auftrag, nicht wegzuschauen, wenn es jemandem schlecht geht. Jede und jeder von uns ist gefordert, sich um die Menschen in seiner Umgebung zu kümmern.

Verzweifelte, depressive Menschen glauben, ihren Liebsten einen Gefallen zu tun, wenn sie nicht mehr da sind. Reden kann retten. Sagen wir es lieber einmal zu viel als einmal zu wenig: «Ohne dich ist auch unser Leben leer!»

Peter Moor