Das Fahr- und Erhaltungspersonal lernt zurzeit in Kursen den Gotthard-Basistunnel kennen

«Im Moment gibt es ein Informationsvakuum»

Die Übergabe des Gotthard-Basistunnels von Alptransit an SBB Infrastruktur am 1. Juni rückt näher. Die Feiern dazu werden von Ueli Hurschler massgeblich mitorganisiert. Als ehemaliger Leiter der Intervention Erstfeld kennt er den längsten Bahntunnel der Welt gut und vermittelt zurzeit sein Wissen an Mitarbeitende der SBB und anderer Unternehmen. Auch wir haben dieses Wissen angezapft.

kontakt.sev: An wen richten sich deine Kurse zum Gotthard-Basistunnel (GBT)?

Ueli Hurschler: Hauptzielgruppen sind die Lok- und Zugführer/-innen, die künftig durch den Tunnel fahren werden, und das Erhaltungspersonal. Zu letzterem gehören z.B. auch Mitarbeitende der Reinigungsfirma ISS, die den Zuschlag für die Kanalreinigungen im Tunnel erhalten hat. Fahrpersonal gibt es ebenfalls nicht nur bei der SBB, sondern auch bei anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen.

Wie läuft der Kurs ab?

Normalerweise beginnt er am Morgen in der Locanda Dazio Grande in Rodi, einem Urner Zollhaus aus dem 16. Jahrhundert. Von dort ist es nur ein kurzer Weg zur Multifunktionsstelle Faido im Tunnel, die wir nach dem Ausrüsten und einer Sicherheitsschulung besichtigen. Die andere Tageshälfte umfasst Theorie zum normalen Tunnelbetrieb, zum Ereignisfall und zur Tunnelerhaltung. Ich gebe neu auch Kurse in Olten für das Cargo-Personal, das die operativen Dienstleistungen im rückwärtigen Bereich organisiert. Denn wegen Personalmangels wäre es schwierig gewesen, diese Kolleg/-innen vor Ort im Tunnel auszubilden. In diesen Kursen zeige ich den Film, den der Zugführer Daniel Vetterli in einem meiner Kurse im Tunnel gedreht hat.

Was sind die Kursinhalte?

Beim Fahrpersonal steht mehr das Störungsmanagement im Zentrum: Was ist bei einer Störung im Tunnel zu tun, bis die Intervention kommt? Die detaillierte Prozessschulung erfolgt aber erst in einem zweiten Kurs. Ich darf vor allem die Faszination des Tunnels vermitteln. Beim Erhaltungspersonal gehe ich auf die Abläufe bei einem Ereignis weniger genau ein, dafür mehr auf den Selbstschutz der einzelnen Mitarbeitenden während einer Erhaltungsschicht im Tunnel. Neben den Risiken der Arbeit unter Tag spreche ich auch den Gesundheitsschutz an, z.B. die gesunde Ernährung im Schichtbetrieb.

Wie funktioniert die Erhaltung des Tunnels?

Jede Woche wird in den drei Nächten zwischen Samstag und Dienstag eine Tunnelröhre während acht Stunden gesperrt und an bis zu 19 Stellen gearbeitet. Für jede dieser Arbeitsstellen muss mindestens ein Fahrzeug mit dem notwendigen Material vorbereitet und in den Bauzug eingereiht werden. Dies ist eine riesige Herausforderung, denn der Zug muss die Fahrzeuge richtig auf die Arbeitsstellen verteilen und am Schluss wieder einsammeln. Zwei Stunden der Schicht sind für diese Logistik geplant. Die erste Erhaltungsschicht ist in der Nacht vom 11./12. Juni vorgesehen. Gewisse Anlagen sind schon seit fünf Jahren in Betrieb und müssen bald ausgewechselt werden.

Inwiefern gefährdet oder belastet die Arbeit im Tunnel die Gesundheit?

Das Arbeiten ohne Tageslicht ist sicher gewöhnungsbedürftig, und wegen der warmen, trockenen Luft muss man sehr viel trinken. Manchenorts beträgt die Temperatur bis 35 Grad. Dort ist alle 50 Minuten eine 10-minütige Pause im klimatisierten Personalcontainer vorgeschrieben. Auf jeder Arbeitsstelle muss ein solcher Container auch für den Fall vorhanden sein, dass sich irgendwo Gas angesammelt hat, das unter Tag nicht einfach in die Umgebung entweichen kann. Andernfalls muss jeder einen Sauerstoff-Selbstretter dabei haben. Und in stehendem, warmem Wasser können sich Legionellenbakterien entwickeln und die Lunge infizieren, wenn sie mit feinen Tröpfchen eingeatmet werden. Hinzu kommt der Schichtbetrieb, der bedeutet, dass man in der Regel an drei Wochenenden hintereinander arbeitet. Damit müssen auch die Angehörigen umgehen können. Der Schichtdienst mit viel Nacht- und Wochenenddienst dürfte der Grund dafür sein, dass es nicht einfach ist, genügend Erhaltungspersonal zu rekrutieren. Die Löhne sind offenbar zu wenig attraktiv, um diesen Nachteil aufzuwiegen.

Ist fehlendes Tageslicht ein Gesundheitsproblem?

Ich denke nein, denn wer Ja sagt zu diesem Job, hat sich damit befasst und kann damit umgehen. Ein Mensch, der viel Sonne braucht, wird sich für eine solche Stelle gar nicht melden.

Was ist das Besondere an diesem Tunnel, ausser dass er mit 57 Kilometern der längste Bahntunnel ist?

Diese Länge ist etwas Besonderes. Der Tunnel ist aber auch besonders sicher, weil er aus zwei einspurigen Röhren besteht, die alle 325 Meter durch Querschläge verbunden sind. Bei einem Ereignis ist man in den Querschlägen nach dem Schliessen der grünen Tür in Sicherheit. Allfälliger Rauch wird durch die Lüftung abgeführt und aus den Querschlägen gedrückt. Redundante Anlagen sorgen dafür, dass für eine defekte Anlage eine andere einspringt.

Inwiefern ist der Neat-Geschwistertunnel im Lötschberg mit 34,6 km nicht nur kürzer, sondern auch sonst verschieden?

Der Lötschberg-Basistunnel ist nicht durchgehend doppelspurig, darum gibt es für ihn drei Rettungskonzepte: Dort, wo nur eine Röhre voll ausgebrochen ist, werden Passagiere durch den kleinen Parallelstollen in Kleinbussen evakuiert. Dort, wo die zweite Röhre ausgebrochen, aber nur geteert ist, können Busse fahren. Und dort, wo beide Röhren bahntechnisch ausgebaut sind, erfolgt die Evakuation auf der Schiene, wie im Gotthard-Basistunnel überall. Insofern ist das Störungsmanagement im Lötschberg herausfordernder. Verunglückt ein Güterzug, der eine grosse Brandlast darstellt, können wir im Gotthard mit dem Lösch- und Rettungszug die «gesunde» Röhre benutzen und sind so selber geschützt. Ist ein Reisezug betroffen, fahren wir mit dem LRZ in die «kranke» Röhre und benutzen die «gesunde» Röhre für einen Evakuationszug. Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Kollegen vom Störungsmanagement der BLS dafür danken, dass wir immer wieder bei ihnen nachfragen und von ihren Erfahrungen profitieren durften.

Ist man im Gotthard-Basistunnel wirklich sicher?

Ja. Manche Kursteilnehmenden äussern zu Beginn Ängste, gerade auch wegen der Länge: Ein Güterzug ist darin eine halbe Stunde unterwegs. Doch am Schluss des Tages fühlen sich alle sicherer, wenn sie das Sicherheitskonzept kennen und wissen, wie man sich bei einem Ereignis verhält. Die Ausbildung trägt zur Sicherheit bei, indem sie die Mitarbeitenden auf mögliche Ereignisse vorbereitet. Das wird von den Teilnehmenden sehr geschätzt. Da hat das Unternehmen eine gute Investition gemacht.

Wie ist sonst die Stimmung in den Kursen und in den beiden Erhaltungs- und Interventionszentren (EIZ)?

Grundsätzlich wird noch auf viele Informationen gewartet. Im Moment gibt es ein Informationsvakuum, auch beim Erhaltungspersonal. Dass nicht jede Organisationseinheit schon jedes Detail kennt, das die einzelnen Mitarbeitenden, die alles umsetzen müssen, gerne wissen möchten, ist logisch. Doch die Führungsleute sind gefordert, alle Details zu klären, bevor die Mitarbeitenden in den Alltag gehen müssen. Darum ist die Stimmung nicht so euphorisch, sondern abwartend. Bei der Intervention ist man froh, dass nach dem Einzug in Erstfeld im Oktober und in Biasca im Dezember langsam der Alltag einkehrt.

Wie ist die Stimmung im Kanton Uri?

Nachdem über Jahre schleichend Bahnarbeitsplätze abgebaut worden sind, besonders beim Lokpersonal, sind im EIZ nun wieder Arbeitsplätze entstanden, aber für andere Berufskategorien. Als Urner hoffe ich, dass die Tourismusverantwortlichen zusammen mit SBB Historic, Fahrten auf der Bergstrecke sowie mit Führungen im SBB-Depot und im EIZ usw. ein gutes, nachhaltiges Produkt auf die Beine stellen können.

Man spürt, dass du auf den Gotthard-Basistunnel stolz bist und deinen Beitrag zur Vorbereitung des Betriebs mit viel Herzblut leistest …

Ja, ich bin stolz auf den Tunnel. Jedes Mal, wenn ich hineingehe, bin ich fasziniert davon, was die Planer, Ingenieure, Mineure und Techniker da fertiggebracht haben, mit schweizerischer Präzision bis ins Detail. Ich leiste meinen Beitrag wirklich gerne. Mein Wissen weiterzugeben macht mir grosse Freude. Den Kursteilnehmenden sage ich zu Beginn jeweils: «Ich zeige euch ‹meinen› Tunnel mit dem Ziel, dass es am Abend unser Tunnel ist.»

Hat der Tunnel auch Fehler?

Ich masse mir im Moment mit meinem groben Wissen über die Details nicht an, über Fehler zu sprechen.

Freust du dich auf den 1. Juni, und wo wirst du an diesem Tag sein?

Ich freue mich riesig, aber mit dem nötigen Respekt, den die Verantwortung mit sich bringt. Am 1. Juni werde ich auf dem Urner Festplatz Rynächt sein.

Wie geht es für dich danach beruflich weiter?

Nach den Aufräumarbeiten werde ich ab 1. Juli bis im Dezember beim Projekt «Gottardino» mithelfen, also den öffentlichen Zugfahrten durch den Basistunnel mit einer Führung in der Multifunktionsstelle Sedrun. Und ich hoffe, mein Wissen weiterhin bei Fachausbildungen und Führungen teilen zu können bis zur Pensionierung.

Interview: Markus Fischer

BIO

Ueli Hurschler (60) wuchs in Küssnacht am Rigi auf. Mit 16 bis 18 Jahren lernte er bei der SBB Betriebsdisponent und wurde bald SEV-Mitglied. Er arbeitete lange in Altdorf und war der letzte Vorstand des Bahnhofs Flüelen vor dessen Automatisierung 2003. Als Leiter der Cargo-Produktionsplattform Zentralschweiz bekam er es erstmals mit dem Gotthard-Basistunnel (GBT) zu tun, da «sein» Cargoteam Erstfeld den Aushub von Amsteg nach Flüelen führte. Ab November 2005 baute er die Betriebswehr Erstfeld auf und ab 2009 als Rayonleiter Intervention Erstfeld die Betriebswehr Rotkreuz und das Ereignismanagementteam Arth-Goldau. Ab 2010 war er mit einem 50%-Pensum am Projekt Störungsmanagement Neat beteiligt, plante die Erhaltungs- und Interventionszentren Erstfeld und Biasca mit und erarbeitete mit den kantonalen Ereignisdiensten die Interventionsprozesse. Am 1. März 2015 gab er die Führung der Intervention Erstfeld ab und wurde Co-Teilprojektleiter Bahnanlagen und Betrieb der Tunneleröffnungsfeiern «Gottardo 2016» sowie Fachinstruktor für die Grundlagenkurse zum Tunnel. Er wohnt mit seiner Frau in Silenen, hat zwei erwachsene Töchter und fünf Enkelkinder, denen er gerne seine Freizeit widmet. Hobbys: Biken und Langlaufen. Lebensmotto: «Sieh das Positive und du wirst es erleben.»