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20 Jahre Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (GIG): Bleibt diese eine Illusion?

Die Welt soll sich verändern

Der Themenmorgen in Bellinzona unter dem Titel «Die Illusion des GIG: 20 Jahre, und man sieht nichts» war ein Erfolg. Organisiert hat ihn die Tessiner Gleichstellungskommission in Zusammenarbeit mit FAFTplus (Federazione delle associazioni femminili ticinesi). Das Fazit: Es gibt noch viel zu tun.

«Wir wollten die Welt verändern, aber wir stehen vor einem Berg von Hindernissen», sagte die Referentin Rosemarie Weibel, Anwältin und Mitglied der eidgenössischen Kommission für Frauenfragen. Dies wiederholte auch die Tessiner Grossrätin Claudia Crivelli Barella und bekräftigte, die Welt verändern zu wollen. Dem Applaus nach zu urteilen bestand dieser Wille auch unter den Teilnehmerinnen, und zwar trotz der Gewissheit, dass der Weg zur vollständigen Gleichstellung der Frauen – de jure und de facto – noch weit ist. Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes ist die Bilanz durchzogen.

Christine Masserey, Ökonomin im eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), präsentierte eine Reihe von Zahlen, welche die Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern bestätigen: Im Jahr 2012 betrug der durchschnittliche Lohnunterschied 21,3% im privaten Sektor und 16,5% im öffentlichen Sektor. Ein Teil dieser Differenzen ist mit anderen Gründen erklärbar, doch ein wesentlicher Teil ist auf unmittelbare Diskriminierung auf der alleinigen Grundlage des Geschlechts zurückzuführen. Masserey präsentierte Aktionen des EBG, die die Gleichstellung auf der Ebene der Unternehmen sowohl durch die Förderung der Gleichstellung mit finanziellen Anreizen, als auch mit Kontrollen – vor allem der öffentlichen Aufträge (diejenigen des Bundes beliefen sich auf rund fünf Milliarden pro Jahr) – fördern. «Sollten die Bedingungen zur Teilnahme nicht erfüllt werden, dann sind juristische Massnahmen und Sanktionen vorgesehen», betonte Masserey. Sie erwähnte ausserdem das System Logib (zur Kontrolle der Vergütungspraktiken in Unternehmungen mit mehr als 50 Angestellten), das systematische Lohndiskriminierung aufdeckt.

Rosemarie Weibel beleuchtete die Thematik aus juristischer Sicht. «Wenn es um das Gleichstellungsgesetz geht», präzisierte Weibel, «so kommt uns zuerst die Lohngleichstellung in den Sinn. Dies ist auch der Bereich, in dem die Mehrheit der Bundesgerichtsentscheide getroffen wurde. Dazu gäbe es viel zu erzählen und mir scheint, dass das Gleichstellungsgesetz in diesem Bereich an seine Grenzen stösst. Das Studium der Urteile und der Statistiken zeigt, dass es nötig ist, die Lohndifferenzen in solchen Fällen zur Sprache zu bringen und den Wert, den wir einer bestimmten Arbeit geben, zu diskutieren.» Die Anwältin wies ausserdem darauf hin, dass das Gesetz wichtig sei, doch genauso wichtig seien auch sein Wirkungsgrad und seine Leitideen. Und zwar besonders diejenigen, die einen Einfluss auf die Gesellschaft und insbesondere auf die Politik haben.

Im Gespräch am runden Tisch versicherte Staatsrat Christian Vitta, Vorsteher des Finanz- und Wirtschaftsdepartements des Kantons Tessin: «Die kantonale Verwaltung befindet sich gemäss einer internen Überprüfung der letzten Jahre in einer regulären Situation.» Das Tessin hat denn auch die Charta über die Lohngleichheit im öffentlichen Sektor unterschrieben.

Aus Sicht von Chiara Simoneschi Cortesi, Präsidentin der FAFTplus und ehemalige Präsidentin der eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, liegt der Akzent auf der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit. «Leider», sagt sie, «fehlt das Bewusstsein, dass das Gleichstellungsgesetz nicht gegen die Wirtschaft ist. Es ist vielmehr ein Werkzeug für die Neuverteilung der Aufgaben zwischen Männern und Frauen und für die Förderung der Vereinbarkeit.»

Für Marialuisa Parodi, Ökonomin und Co-Präsidentin der Bu- siness and Professional Women Ticino, ist ebenfalls klar, dass die Gleichstellung gut für die Wirtschaft ist: «Studien zeigen, dass eine höhere weibliche Beteiligung das weltweite Bruttoinlandprodukt in 10 Jahren um 11% steigern würde, respektive um 26%, wenn die Differenz zwischen Männern und Frauen vollständig behoben würde.»

Dies bestätigte auch die Unternehmerin Alessandra Alberti, Direktorin von Chocolat Stella. Sie hat mit ihrer Unternehmung, der Gewinnerin des Prix Egalité, bewiesen, wie wichtig und effizient eine gemischte Belegschaft ist. Alberti verwies auf die ca. 50% Frauen unter ihren insgesamt 54 Angestellten.

Françoise Gehring/kt