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Analyse der Lohn-, Einkommens- und Vermögensverteilung in der Schweiz

«Es wächst hienieden Brot genug für alle Erdenkinder»

Die Ungleichheit in der Schweiz nimmt zu. Die Spitzenverdiener kriegen immer mehr, die vermögens-starken Haushalte werden immer reicher. Gelder für die Krankenkassenverbilligungen und den gemeinnützigen Wohnungsbau dagegen wurden nicht angepasst oder gar gesenkt. Das sind die alarmierenden Erkenntnisse aus einer wissenschaftlichen Studie des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB.

Die Kluft zwischen den Superreichen und dem grossen Rest wird immer grösser. Das birgt sozialen Zündstoff.

Es ist eine alte Erkenntnis: Es wäre genug Reichtum für alle da, doch der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Das war schon so, als Heinrich Heine 1844 seinen Text «Deutschland. Ein Wintermärchen» schrieb, aus dem der Titel zitiert ist. Bei Heine heisst es weiter: «Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleissige Hände erwarben.» Der SGB hat in aufwendiger Arbeit die heutigen Verhältnisse in der Schweiz untersucht und festgestellt, dass die Ungleichheit in den letzten zwanzig Jahren zugenommen hat. Schon vorher hatte die Schweiz im internationalen Vergleich einen unrühmlichen Spitzenplatz eingenommen, dies hat sich noch akzentuiert.

Die Schere hat sich geöffnet

Es gibt verschiedene Ursachen der unguten Entwicklung: Eine davon ist die sich öffnende Lohnschere. Das heisst, dass zwar alle Löhne stiegen, doch die hohen Löhne wurden überproportional erhöht. Die Saläre des bestbezahlten Prozentes stiegen in den letzten 20 Jahren um rund 40 Prozent (real), während die tiefen nur um 8 und die mittleren um 12 Prozent zulegten. Hauptursache dieser Entwicklung ist die Individualisierung der Lohnpolitik: statt die Löhne um einen festen Frankenbetrag oder um einen bestimmten Prozentsatz zu erhöhen, werden die tiefen Löhne nur wenig angehoben, im obersten Bereich dagegen werden Boni ausbezahlt. Von 1996 bis 2012 stieg der Anteil der Boni an der Gesamtlohnsumme von 1,5 auf 6%. Die Zahl der Spitzenverdiener, die mehr als 1 Million im Jahr verdienen, hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre verfünffacht. Die tiefen Löhne stiegen zwar auch, nicht zuletzt dank der Mindestlohnkampagne der Gewerkschaften. Auch die Zahl der Beschäftigten, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen, hat sich in der Schweiz erhöht. Doch die obersten Kader unterstehen oft nicht dem GAV, sondern werden nach OR angestellt. Und obschon die Bundesverfassung Lohngleichheit für Männer und Frauen verlangt, ist die Wirklichkeit vor allem im obersten Bereich davon noch weit entfernt, der Rückstand der Frauen beträgt immer noch 18,9%.

Ungleichheit auch bei den Renten

Schlecht sieht es auch bei den Rentnerinnen und Rentnern aus: Zwar wirkt die AHV ausgleichend, doch die Renten der 2. und 3. Säule sind bei den Reichen sehr viel höher als bei den unteren Einkommensschichten. Dazu kommt noch, dass die Reichen im Alter zusätzlich Kapitaleinkommen haben (Dividenden usw.) und oft weiterhin erwerbstätig sind, etwa in Form von Verwaltungsratsmandaten und ähnlichem.

Insgesamt ist damit das Gesamteinkommen von Löhnen, Vermögensertrag, Renten usw. heute ungleicher verteilt als vor 20 Jahren. Das durchschnittliche Einkommen von 90% der Steuerpflichtigen hat in den 2000er-Jahren stagniert, nur die reichsten 10% haben zulegen können.

Steuern machen die Situation schlimmer

Die Steuern könnten in dieser Situation einen gewissen Ausgleich schaffen, doch wirken sie sogar noch ungleichheitsverstärkend: von den Senkungen bei den Einkommenssteuern profitieren die hohen Einkommen naturgemäss am stärksten. Und die bürgerlichen und rechten Parteien verlangen, nachdem sie solche Steuergeschenke durchgeboxt haben, regelmässig Sparmassnahmen der öffentlichen Hand. Die stark gestiegenen Krankenkassenprämien wurden deshalb weniger verbilligt, sodass die einkommensschwächsten Schichten, denen diese Verbilligungen zugute kommen, doppelt unter den politischen Beschlüssen leiden. Man muss dies in aller Deutlichkeit sagen: Die Steuersenkungspolitik führte dazu, dass Leute mit einem geringen Einkommen heute mehr Steuern und Abgaben bezahlen als früher!

Nicht nur die Krankenkassenprämien sind gestiegen, sondern auch die Mieten – von 2002 bis 2012 wurden sie um durchschnittlich einen Sechstel teurer. Auch dies belastet die Haushalte mit tiefen Vermögen stark: Während die Hypothekarzinsen für Wohneigentumsbesitzende sinken, steigen die Mietzinse für jene, die keine Wohnung ihr eigen nennen.

Extreme Vermögensverhältnisse

Die Situation bei den Vermögen muss man ohne zu übertreiben als extrem bezeichnen: Das reichste Prozent aller Steuerpflichtigen besitzt 40 Prozent des gesamten steuerbaren Reinvermögens, nämlich 590 Milliarden Franken (Zahlen von 2011, die neueren Zahlen sind noch nicht verfügbar). Die 90% am unteren Ende der Vermögensskala – die grosse Masse der Bevölkerung also – besitzen dagegen zusammengenommen nur 384 Milliarden Franken. Die Vermögen in der Schweiz sind damit extrem ungleich verteilt, der Wert des sogenannten Gini-Koeffizienten, der die Ungleichheit ausdrückt, gehört zu den weltweit höchsten (Separatartikel auf den Seiten 12 und 13 unten).

Ungleiche Löhne

Die oben nur zusammengefasst wiedergegebenen Ergebnisse der Studie des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes verdienen einen genaueren Blick: Seit 1996 sind die Löhne des bestverdienenden Prozents nach Abzug der Teuerung um rund 40 Prozent oder 6500 Franken monatlich gestiegen. Die obersten 10 Prozent haben um 25 Prozent oder 2300 Franken zugelegt, die mittleren um 12 Prozent oder 650 Franken und die untersten 10 Prozent um 8 Prozent oder 290 Franken pro Monat. Da kann man füglich die Bibel zitieren: «Wer da hat, dem wird gegeben.» (Matth 25,29) Heute erhalten in der Schweiz mehr als 2300 Personen ein Salär von einer Million Franken und mehr pro Jahr (ob sie es verdienen, ist eine andere Frage), 13 Mal mehr als in den 1980er-Jahren. Mehr als 12 000 Personen haben ein Gehalt über einer halben Million (allerdings niemand bei der öffentlichen Hand).

Weniger Ungleichheit mit GAV

Die Gewerkschaften stellen sich solchen Exzessen entgegen: «Je stärker die gewerkschaftliche Organisation einer Branche ist, desto mehr werden die unteren und mittleren Löhne angehoben und die obersten leicht gedrückt», heisst es im Verteilungsbericht. Doch da Top-Kader oft nach Obligationenrecht und deshalb ausserhalb des Geltungsbereichs eines GAV angestellt werden, haben die Gewerkschaften hier keine Möglichkeiten zur Korrektur. Es bleibt nur, auf die überrissenen Löhne hinzuweisen.

Frauen mit Aufholbedarf

Trotz dem Verfassungsgrundsatz, dass Frauen und Männer für gleichwertige Arbeit den gleichen Lohn erhalten müssen, lagen die Frauenlöhne 2012 im Mittel um 18,9 % unter jenen der Männer. 38 % dieser Differenz sind nicht durch Eigenschaften wie Qualifikation, berufliche Stellung usw. erklärbar. Jährlich verdienen die Frauen damit 7,7 Milliarden Franken zu wenig. Daniel Lampart verlangte aufgrund dieser Ergebnisse denn auch substanzielle Lohnerhöhungen für tiefe und mittlere Einkommen, generelle statt individuelle Lohnerhöhungen und keine Bonussysteme, mehr Gesamtarbeitsverträge mit guten Mindestlöhnen, Bekämpfung der Lohndiskriminierung von Frauen und keine Lohnexzesse in öffentlichen Betrieben.

Die Lage der Rentner/innen

Ein Blick sei noch auf die spezielle Situation bei Paarhaushalten von über 65-Jährigen, also Rentnerinnen und Rentnern, geworfen: die AHV ist für alle ähnlich hoch, weil die Renten plafoniert sind und bei tiefen Einkommen zusätzlich Ergänzungsleistungen ausgerichtet werden. Andere Renten dagegen sind sehr ungleich, da die Pensionskassenrenten stark vom Erwerbseinkommen abhängig sind und sich nur Gutverdienende eine dritte Säule leisten können. Das führt da-zu, dass die einkommensschwächsten Rentner/innen auf ihre Ersparnisse zurückgreifen müssen, um über die Runden zu kommen, während die Reichen noch weitersparen können.

Während einkommensschwache Rentner/innen ihre Ersparnisse aufbrauchen müssen (blaue Felder links), können die Reichen im Alter weiterhin sparen (grüne Flächen rechts).

Die Rolle des Vermögenseinkommens

Zu unseren Einkünften gehören nicht nur Löhne und Renten, sondern auch der Vermögensertrag, also Zinsen auf Spareinlagen, Dividenden oder Einkommen aus der Vermietung von Immobilien. Weil die Reichen nicht nur mehr verdienen, sondern auch die grösseren Vermögen haben, fällt bei ihnen auch der Vermögensertrag höher aus. Im Alter sind die Unterschiede besonders ausgeprägt, weil ältere Leute im allgemeinen mehr Vermögen besitzen als Personen im Erwerbsalter. Den vielzitierten «reichen Alten» geht es also gut – aber nur, wenn sie wirklich reich sind. Es gibt aber auch die ärmeren Rentnerinnen, die den Franken zweimal umdrehen müssen.

Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass die Zinsen auf dem traditionellen «Bankbüech-
li» in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen sind, während die Unternehmen immer höhere Gewinne ausschütten. Die Reichen haben aber einen grösseren Anteil ihres Vermögens in Form von Unternehmensbeteiligungen angelegt – Millionäre haben 45% in Aktien angelegt. Ein Kleinsparer, der im falschen Moment auf Aktien umsteigt, läuft aber Gefahr, sein sauer Erspartes auch noch zu verlieren.

Weniger Steuern, mehr Abgaben

Wie gezeigt, haben die Einkommen der Reichsten in den letzten Jahren überproportional zugenommen. Wie sieht es aber auf der Ausgabenseite aus? Was uns zum Leben bleibt ist die Differenz zwischen allen Einnahmen und den obligatorischen Ausgaben wie Steuern, Krankenkassenprämien und den längerfristig gebundenen Ausgaben wie der Miete.

Diese Ausgaben lassen sich kaum oder nur längerfristig beeinflussen. Die Sozialversicherungsbeiträge für AHV, IV, EO, ALV, NBU und PK betragen einen gewissen Prozentsatz, steigen oder fallen also mehr oder minder proportional zum Einkommen. Die Einkommenssteuern sind progressiv, wer also viel verdient, zahlt einen höheren Prozentsatz Steuern. Die Krankenkassenprämien sind Kopfprämien, für Einkommensschwache gibt es teilweise Prämienverbilligungen, also Zuschüsse. Familien- und Kinderzulagen decken teilweise die zusätzlichen Auslagen für Kinder. Schliesslich werden die Haushalte durch indirekte Steuern und Gebühren belastet, etwa durch die Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, Tabak-, Bier- und Alkoholsteuer, die mit dem Konsum steigen oder fallen. Progressive und degressive Abgaben heben sich bei Alleinstehenden praktisch auf, alle bezahlen den praktisch gleich hohen Anteil von zwischen 35 und 40% für Steuern und Abgaben, ob sie nun reich oder arm sind. Bei den Paarhaushalten sieht es nur wenig besser aus.

Wenn man nun die Veränderung der Belastungen ansieht, fällt eine fatale Entwicklung zwischen 2002 und 2012 auf: durch die Erhöhung insbesondere der Krankenkassenprämien und die Senkung der Steuern ergibt sich eine Gesamtmehrbelastung der untersten 10 Prozent bei den Alleinstehenden um 130 Franken pro Monat und der mittleren Löhne um 140 Franken. Die obersten 10 Prozent tragen eine Mehrbelastung von 80 Franken, das oberste Prozent profitiert dagegen von einer monatlichen Entlastung von 50 Franken! Bei Ehepaaren mit zwei Kindern sieht es noch schlimmer aus: die untersten 10 % bezahlen 170 Franken mehr, das oberste 150 Franken weniger. Das ist Neoliberalismus, bürgerliche Politik in Reinkultur!

Wenn man noch die gestiegenen Mieten berücksichtigt, ist die Mehrbelastung der tiefsten Einkommen höher als die Lohnsteigerung: sie haben heute weniger Geld zur Verfügung!

Tiefe Steuern, hohe Erbschaften

Bei den Vermögen sieht es ähnlich aus: die Verteilung ist, wie eingangs gesagt, äusserst ungleich, und die Vermögenssteuer ist für die Reichsten gesenkt worden (siehe untenstehende Grafik). Dazu kommen gesunkene Erbschaftssteuern.

Der SGB-Verteilungsbericht liegt vor. Politik und Wählende müssen ihre Schlüsse daraus ziehen!

Von Steuersenkungen profitieren vor allem die Reichen. Die Ärmeren schneiden sich mit dieser Forderung ins eigene Fleisch.

pan.